Der Ton macht die Musik
Schüler der "Arbeitsgemeinschaft Neue Musik" am Leininger Gymnasium in Grünstadt experimentieren seit 35 Jahren mit Tönen. Der Umgang mit Neuer Musik gehört zum Schulalltag. Unterrichtsausfall im Fach Musik: Fehlanzeige.
Das ist an anderen Schulen in der pfälzischen Provinz ganz anders. Davon können Lehrer und Schüler ein Lied singen.
Die Neutöner vom Lande
Von Tamara Tischendorf
In der Aula des Leininger Gymnasiums im pfälzischen Grünstadt haben sich rund 50 Schüler verteilt. Alle stehen wie angewurzelt im Raum und stoßen hochkonzentriert Laute aus. Nur ein Mädchen wandert zwischen den lebendigen Klangsäulen hindurch. Sobald es jemanden sachte am Arm berührt, wandelt sich der Konsonantenschwall plötzlich zur Vokaldusche. Mit einer "Klangmetamorphose" macht sich die Arbeitsgemeinschaft für Neue Musik warm für ein Stück von Mathias Spahlinger, das an diesem Tag geprobt werden soll. Seine "Vorschläge" hat er vor Jahren eigens für eine Vorgängergeneration des Laien-Ensembles geschrieben.
Egeler-Wittmann: "Der Komponist, Mathias Spahlinger, (...) hat dem ganzen Zyklus den Titel gegeben: "vorschläge: zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten." Noch mal: "vorschläge: zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten." Das heißt: Er macht mit den Stücken euch zu Komponisten, die Konzepte sind schon relativ frei. Und er schreibt an einer Stelle sogar, dass er sich von euch wünscht, dass die Konzepte weiter entwickelt und auch verändert werden. "
Silke Egeler-Wittmann ist Musiklehrerin am Leininger Gymnasium. Als Schülerin war sie selbst schon Mitglied des traditionsreichen Ensembles. Nach ihrem Studium in Berlin ist sie in die Pfalz zurückgekehrt und hat – neben dem regulären Unterricht – die Leitung der Arbeitsgemeinschaft übernommen. Das aktuelle Stück verüberflüssigt allerdings auch diese Funktion: Die Schüler diskutieren und proben die meiste Zeit in Eigenregie. Nach dem Einsingen haben sie sich in drei Gruppen aufgeteilt: Instrumentalisten, Vokalgruppe und MP3-Gruppe. Jede hat sich einen Satz aus Mathias Spahlingers achtundzwanzig Vorschlägen vorgenommen. AG-Leiterin Egeler-Wittmann pendelt zwischen den Gruppen, hört zu und gibt Anregungen.
Die Mitglieder der MP3-Gruppe sind in der Aula zurückgeblieben und sitzen im Halbkreis zusammen. Alle haben Kopfhörer auf, vor sich auf dem Tisch einen MP3-Player oder einen Walkman liegen und würfeln. Ab und zu springt jemand auf, bewegt sich im Takt oder singt laut mit, was ihm gerade in den Ohren klingt. Alisha Rebmann aus der neunten Klasse erklärt das Konzept, das sich ihre Gruppe erarbeitet hat:
Rebmann: "Wir hatten eigentlich Anweisungen, (...) die verschiedenen Zahlen einfach zu würfeln. Die verschiedenen Zahlen eins bis drei, da hätten wir unsere Musik anstellen sollen und auch laut mitsingen. Die restlichen Zahlen, vier bis sechs, da hätten wir eigentlich leise sein sollen. (...) Das war uns dann doch ein bisschen zu wenig. Wir haben uns überlegt, dass wir bei eins den Text einfach nur mitsummen, bei sechs eben aufstehen und die ganze Mimik und so machen als wenn wir total abrocken, also, nur so – ohne Musik. So haben wir uns da halt einfach überlegt. "
Die radikal-demokratische Grundidee des Stücks verweist auf die Anfänge der Arbeitsgemeinschaft für Neue Musik. Gegründet wurde sie von Manfred Peters, einem Schulmusiker, der sich zuvor als Flötist einen Namen gemacht hatte. Das war 1970, als die Ideen der 68er Revolte langsam ihren Weg in die pfälzische Provinz gefunden hatten. Von avantgardistischer Musik konnte man das allerdings nicht behaupten. Und so übernahm Manfred Peters zunächst einen herkömmlichen Schulchor:
Peters: "Eines Tages fielen mir Noten in die Hände eines englischen Verlages mit Neuer Musik für Schüler. Und ich hatte damals die Absicht, ein Konzert zu machen mit Neuer Musik. Dieses Stück verursachte einen ziemlichen Aufruhr. Hauptgrund war: Programmbestandteil war ein Stück für vier Trommeln, zwölf Glockenstäbe und zwölf Milchflaschen. Milchflaschen! Vielleicht wär’s bei Bierflaschen ein bisschen besser gelaufen, aber die Milchflaschen störten enorm. "Man kann doch auf Milchflaschen" – auch wenn sie abgestimmt waren – "keine Musik machen! Das geht einfach nicht." Deshalb war der Aufruhr erheblich, auf Elternseite, auf Mitschülerseite. Und ich dachte: Was ist da los? Ich mach‘ mal weiter. "
So lange, bis aus dem Schulchor schließlich ein auf zeitgenössische Musik spezialisiertes Ensemble geworden war – das erste dieser Art in Deutschland. Rundfunk und Fernsehen wurden aufmerksam. Bald begnügte sich die Laiengruppe nicht mehr damit, unerhörte Stücke auf die Bühne zu bringen, sondern gab selbst welche in Auftrag. Namhafte Komponisten wie Hans-Joachim Hespos, Antoine Beuger, Dieter Schnebel oder Jakob Ullmann schrieben für die AG und reisten an die pfälzische Weinstraße, um die Werke mit den Schülern zusammen einzustudieren. Aktuelle Tendenzen in der Neuen Musik spielten dem Laien-Ensemble in die Hände: Minimalismus, Pattern-Kompositionen und unkonventionelle Notationsformen konnten auch Kinder ohne langjährige musikalische Ausbildung in Künstler verwandeln:
Peters: "Was für mich das Wichtigste war, mit jungen Leuten, mit Schülern, im emphatischen Sinne Kunst zu machen. Also, nicht zum Beispiel so etwas, was sehr häufig passiert, leider Gottes heute auch noch: Da studieren Kollegen mit Schulensembles, Chor, etc. Brahms Requiem ein. Und das ist natürlich alles viel zu schwierig und es bleibt sehr unvollständig (...) Ich bin nicht dagegen, dass Leute versuchen zu musizieren. Aber das vorzuführen, wo dann die Tante, die Oma dann: Ach guck mal, wie niedlich, die machen das alles ja schon ganz nett und so ... aber es bleibt halt nur ganz nett und alles sehr fehlerhaft... "
Nett wollten sie nicht sein, die Neutöner vom Lande, eher professionell.
