Der Traum vom Fliegen
In Deutschland ist die Erfindung des Flugzeugs eng verknüpft mit dem Namen Lilienthal. Die Autoren Manuela Runge und Bernd Lukasch zeichnen in ihrer Biografie das Leben der Brüder Otto und Gustav Lilienthal nach und erkunden, wodurch das Erfinderteam so erfolgreich wurde.
Die Biografie "Erfinderleben" von Manuela Runge und Bernd Lukasch zeichnet den Lebensweg der beiden Brüder Otto und Gustav Lilienthal nach, deren Name eng mit der Erfindung des Flugszeugs verknüpft ist.
Schon als Kinder, so erzählen Autorin und Autor, waren die beiden Brüder denkbar unterschiedlich. Otto (1848-1896), blond gelockt, immer fröhlich und voller Selbstvertrauen. Gustav (1849-1933), dunkelhaarig, melancholisch und introvertiert.
Die beiden wuchsen in Anklam in Pommern auf. Schon als Kinder führten sie erste Flugversuche durch: Sie bauten ein Flügelpaar aus Leisten und Buchenspanbrettern. Dann gingen sie nachts - um nicht verspottet zu werden – ins Freie, bewegten die Flügel mit den Armen und rannten dem Wind entgegen. Das Fliegen gelang ihnen auf diese Weise nicht.
Erfindungen und Flugapparate
Sehr schön arbeiten die Autorin und der Autor heraus, was die beiden unterschiedlichen Brüder einte und was sie als Erfinderteam so außerordentlich effektiv machte:
Beide hatten ungeheuer vielfältige Interessen und besaßen eine ausgeprägte geistige Unabhängigkeit. Sie befassten sich mit Technik, Architektur, Theater, ja, sogar auch Spielzeug – und das taten sie mit einer geradezu ungezügelten Phantasie. Die beiden nahmen nichts als gegeben hin. Sie hatten Freude daran, gerade solche Fragen neu zu stellen, auf die es - scheinbar – schon längst Antworten gab.
Die meisten Erfindungen hatten allerdings nichts mit dem Fliegen zu tun und betrafen ganz bodenständige Techniken wie eben Dampfmaschinen, Hilfsmittel für den Abbau von Kohle oder – im Falle Gustavs – Dinge für den Hausbau wie Fertigdecken und Großblock-Hohlsteine aus Zement. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, hatten die Brüder ganz bodenständige Berufe im Maschinenbau und in der Architektur ergriffen.
Was ihren Traum vom Fliegen angeht, verfolgten die Lilienthals einen ganz anderen Ansatz als ihre Zeitgenossen. Damals dachte man, dass die Zukunft der Fliegerei im Ballonflug liege und in dem Prinzip "fliegen kann nur, was leichter ist als Luft".
Die Brüder experimentierten aber von Anfang an mit dem Prinzip "schwerer als Luft" – so hatten sie es bei den Vögel gesehen. Das Buch schildert ihren Werdegang als Flieger sehr anschaulich:
Nach mehreren gescheiterten Flugversuchen begriffen die Brüder, dass man sich durch Flügelschlagen wahrscheinlich nicht in die Luft hochheben konnte.
Und nun trafen sie eine sehr weise Entscheidung, die ihnen schließlich auch den Erfolg brachte. Sie erkannten: Zunächst einmal mussten theoretische Grundlagen her, sie mussten sich intensiv mit den physikalischen Prinzipen befassen, die hinter dem Vogelflug steckten. Die zweite weise Entscheidung war, schrittweise vorzugehen. Dieses Prinzip nannten die Brüder "Vom Schritt zum Sprung, vom Sprung zum Flug".
Nach den theoretischen Arbeiten baute Otto Flugapparate mit großer Spannweite und großer Tragfläche und begann mit Stehübungen gegen den Wind. Dann kamen Sprünge von einem Sprungbrett – damit kam er immerhin schon sechs bis sieben Meter weit. Daraus wurden später fünfundzwanzig Meter und schließlich dreihundert Meter. Otto optimierte seine Apparaturen schrittweise und suchte sich immer neue, bessere Gelände aus, wo die Windverhältnisse stimmten und er den Gleitflug einüben konnte.
Das Fliegen wurde Otto Lilienthal leider am Ende auch zum Verhängnis: 1896 stürzte er aus etwa zwanzig Meter Höhe ab, brach sich das Rückgrat und erlag einen Tag später, am 10. August 1896, seiner schweren Verletzung.
Die Vision vom Fliegen – mehr als eine technische Idee
Die Lilienthals waren nicht nur die tollkühnen Erfinder von Fluggeräten, auch davon erzählen die Autoren der Biografie:
Die erste ihrer zahlreichen Erfindungen, die sie patentieren ließen, war ein Stein-Baukasten für Kinder, der auf einem Holzbaukasten des Reformpädagogen Fröbel basierte.
Als Fabrikant engagierte sich Otto Lilienthal für soziale Gerechtigkeit und führte – was damals ganz und gar sensationell war – aus eigenen Stücken eine Gewinnbeteiligung von 25 Prozent für seine Arbeiter ein.
Heute – wo transkontinentale Flüge eine Selbstverständlichkeit sind -
neigen wir dazu, das Fliegen als eine rein technische Angelegenheit anzusehen. Für die Brüder Lilienthal – und das macht das Buch sehr schön deutlich - war die Vision vom Fliegen weit mehr als nur eine technische Idee, sie hatten die Vorstellung, dass der freie, unbeschränkte Flug des Menschen die Grenzen der Länder an Bedeutung verlieren lassen werde. Die Staaten würden aufhören, ihr ganzes Geld in die Landesverteidigung zu stecken. Und das werde uns schließlich "ewigen Frieden verschaffen".
Hier sieht man: Die Brüder Lilienthal wollten uns weniger die 14-Tage-Pauschalreise ins Touristenzentrum von Mallorca verschaffen, sondern eine gerechtere, friedlichere Welt. Und sie hielten an ihrer Utopie ihre Leben lang fest – genauso hartnäckig, wie sie versucht haben, sich fliegend in die Lüfte zu erheben.
Gute Recherche
Der Recherche-Aufwand, den die Autorin und der Autor betrieben haben, ist ganz enorm. Sie haben zahllose Briefe, Zitate und Zeichungen der Brüder zusammengetragen.
Die Autoren schildern zudem nicht nur die technischen Auseinandersetzungen der Lilienthal-Brüder, sondern fächern das Thema viel breiter auf, erläutern immer wieder die politische Situation Deutschlands und erklären, wie sich die gesellschaftlichen Veränderungen im Leben der Brüder widerspiegeln.
Geradezu ergreifend etwa ist die Schilderung der Jugend Otto Lilienthals, wenn wir erfahren, unter welchen Bedingungen er anfangs in Berlin lebte und arbeitete. Otto war in die expandierende Stadt gekommen, um eine Ausbildung an der Gewerbeakademie zu absolvieren und weil seine Mutter ihn finanziell nicht unterstützen konnte, musste er als so genannter "Schlafbursche" logieren. Damals gab es fünfzigtausend solcher Schlafburschen in Berlin, und viele Schlafmädchen: Sie lebten zur Untermiete bei armen, kinderreichen Familien. Aber sie hatten nicht etwa ein Zimmer gemietet, sondern nur ein Bett, und auch das teilten sie sich noch mit zwei anderen Schlafburschen. Am Beginn des Lebensweges stand also eine große Armut, die den sehr optimistischen Otto Lilienthal aber nicht entmutigte, sondern im Gegenteil dazu animierte, sich noch intensiver seiner Ausbildung zu widmen. Glücklicherweise gelang es ihm dann, durch gute Noten tatsächlich ein Stipendium zu ergattern, womit seine größte Not erst einmal beendet war.
Hervorzuheben ist der ausführliche Anhang, den die Autoren ihrem Buch beigefügt haben. Da finden sich genaue Angaben zu den vielen Quellen, die die Autoren zu Rate gezogen haben, zu den Archiven, in denen sie fündig wurden, zu der Literatur, die sie studiert haben und zu Internetseiten, die sich mit dem Thema Lilienthal beschäftigen.
Betulicher Stil
Leider mutet das Buch sprachlich stellenweise sehr betulich an. Das betrifft einmal die Erzählpassagen, die einigen Kapitel kursiv vorangestellt sind. Flugversuche der Brüder werden hier im Stil eines Romans geschildert – diese Passagen wären verzichtbar gewesen, denn stilistisch passen sie eher in ein Kinderbuch, als erwachsene Leserin fühlt man sich hier unterfordert.
Die übrigen Teile des Buches sind zwar solide, aber mitunter etwas bieder geschrieben, zwar sehr genau recherchiert, doch das schriftstellerische Können und der schmerzhaft genaue Blick, der beispielsweise einer Sigrid Damm in ihren literarischen Porträts zur Verfügung steht, fehlen dieser Biografie.
Unter dem Strich aber ist "Erfinderleben" ein lesenswertes Buch, mit dem man eintauchen kann in die Epoche der aufziehenden Technisierung und Industrialisierung unserer Gesellschaft und in die Köpfe von zwei der größten Erfinder jener Zeit.
Manuela Runge, Bernd Lukasch: Erfinderleben -
Berlin Verlag
Schon als Kinder, so erzählen Autorin und Autor, waren die beiden Brüder denkbar unterschiedlich. Otto (1848-1896), blond gelockt, immer fröhlich und voller Selbstvertrauen. Gustav (1849-1933), dunkelhaarig, melancholisch und introvertiert.
Die beiden wuchsen in Anklam in Pommern auf. Schon als Kinder führten sie erste Flugversuche durch: Sie bauten ein Flügelpaar aus Leisten und Buchenspanbrettern. Dann gingen sie nachts - um nicht verspottet zu werden – ins Freie, bewegten die Flügel mit den Armen und rannten dem Wind entgegen. Das Fliegen gelang ihnen auf diese Weise nicht.