Heute kann die AG auf viele CD-Produktionen zurückblicken, die den Vergleich mit Aufnahmen von Berufsmusikern nicht scheuen müssen.
Auf wichtigen Leistungsschauen Neuer Musik von Berlin bis München war die AG oft das einzige geladene Laien-Ensemble. Bei Konzerten zu Hause allerdings gab es immer wieder heftige Auseinandersetzungen.
Noch heute stockt dem heimischem Publikum manchmal der Atem – ganz wie beim ersten Konzert. Auch schulintern umgibt die AG nach wie vor eine geheimnisvolle Aura, berichtet Teresa Ellinger aus der siebten Klasse. Ihre Mitschüler jedenfalls waren skeptisch, als sie vor kurzem beschloss, ausgerechnet der AG für Neue Musik beizutreten.
Ellinger: "Anfangs hieß es: Du willst da doch nicht echt reingehen, da stülpen die sich Eimer über den Kopf und rennen wie die Bekloppten durch den Raum. Das fand ich eigentlich auch nicht. Ich fand das auch nicht negativ. Ich fand das eigentlich lustig, auch anregend. "
Während der Spahlinger-Probe wirkt Teresa Ellinger mit ihrer Querflöte bei der Instrumentalgruppe mit. Wie etwa ein Viertel der Schüler eines jeden Jahrgangs am Leininger Gymnasium hat sie Musik als Schwerpunktfach gewählt. Als Mitglied der Musikklasse erhält Teresa Ellinger bis zur zehnten Jahrgangsstufe immerhin eine Stunde mehr Musikunterricht als landesweit üblich. Außerdem müssen Schwerpunktschüler bei einer der angebotenen AGs mitmachen: Streichorchester, Blasorchester, Schulchor, oder eben AG für Neue Musik. Seit das Gymnasium vor elf Jahren Schwerpunktschule für Musik geworden ist, kultiviert sie ihr musikalisches Profil ganz besonders, meint Direktorin Barbara Knopp.
Knopp: "Bildung ist viel mehr als das rein unmittelbar Umsetzbare. (...) Man redet so viel von sozialen Kompetenzen. Wenn man sich die Musikklassen ansieht, die ja gemeinsam Klassenkonzerte machen: Die lernen viel mehr aufeinander hören, sich nicht in den Vordergrund spielen. Wenn alle zusammenwirken, dass dann erst was besonders Gutes rauskommt. Dass mal der eine einen größeren Anteil hat und mal der andere, also, es ist wirklich deutlich (...) merkbar, wie hier Musik sich auswirkt auf ‘ne positive Klassengemeinschaft. "
Dass ein solcher Schwerpunkt vor zehn Jahren überhaupt eingerichtet werden konnte, ist auch dem Renommee der Arbeitsgemeinschaft für Neue Musik zu verdanken – dem Aushängeschild der musikalischen Bildungsarbeit. Die AG-Mitglieder lernen mehr, als sich auf ungewohnte Klänge einzulassen. Anders als im Unterricht arbeiten hier Jugendliche aller Altersgruppen zusammen. Selbst, wenn die Kleinsten ein Solo vorführen, werden sie von den Älteren ernst genommen. Leiterin Silke Egeler-Wittmann achtet darauf, dass jeder in der Gruppe seinen Platz findet:
Egeler-Wittmann: "Es gibt Schüler, die sind manchmal am Anfang noch sehr still und zurückhaltend, aber man merkt, die entwickeln sich. Und im Laufe der Zeit passiert dann ganz viel und das ist für mich auch ganz schön, zu beobachten, wie sich die Persönlichkeiten da entwickeln. Und auch wie sehr extrovertierte Persönlichkeiten sich in einer Weise in eine Bahn lenken lassen, dass es auch wiederum erträglich ist. (...) Da gibt’s jetzt auch die Möglichkeit, in dieser speziellen Kunstform, sich einzubringen auf seine eigenwillige Art und Weise, die in einer konventionelleren Gruppe vielleicht nicht möglich ist. "
Der Arbeitsschwerpunkt der AG hat sich unter Silke Egeler-Wittmanns Leitung in den letzten zehn Jahren etwas verlagert. Zwar arbeitet sie immer noch eng mit Komponisten zusammen, aber die Bedingungen sind schwieriger geworden. Die Förderung durch honorierte Funkkonzerte ist weggefallen, weil die Sender kein Geld mehr haben. Um neue Stücke in Auftrag geben, muss Silke Egeler-Wittmann jetzt Sponsoren finden. Manches Experiment konnte wegen Geldmangels nicht realisiert werden. Und: Die zeitgenössischen Komponisten von heute schreiben anders:
Egeler-Wittmann: "Die ganze Neue-Musik-Szene hat sich verändert. Sie ist vor allem im Moment dabei, sich sehr zu öffnen nach allen Seiten. Diese sehr strenge Trennung zwischen U- und E-Musik kann man heute so gar nicht mehr sehen, auch die Kunstsparten mischen sich ganz massiv. Letzeres ist schon was, was auch in den letzten Jahren auch mein Schwerpunkt geworden ist, der Bereich des Musiktheaters, der Musikperformance, und dann der Aspekte Tanz – Tanz und Musik oder Tanzperformance mit experimenteller Vokalmusik gemischt, das ist auch so eine neue Mixtur, die wir da so betreiben. "
Ihre Musik- und Tanz-Performances haben der AG unter der Leitung von Silke Egeler-Wittman vor zwei Jahren sogar eine Einladung zum Musikfest des Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue eingebracht.
Kurt Schwitters Lautgedichte gehören zu den Kontinuitäten des Ensemble-Repertoires. Jede Schülergeneration erschließt sie sich neu, genauso wie die Neue Musik als Ganze. Im Schulalltag bedeutet sie mehr als ein musikalisches Experiment, meint Manfred Peters, der Gründer der Arbeitsgemeinschaft für Neue Musik:
Peters: "Wenn ich Musik höre, dann erfahre ich, was in dieser Zeit los ist. Und deswegen müssten wir eigentlich Neue Musik machen, wenn die Musik – ich pflege das immer so etwas schnoddrig zu sagen – nicht nur ein Süßwarenladen sein soll. (...) Musik ist nach abendländischem Verständnis (...) etwas viel Existenzielleres als nur ‘ne schöne Sache. "
Nämlich: Ein Hörbild unserer Tage, ein soziales Laboratorium, das A und O bei der Selbstverständigung in orientierungslosen Zeiten. Am Leininger Gymnasium in Grünstadt wird diese Erkenntnis tatsächlich gelebt.
Musikunterricht als Manövriermasse - die ganz normale Misere an deutschen Schulen
Von Anke Petermann
"Wegen Lehrermangels nicht erteilt" – dass solch ein Stempel im Zeugnis die Musiknote ersetzt, gehört seit Jahrzehnten zum deutschen Schulalltag. Das Musische gilt seit jeher als verschiebbare Masse an allgemein bildenden Schulen. Seit Pisa sind die Schulmusiker noch mehr auf Abwehrschlachten eingestellt: Denn die Aufholjagd in Mathematik, Sprache und Naturwissenschaften geht an manchen Schulen auf Kosten von Musik und Kunst. Dabei hilft musische Erziehung, konzentriert zu lernen und analytischen Verstand auszubilden. Das hat jedenfalls die moderne Hirnforschung herausgefunden. Doch diese Erkenntnisse scheinen noch nicht bis in die Bildungspolitik vorgedrungen zu sein.
Wenn die Fünftklässler am Hilda-Gymnasium in der Koblenzer Innenstadt wählen dürfen, entscheiden sie sich fürs Singen, etwa die Hälfte der 30-köpfigen Klasse macht auch im Unterstufenchor mit. "If you happy and you know it" – die Schüler strahlen, während sie klatschen stampfen und schnipsen.
Immer schneller unter dem Kommando der freundlich-energischen Lehrerin Sigrid Höhler – ein gutes Training für Koordination, Rhythmus- und Körpergefühl.
" Am Anfang haben wir mit einem Tanz angefangen, das hat mir schon am meisten Spaß gemacht und jetzt auch das Singen. Dann ist man nicht so schüchtern, weil wenn wir jetzt auch ein Gedicht aufsagen oder so, dann passiert das vielleicht auch mal, dass man Lampenfieber kriegt vor der Klasse. Und das ist dann halt schon ein bisschen anders. Hier gibt’s eigentlich gar nichts Schlechtes. Ich habe schon drei eigene Lieder gemacht, in der Grundschule, aber jetzt weiß ich die nicht mehr. - Ich spiel’ jetzt auch ein Instrument – Gitarre – das macht auch viel Spaß. Da lernt man auch dazu zu singen, also wenn wir hier in der Schule singen, kann man dann auch zur Gitarre singen, also gute Mischung. "
... meinen Antje, Amargon und Michael, zehn und elf Jahre alt. "Gerade in den ersten Jahren sind die so kreativ", schwärmt Sigrid Höhler, das will die Musiklehrerin nutzen – mit möglichst viel Praxis. Auch wenn der kleine Musiksaal mit den alten klobigen Tischen für bewegten Unterricht eigentlich nicht gemacht ist:
"Wir hoffen, dass wir irgendwann Einzeltische bekommen, die wir wesentlich schneller wegstellen können um Platz zu haben, um zu tanzen. Nur leider: die Mittel sind knapp. Nebenan ist ein Raum, da sind diese alten Stühle, die für Linkshänder so furchtbar sind, wo man rechts einen Tisch hat. Die sind auch sehr antik, quietschen bei jeder Bewegung und machen dem Musiklehrer zusätzliche musikalische Freude. "
So manches angestaubte Xylofon aus dem Jahrzehnte alten Orff-Instrumentarium gibt zum Ausgleich kaum noch Töne von sich.
"Wir können von unserem Etat kaum das, was kaputt geht oder was ersetzt werden muss, ersetzen, geschweige denn irgendetwas Neues anschaffen, das muss man ganz realistisch sehen. "
... sagt Gerald Briel, der soeben im Raum mit den Quietsche-Stühlen einen Test zurückgibt. Immerhin hat das Gymnasium in städtischer Trägerschaft mit Hilfe des Fördervereins sowie der Einnahmen, die der Unterstufenchor und die Musical AG mit ihren Auftritten erwirtschafteten, 15 neue Keyboards gekauft.
"Ohne diese Zuwendungen von außen – also nur der Etat, der uns von der Stadt Koblenz zur Verfügung gestellt würde – könnten wir hier im Prinzip zumachen. "
Wohlgemerkt: die Stadt Koblenz ist nicht knauseriger als andere Kommunen und das Hilda-Gymnasium nicht ärmer als andere Schulen. Die ganz normale Misere eben. Die schönen neuen Keyboards bleiben übrigens viel zu häufig im Schrank. Sie immer wieder auf- und abzubauen, ist mühsam und zeitraubend. Einen Raum, in dem man Musikinstrumente stehen lassen kann, gibt es nicht. Viel Platz wäre noch im Dachgeschoss, ob die Stadt Koblenz dessen Ausbau finanziert, ist ungewiss.
"Drei Gruppen gibt’s, und ihr sprecht das jetzt, und am Ende machen wir einen Durchlauf der Geschichte "Hilfe die Herdmanns kommen ... "
Sprechtraining als Gruppenarbeit für Siebtklässler. Musik-Theater ist eines der Themen in Klasse sieben und acht. Singen, Tanzen und Sprechen gehören dazu. Das Training soll in eine kleine Aufführung münden, sagt Sigrid Höhler:
"Wahrscheinlich aus "My fair Lady" werden wir ein paar Passagen machen – mit 'nem Playback, oder auch selber können sie musizieren – und werden dann einzelne Songs aus "My fair Lady" entweder als Chor oder allein singen. So habe ich mir das vorgestellt. Vielleicht haben sie auch selber noch Ideen, dann dürfen sie sich auch selbst noch mit einbringen. Denn sie stehen ja mehr so auf moderne Musicals wie "Starlight Express" oder so etwas. Sie reagieren eigentlich sehr offen sind sehr motiviert. Also, wir waren ja in "Entführung aus dem Serail", und überraschenderweise war der Besuch ein Erfolg – ich war das sehr skeptisch – drei Stunden Mozart-Oper. Aber sie waren sehr offen und haben es als Erlebnis wahrgenommen. Für die Lehrerin ein Experiment, für die Schüler ein Highlight. "
"Es war schon ziemlich interessant. – Wie das alles entsteht, also ich meine die Regisseure und wer da alles so mitwirkt bei so einem Theaterstück - die Sänger, wie die die ganzen Stücke so hinbekommen. Also das muss ja ziemlich anstrengend sein, die ganze Zeit auf der Bühne zu stehen und zu singen und die ganzen Töne zu treffen. – Die lustigste Begebenheit jetzt übrigens war, dass die mich gefragt haben, warum der Paukist an der Pauke gerochen hat, weil ihnen überhaupt nicht klar war, dass der sein Ohr daran gelegt hat. Und das fand ich so charmant, dass sie dann gefragt haben, warum der denn dauernd daran riecht, ja ... "
Ob sich Interesse und Begeisterung der Siebtklässler auch für Anspruchsvolleres als Hip-Hop in die Oberstufe retten lassen? Das ist fraglich, denn in der Mittelstufe setzt die musikalische Entwöhnung ein:
Briel: "Die neunten Klassen – das ist ja vor Jahren schon die Stundentafel offiziell gekürzt worden von zwei auf eine Stunde, das ist nicht nur bei uns an der Schule so, sondern generell. Für die zehnten Klassen war das immer schon so, dass die nur eine Stunde Unterricht hatten pro Woche. Wir machen in der neunten Klasse den Unterricht epochal im Wechsel mit Kunst, dass man wenigstens zwei Stunden pro Woche hat, damit die Schüler nicht das Gefühl haben, hier läuft ja grad gar nichts. Aber befriedigend ist es natürlich nicht, wenn die dann in der neunten ein halbes Jahr keinen Musikunterricht hatten und dann in der zehnten wieder Musikunterricht bekommen mit nur einer Stunde – befriedigend ist es nicht von der Situation. "
Drei Musiklehrer kommen am Hilda-Gymnasium auf 1000 Schüler. Sigrid Höhler hat die Schulbehörde mit vier Stunden ans Koblenz-Kolleg abgeordnet, die fehlen dem Gymnasium. Auch Lothar Bonin gibt nicht die volle Stundenzahl Musik, er ist zusätzlich stellvertretender Schulleiter. Unterbesetzung gestern und heute – dazu Gerald Briel, seit zwanzig Jahren Musik-Fachbereichsleiter, und Lothar Bonin, Vorsitzender des Verbandes der Schulmusiker in Rheinland-Pfalz.
Briel: "Ich kann mich eigentlich gar nicht erinnern, dass es je eine Zeit gegeben hätte wo wir nicht gekürzten Unterricht gehabt haben, irgendwo war es immer gekürzt. "
Bonin: "Die komplette Oberstufe haben wir gekürzt, von drei Stunden Grundkurs auf zwei Stunden. "
Was das für den einzelnen Fachlehrer am Hilda-Gymnasium bedeutet:
Briel: "Ich hab' vier Kurse, die alle von drei auf zwei Stunden reduziert sind. Wenn der Unterricht in reduzierter Form gegeben wird, haben Sie entsprechend größere Anzahl an Lerngruppen. Also ich, der ich ja nur ein zweistündiges Fach habe, in Anführungszeichen – also Musik, ich weiß nicht auswendig, wie viele Lerngruppen ich habe, also elf mindestens mal – jetzt überlegen Sie mal: elf Lerngruppen, à im Schnitt zwischen 25 und 30, wie viele Schüler das sind, die man jede Woche quasi da durch schleusen muss. Die müssen zweimal im Jahr benotet werden, gerecht benotet werden natürlich. Das heißt, Sie müssen Leistungsüberprüfungen ansetzen, ob sie sinnvoll sind oder nicht, bei einer Stunde Unterricht pro Woche - die Frage können Sie sich gar nicht mehr erlauben, denn Sie müssen sehen, dass Sie bis zum Ende vom Schul-Halbjahr ein paar Leistungsnachweise haben, damit Sie eine Note festsetzen können, die so ohne weiteres nicht anfechtbar ist, und das geht schon an die Nerven und an die Substanz. "
Höhler: "Man kommt sich auch benutzt vor, so nach dem Motto ‚Hauptsache Musiker, dann egal ob gekürzt, mit wie vielen, Hauptsache wir decken das ab.’ Aber ich meine, irgendwann haben sie keine mehr, wenn sie die so behandeln. Dann überlebt keiner die Pensionsgrenze. "
Sigrid Höhler führt das "Doppelleben" vieler Fachlehrer für Musik: im Unterricht blüht sie auf, greift energisch in die Tasten, dirigiert dabei die Kinder mit den Augen, korrigiert freundlich Notenwerte und lässt ganz nebenbei die Theorie in die Praxis einfließen. Nach der Stunde scheint sie ein bisschen in sich zusammen zu fallen. Die Stimmband-Entzündung geht nicht weg, die Frustration darüber, dass die Politik nicht gegen den Fachlehrermangel angeht, drückt auf die Stimmung. Teilweise sind die Eingangstests an der Hochschule schwerer als die Abschlussprüfungen, motivierte Aspiranten werden abgewiesen, nur weil sie nicht virtuos genug Klavier spielen. Musikunterricht als Manövriermasse – solange Schulmusiker in spe systematisch abgeschreckt werden, dürfte es dabei bleiben.
Die Neutöner vom Lande
Von Tamara Tischendorf
In der Aula des Leininger Gymnasiums im pfälzischen Grünstadt haben sich rund 50 Schüler verteilt. Alle stehen wie angewurzelt im Raum und stoßen hochkonzentriert Laute aus. Nur ein Mädchen wandert zwischen den lebendigen Klangsäulen hindurch. Sobald es jemanden sachte am Arm berührt, wandelt sich der Konsonantenschwall plötzlich zur Vokaldusche. Mit einer "Klangmetamorphose" macht sich die Arbeitsgemeinschaft für Neue Musik warm für ein Stück von Mathias Spahlinger, das an diesem Tag geprobt werden soll. Seine "Vorschläge" hat er vor Jahren eigens für eine Vorgängergeneration des Laien-Ensembles geschrieben.
Egeler-Wittmann: "Der Komponist, Mathias Spahlinger, (...) hat dem ganzen Zyklus den Titel gegeben: "vorschläge: zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten." Noch mal: "vorschläge: zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten." Das heißt: Er macht mit den Stücken euch zu Komponisten, die Konzepte sind schon relativ frei. Und er schreibt an einer Stelle sogar, dass er sich von euch wünscht, dass die Konzepte weiter entwickelt und auch verändert werden. "
Silke Egeler-Wittmann ist Musiklehrerin am Leininger Gymnasium. Als Schülerin war sie selbst schon Mitglied des traditionsreichen Ensembles. Nach ihrem Studium in Berlin ist sie in die Pfalz zurückgekehrt und hat – neben dem regulären Unterricht – die Leitung der Arbeitsgemeinschaft übernommen. Das aktuelle Stück verüberflüssigt allerdings auch diese Funktion: Die Schüler diskutieren und proben die meiste Zeit in Eigenregie. Nach dem Einsingen haben sie sich in drei Gruppen aufgeteilt: Instrumentalisten, Vokalgruppe und MP3-Gruppe. Jede hat sich einen Satz aus Mathias Spahlingers achtundzwanzig Vorschlägen vorgenommen. AG-Leiterin Egeler-Wittmann pendelt zwischen den Gruppen, hört zu und gibt Anregungen.
Die Mitglieder der MP3-Gruppe sind in der Aula zurückgeblieben und sitzen im Halbkreis zusammen. Alle haben Kopfhörer auf, vor sich auf dem Tisch einen MP3-Player oder einen Walkman liegen und würfeln. Ab und zu springt jemand auf, bewegt sich im Takt oder singt laut mit, was ihm gerade in den Ohren klingt. Alisha Rebmann aus der neunten Klasse erklärt das Konzept, das sich ihre Gruppe erarbeitet hat:
Rebmann: "Wir hatten eigentlich Anweisungen, (...) die verschiedenen Zahlen einfach zu würfeln. Die verschiedenen Zahlen eins bis drei, da hätten wir unsere Musik anstellen sollen und auch laut mitsingen. Die restlichen Zahlen, vier bis sechs, da hätten wir eigentlich leise sein sollen. (...) Das war uns dann doch ein bisschen zu wenig. Wir haben uns überlegt, dass wir bei eins den Text einfach nur mitsummen, bei sechs eben aufstehen und die ganze Mimik und so machen als wenn wir total abrocken, also, nur so – ohne Musik. So haben wir uns da halt einfach überlegt. "
Die radikal-demokratische Grundidee des Stücks verweist auf die Anfänge der Arbeitsgemeinschaft für Neue Musik. Gegründet wurde sie von Manfred Peters, einem Schulmusiker, der sich zuvor als Flötist einen Namen gemacht hatte. Das war 1970, als die Ideen der 68er Revolte langsam ihren Weg in die pfälzische Provinz gefunden hatten. Von avantgardistischer Musik konnte man das allerdings nicht behaupten. Und so übernahm Manfred Peters zunächst einen herkömmlichen Schulchor:
Peters: "Eines Tages fielen mir Noten in die Hände eines englischen Verlages mit Neuer Musik für Schüler. Und ich hatte damals die Absicht, ein Konzert zu machen mit Neuer Musik. Dieses Stück verursachte einen ziemlichen Aufruhr. Hauptgrund war: Programmbestandteil war ein Stück für vier Trommeln, zwölf Glockenstäbe und zwölf Milchflaschen. Milchflaschen! Vielleicht wär’s bei Bierflaschen ein bisschen besser gelaufen, aber die Milchflaschen störten enorm. "Man kann doch auf Milchflaschen" – auch wenn sie abgestimmt waren – "keine Musik machen! Das geht einfach nicht." Deshalb war der Aufruhr erheblich, auf Elternseite, auf Mitschülerseite. Und ich dachte: Was ist da los? Ich mach‘ mal weiter. "
So lange, bis aus dem Schulchor schließlich ein auf zeitgenössische Musik spezialisiertes Ensemble geworden war – das erste dieser Art in Deutschland. Rundfunk und Fernsehen wurden aufmerksam. Bald begnügte sich die Laiengruppe nicht mehr damit, unerhörte Stücke auf die Bühne zu bringen, sondern gab selbst welche in Auftrag. Namhafte Komponisten wie Hans-Joachim Hespos, Antoine Beuger, Dieter Schnebel oder Jakob Ullmann schrieben für die AG und reisten an die pfälzische Weinstraße, um die Werke mit den Schülern zusammen einzustudieren. Aktuelle Tendenzen in der Neuen Musik spielten dem Laien-Ensemble in die Hände: Minimalismus, Pattern-Kompositionen und unkonventionelle Notationsformen konnten auch Kinder ohne langjährige musikalische Ausbildung in Künstler verwandeln:
Peters: "Was für mich das Wichtigste war, mit jungen Leuten, mit Schülern, im emphatischen Sinne Kunst zu machen. Also, nicht zum Beispiel so etwas, was sehr häufig passiert, leider Gottes heute auch noch: Da studieren Kollegen mit Schulensembles, Chor, etc. Brahms Requiem ein. Und das ist natürlich alles viel zu schwierig und es bleibt sehr unvollständig (...) Ich bin nicht dagegen, dass Leute versuchen zu musizieren. Aber das vorzuführen, wo dann die Tante, die Oma dann: Ach guck mal, wie niedlich, die machen das alles ja schon ganz nett und so ... aber es bleibt halt nur ganz nett und alles sehr fehlerhaft... "
Nett wollten sie nicht sein, die Neutöner vom Lande, eher professionell.
Heute kann die AG auf viele CD-Produktionen zurückblicken, die den Vergleich mit Aufnahmen von Berufsmusikern nicht scheuen müssen.
Auf wichtigen Leistungsschauen Neuer Musik von Berlin bis München war die AG oft das einzige geladene Laien-Ensemble. Bei Konzerten zu Hause allerdings gab es immer wieder heftige Auseinandersetzungen.
Noch heute stockt dem heimischem Publikum manchmal der Atem – ganz wie beim ersten Konzert. Auch schulintern umgibt die AG nach wie vor eine geheimnisvolle Aura, berichtet Teresa Ellinger aus der siebten Klasse. Ihre Mitschüler jedenfalls waren skeptisch, als sie vor kurzem beschloss, ausgerechnet der AG für Neue Musik beizutreten.
Ellinger: "Anfangs hieß es: Du willst da doch nicht echt reingehen, da stülpen die sich Eimer über den Kopf und rennen wie die Bekloppten durch den Raum. Das fand ich eigentlich auch nicht. Ich fand das auch nicht negativ. Ich fand das eigentlich lustig, auch anregend. "
Während der Spahlinger-Probe wirkt Teresa Ellinger mit ihrer Querflöte bei der Instrumentalgruppe mit. Wie etwa ein Viertel der Schüler eines jeden Jahrgangs am Leininger Gymnasium hat sie Musik als Schwerpunktfach gewählt. Als Mitglied der Musikklasse erhält Teresa Ellinger bis zur zehnten Jahrgangsstufe immerhin eine Stunde mehr Musikunterricht als landesweit üblich. Außerdem müssen Schwerpunktschüler bei einer der angebotenen AGs mitmachen: Streichorchester, Blasorchester, Schulchor, oder eben AG für Neue Musik. Seit das Gymnasium vor elf Jahren Schwerpunktschule für Musik geworden ist, kultiviert sie ihr musikalisches Profil ganz besonders, meint Direktorin Barbara Knopp.
Knopp: "Bildung ist viel mehr als das rein unmittelbar Umsetzbare. (...) Man redet so viel von sozialen Kompetenzen. Wenn man sich die Musikklassen ansieht, die ja gemeinsam Klassenkonzerte machen: Die lernen viel mehr aufeinander hören, sich nicht in den Vordergrund spielen. Wenn alle zusammenwirken, dass dann erst was besonders Gutes rauskommt. Dass mal der eine einen größeren Anteil hat und mal der andere, also, es ist wirklich deutlich (...) merkbar, wie hier Musik sich auswirkt auf ‘ne positive Klassengemeinschaft. "
Dass ein solcher Schwerpunkt vor zehn Jahren überhaupt eingerichtet werden konnte, ist auch dem Renommee der Arbeitsgemeinschaft für Neue Musik zu verdanken – dem Aushängeschild der musikalischen Bildungsarbeit. Die AG-Mitglieder lernen mehr, als sich auf ungewohnte Klänge einzulassen. Anders als im Unterricht arbeiten hier Jugendliche aller Altersgruppen zusammen. Selbst, wenn die Kleinsten ein Solo vorführen, werden sie von den Älteren ernst genommen. Leiterin Silke Egeler-Wittmann achtet darauf, dass jeder in der Gruppe seinen Platz findet:
Egeler-Wittmann: "Es gibt Schüler, die sind manchmal am Anfang noch sehr still und zurückhaltend, aber man merkt, die entwickeln sich. Und im Laufe der Zeit passiert dann ganz viel und das ist für mich auch ganz schön, zu beobachten, wie sich die Persönlichkeiten da entwickeln. Und auch wie sehr extrovertierte Persönlichkeiten sich in einer Weise in eine Bahn lenken lassen, dass es auch wiederum erträglich ist. (...) Da gibt’s jetzt auch die Möglichkeit, in dieser speziellen Kunstform, sich einzubringen auf seine eigenwillige Art und Weise, die in einer konventionelleren Gruppe vielleicht nicht möglich ist. "
Der Arbeitsschwerpunkt der AG hat sich unter Silke Egeler-Wittmanns Leitung in den letzten zehn Jahren etwas verlagert. Zwar arbeitet sie immer noch eng mit Komponisten zusammen, aber die Bedingungen sind schwieriger geworden. Die Förderung durch honorierte Funkkonzerte ist weggefallen, weil die Sender kein Geld mehr haben. Um neue Stücke in Auftrag geben, muss Silke Egeler-Wittmann jetzt Sponsoren finden. Manches Experiment konnte wegen Geldmangels nicht realisiert werden. Und: Die zeitgenössischen Komponisten von heute schreiben anders:
Egeler-Wittmann: "Die ganze Neue-Musik-Szene hat sich verändert. Sie ist vor allem im Moment dabei, sich sehr zu öffnen nach allen Seiten. Diese sehr strenge Trennung zwischen U- und E-Musik kann man heute so gar nicht mehr sehen, auch die Kunstsparten mischen sich ganz massiv. Letzeres ist schon was, was auch in den letzten Jahren auch mein Schwerpunkt geworden ist, der Bereich des Musiktheaters, der Musikperformance, und dann der Aspekte Tanz – Tanz und Musik oder Tanzperformance mit experimenteller Vokalmusik gemischt, das ist auch so eine neue Mixtur, die wir da so betreiben. "
Ihre Musik- und Tanz-Performances haben der AG unter der Leitung von Silke Egeler-Wittman vor zwei Jahren sogar eine Einladung zum Musikfest des Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue eingebracht.
Kurt Schwitters Lautgedichte gehören zu den Kontinuitäten des Ensemble-Repertoires. Jede Schülergeneration erschließt sie sich neu, genauso wie die Neue Musik als Ganze. Im Schulalltag bedeutet sie mehr als ein musikalisches Experiment, meint Manfred Peters, der Gründer der Arbeitsgemeinschaft für Neue Musik:
Peters: "Wenn ich Musik höre, dann erfahre ich, was in dieser Zeit los ist. Und deswegen müssten wir eigentlich Neue Musik machen, wenn die Musik – ich pflege das immer so etwas schnoddrig zu sagen – nicht nur ein Süßwarenladen sein soll. (...) Musik ist nach abendländischem Verständnis (...) etwas viel Existenzielleres als nur ‘ne schöne Sache. "
Nämlich: Ein Hörbild unserer Tage, ein soziales Laboratorium, das A und O bei der Selbstverständigung in orientierungslosen Zeiten. Am Leininger Gymnasium in Grünstadt wird diese Erkenntnis tatsächlich gelebt.
Musikunterricht als Manövriermasse - die ganz normale Misere an deutschen Schulen
Von Anke Petermann
"Wegen Lehrermangels nicht erteilt" – dass solch ein Stempel im Zeugnis die Musiknote ersetzt, gehört seit Jahrzehnten zum deutschen Schulalltag. Das Musische gilt seit jeher als verschiebbare Masse an allgemein bildenden Schulen. Seit Pisa sind die Schulmusiker noch mehr auf Abwehrschlachten eingestellt: Denn die Aufholjagd in Mathematik, Sprache und Naturwissenschaften geht an manchen Schulen auf Kosten von Musik und Kunst. Dabei hilft musische Erziehung, konzentriert zu lernen und analytischen Verstand auszubilden. Das hat jedenfalls die moderne Hirnforschung herausgefunden. Doch diese Erkenntnisse scheinen noch nicht bis in die Bildungspolitik vorgedrungen zu sein.
Wenn die Fünftklässler am Hilda-Gymnasium in der Koblenzer Innenstadt wählen dürfen, entscheiden sie sich fürs Singen, etwa die Hälfte der 30-köpfigen Klasse macht auch im Unterstufenchor mit. "If you happy and you know it" – die Schüler strahlen, während sie klatschen stampfen und schnipsen.
Immer schneller unter dem Kommando der freundlich-energischen Lehrerin Sigrid Höhler – ein gutes Training für Koordination, Rhythmus- und Körpergefühl.
" Am Anfang haben wir mit einem Tanz angefangen, das hat mir schon am meisten Spaß gemacht und jetzt auch das Singen. Dann ist man nicht so schüchtern, weil wenn wir jetzt auch ein Gedicht aufsagen oder so, dann passiert das vielleicht auch mal, dass man Lampenfieber kriegt vor der Klasse. Und das ist dann halt schon ein bisschen anders. Hier gibt’s eigentlich gar nichts Schlechtes. Ich habe schon drei eigene Lieder gemacht, in der Grundschule, aber jetzt weiß ich die nicht mehr. - Ich spiel’ jetzt auch ein Instrument – Gitarre – das macht auch viel Spaß. Da lernt man auch dazu zu singen, also wenn wir hier in der Schule singen, kann man dann auch zur Gitarre singen, also gute Mischung. "
... meinen Antje, Amargon und Michael, zehn und elf Jahre alt. "Gerade in den ersten Jahren sind die so kreativ", schwärmt Sigrid Höhler, das will die Musiklehrerin nutzen – mit möglichst viel Praxis. Auch wenn der kleine Musiksaal mit den alten klobigen Tischen für bewegten Unterricht eigentlich nicht gemacht ist:
"Wir hoffen, dass wir irgendwann Einzeltische bekommen, die wir wesentlich schneller wegstellen können um Platz zu haben, um zu tanzen. Nur leider: die Mittel sind knapp. Nebenan ist ein Raum, da sind diese alten Stühle, die für Linkshänder so furchtbar sind, wo man rechts einen Tisch hat. Die sind auch sehr antik, quietschen bei jeder Bewegung und machen dem Musiklehrer zusätzliche musikalische Freude. "
So manches angestaubte Xylofon aus dem Jahrzehnte alten Orff-Instrumentarium gibt zum Ausgleich kaum noch Töne von sich.
"Wir können von unserem Etat kaum das, was kaputt geht oder was ersetzt werden muss, ersetzen, geschweige denn irgendetwas Neues anschaffen, das muss man ganz realistisch sehen. "
... sagt Gerald Briel, der soeben im Raum mit den Quietsche-Stühlen einen Test zurückgibt. Immerhin hat das Gymnasium in städtischer Trägerschaft mit Hilfe des Fördervereins sowie der Einnahmen, die der Unterstufenchor und die Musical AG mit ihren Auftritten erwirtschafteten, 15 neue Keyboards gekauft.
"Ohne diese Zuwendungen von außen – also nur der Etat, der uns von der Stadt Koblenz zur Verfügung gestellt würde – könnten wir hier im Prinzip zumachen. "
Wohlgemerkt: die Stadt Koblenz ist nicht knauseriger als andere Kommunen und das Hilda-Gymnasium nicht ärmer als andere Schulen. Die ganz normale Misere eben. Die schönen neuen Keyboards bleiben übrigens viel zu häufig im Schrank. Sie immer wieder auf- und abzubauen, ist mühsam und zeitraubend. Einen Raum, in dem man Musikinstrumente stehen lassen kann, gibt es nicht. Viel Platz wäre noch im Dachgeschoss, ob die Stadt Koblenz dessen Ausbau finanziert, ist ungewiss.
"Drei Gruppen gibt’s, und ihr sprecht das jetzt, und am Ende machen wir einen Durchlauf der Geschichte "Hilfe die Herdmanns kommen ... "
Sprechtraining als Gruppenarbeit für Siebtklässler. Musik-Theater ist eines der Themen in Klasse sieben und acht. Singen, Tanzen und Sprechen gehören dazu. Das Training soll in eine kleine Aufführung münden, sagt Sigrid Höhler:
"Wahrscheinlich aus "My fair Lady" werden wir ein paar Passagen machen – mit 'nem Playback, oder auch selber können sie musizieren – und werden dann einzelne Songs aus "My fair Lady" entweder als Chor oder allein singen. So habe ich mir das vorgestellt. Vielleicht haben sie auch selber noch Ideen, dann dürfen sie sich auch selbst noch mit einbringen. Denn sie stehen ja mehr so auf moderne Musicals wie "Starlight Express" oder so etwas. Sie reagieren eigentlich sehr offen sind sehr motiviert. Also, wir waren ja in "Entführung aus dem Serail", und überraschenderweise war der Besuch ein Erfolg – ich war das sehr skeptisch – drei Stunden Mozart-Oper. Aber sie waren sehr offen und haben es als Erlebnis wahrgenommen. Für die Lehrerin ein Experiment, für die Schüler ein Highlight. "
"Es war schon ziemlich interessant. – Wie das alles entsteht, also ich meine die Regisseure und wer da alles so mitwirkt bei so einem Theaterstück - die Sänger, wie die die ganzen Stücke so hinbekommen. Also das muss ja ziemlich anstrengend sein, die ganze Zeit auf der Bühne zu stehen und zu singen und die ganzen Töne zu treffen. – Die lustigste Begebenheit jetzt übrigens war, dass die mich gefragt haben, warum der Paukist an der Pauke gerochen hat, weil ihnen überhaupt nicht klar war, dass der sein Ohr daran gelegt hat. Und das fand ich so charmant, dass sie dann gefragt haben, warum der denn dauernd daran riecht, ja ... "
Ob sich Interesse und Begeisterung der Siebtklässler auch für Anspruchsvolleres als Hip-Hop in die Oberstufe retten lassen? Das ist fraglich, denn in der Mittelstufe setzt die musikalische Entwöhnung ein:
Briel: "Die neunten Klassen – das ist ja vor Jahren schon die Stundentafel offiziell gekürzt worden von zwei auf eine Stunde, das ist nicht nur bei uns an der Schule so, sondern generell. Für die zehnten Klassen war das immer schon so, dass die nur eine Stunde Unterricht hatten pro Woche. Wir machen in der neunten Klasse den Unterricht epochal im Wechsel mit Kunst, dass man wenigstens zwei Stunden pro Woche hat, damit die Schüler nicht das Gefühl haben, hier läuft ja grad gar nichts. Aber befriedigend ist es natürlich nicht, wenn die dann in der neunten ein halbes Jahr keinen Musikunterricht hatten und dann in der zehnten wieder Musikunterricht bekommen mit nur einer Stunde – befriedigend ist es nicht von der Situation. "
Drei Musiklehrer kommen am Hilda-Gymnasium auf 1000 Schüler. Sigrid Höhler hat die Schulbehörde mit vier Stunden ans Koblenz-Kolleg abgeordnet, die fehlen dem Gymnasium. Auch Lothar Bonin gibt nicht die volle Stundenzahl Musik, er ist zusätzlich stellvertretender Schulleiter. Unterbesetzung gestern und heute – dazu Gerald Briel, seit zwanzig Jahren Musik-Fachbereichsleiter, und Lothar Bonin, Vorsitzender des Verbandes der Schulmusiker in Rheinland-Pfalz.
Briel: "Ich kann mich eigentlich gar nicht erinnern, dass es je eine Zeit gegeben hätte wo wir nicht gekürzten Unterricht gehabt haben, irgendwo war es immer gekürzt. "
Bonin: "Die komplette Oberstufe haben wir gekürzt, von drei Stunden Grundkurs auf zwei Stunden. "
Was das für den einzelnen Fachlehrer am Hilda-Gymnasium bedeutet:
Briel: "Ich hab' vier Kurse, die alle von drei auf zwei Stunden reduziert sind. Wenn der Unterricht in reduzierter Form gegeben wird, haben Sie entsprechend größere Anzahl an Lerngruppen. Also ich, der ich ja nur ein zweistündiges Fach habe, in Anführungszeichen – also Musik, ich weiß nicht auswendig, wie viele Lerngruppen ich habe, also elf mindestens mal – jetzt überlegen Sie mal: elf Lerngruppen, à im Schnitt zwischen 25 und 30, wie viele Schüler das sind, die man jede Woche quasi da durch schleusen muss. Die müssen zweimal im Jahr benotet werden, gerecht benotet werden natürlich. Das heißt, Sie müssen Leistungsüberprüfungen ansetzen, ob sie sinnvoll sind oder nicht, bei einer Stunde Unterricht pro Woche - die Frage können Sie sich gar nicht mehr erlauben, denn Sie müssen sehen, dass Sie bis zum Ende vom Schul-Halbjahr ein paar Leistungsnachweise haben, damit Sie eine Note festsetzen können, die so ohne weiteres nicht anfechtbar ist, und das geht schon an die Nerven und an die Substanz. "
Höhler: "Man kommt sich auch benutzt vor, so nach dem Motto ‚Hauptsache Musiker, dann egal ob gekürzt, mit wie vielen, Hauptsache wir decken das ab.’ Aber ich meine, irgendwann haben sie keine mehr, wenn sie die so behandeln. Dann überlebt keiner die Pensionsgrenze. "
Sigrid Höhler führt das "Doppelleben" vieler Fachlehrer für Musik: im Unterricht blüht sie auf, greift energisch in die Tasten, dirigiert dabei die Kinder mit den Augen, korrigiert freundlich Notenwerte und lässt ganz nebenbei die Theorie in die Praxis einfließen. Nach der Stunde scheint sie ein bisschen in sich zusammen zu fallen. Die Stimmband-Entzündung geht nicht weg, die Frustration darüber, dass die Politik nicht gegen den Fachlehrermangel angeht, drückt auf die Stimmung. Teilweise sind die Eingangstests an der Hochschule schwerer als die Abschlussprüfungen, motivierte Aspiranten werden abgewiesen, nur weil sie nicht virtuos genug Klavier spielen. Musikunterricht als Manövriermasse – solange Schulmusiker in spe systematisch abgeschreckt werden, dürfte es dabei bleiben.