Erfindungen und Flugapparate
Sehr schön arbeiten die Autorin und der Autor heraus, was die beiden unterschiedlichen Brüder einte und was sie als Erfinderteam so außerordentlich effektiv machte:
Beide hatten ungeheuer vielfältige Interessen und besaßen eine ausgeprägte geistige Unabhängigkeit. Sie befassten sich mit Technik, Architektur, Theater, ja, sogar auch Spielzeug – und das taten sie mit einer geradezu ungezügelten Phantasie. Die beiden nahmen nichts als gegeben hin. Sie hatten Freude daran, gerade solche Fragen neu zu stellen, auf die es - scheinbar – schon längst Antworten gab.
Die meisten Erfindungen hatten allerdings nichts mit dem Fliegen zu tun und betrafen ganz bodenständige Techniken wie eben Dampfmaschinen, Hilfsmittel für den Abbau von Kohle oder – im Falle Gustavs – Dinge für den Hausbau wie Fertigdecken und Großblock-Hohlsteine aus Zement. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, hatten die Brüder ganz bodenständige Berufe im Maschinenbau und in der Architektur ergriffen.
Was ihren Traum vom Fliegen angeht, verfolgten die Lilienthals einen ganz anderen Ansatz als ihre Zeitgenossen. Damals dachte man, dass die Zukunft der Fliegerei im Ballonflug liege und in dem Prinzip "fliegen kann nur, was leichter ist als Luft".
Die Brüder experimentierten aber von Anfang an mit dem Prinzip "schwerer als Luft" – so hatten sie es bei den Vögel gesehen. Das Buch schildert ihren Werdegang als Flieger sehr anschaulich:
Nach mehreren gescheiterten Flugversuchen begriffen die Brüder, dass man sich durch Flügelschlagen wahrscheinlich nicht in die Luft hochheben konnte.
Und nun trafen sie eine sehr weise Entscheidung, die ihnen schließlich auch den Erfolg brachte. Sie erkannten: Zunächst einmal mussten theoretische Grundlagen her, sie mussten sich intensiv mit den physikalischen Prinzipen befassen, die hinter dem Vogelflug steckten. Die zweite weise Entscheidung war, schrittweise vorzugehen. Dieses Prinzip nannten die Brüder "Vom Schritt zum Sprung, vom Sprung zum Flug".
Nach den theoretischen Arbeiten baute Otto Flugapparate mit großer Spannweite und großer Tragfläche und begann mit Stehübungen gegen den Wind. Dann kamen Sprünge von einem Sprungbrett – damit kam er immerhin schon sechs bis sieben Meter weit. Daraus wurden später fünfundzwanzig Meter und schließlich dreihundert Meter. Otto optimierte seine Apparaturen schrittweise und suchte sich immer neue, bessere Gelände aus, wo die Windverhältnisse stimmten und er den Gleitflug einüben konnte.
Das Fliegen wurde Otto Lilienthal leider am Ende auch zum Verhängnis: 1896 stürzte er aus etwa zwanzig Meter Höhe ab, brach sich das Rückgrat und erlag einen Tag später, am 10. August 1896, seiner schweren Verletzung.
Die Vision vom Fliegen – mehr als eine technische Idee
Die Lilienthals waren nicht nur die tollkühnen Erfinder von Fluggeräten, auch davon erzählen die Autoren der Biografie:
Die erste ihrer zahlreichen Erfindungen, die sie patentieren ließen, war ein Stein-Baukasten für Kinder, der auf einem Holzbaukasten des Reformpädagogen Fröbel basierte.
Als Fabrikant engagierte sich Otto Lilienthal für soziale Gerechtigkeit und führte – was damals ganz und gar sensationell war – aus eigenen Stücken eine Gewinnbeteiligung von 25 Prozent für seine Arbeiter ein.
Heute – wo transkontinentale Flüge eine Selbstverständlichkeit sind -
neigen wir dazu, das Fliegen als eine rein technische Angelegenheit anzusehen. Für die Brüder Lilienthal – und das macht das Buch sehr schön deutlich - war die Vision vom Fliegen weit mehr als nur eine technische Idee, sie hatten die Vorstellung, dass der freie, unbeschränkte Flug des Menschen die Grenzen der Länder an Bedeutung verlieren lassen werde. Die Staaten würden aufhören, ihr ganzes Geld in die Landesverteidigung zu stecken. Und das werde uns schließlich "ewigen Frieden verschaffen".
Hier sieht man: Die Brüder Lilienthal wollten uns weniger die 14-Tage-Pauschalreise ins Touristenzentrum von Mallorca verschaffen, sondern eine gerechtere, friedlichere Welt. Und sie hielten an ihrer Utopie ihre Leben lang fest – genauso hartnäckig, wie sie versucht haben, sich fliegend in die Lüfte zu erheben.
Gute Recherche
Der Recherche-Aufwand, den die Autorin und der Autor betrieben haben, ist ganz enorm. Sie haben zahllose Briefe, Zitate und Zeichungen der Brüder zusammengetragen.
Die Autoren schildern zudem nicht nur die technischen Auseinandersetzungen der Lilienthal-Brüder, sondern fächern das Thema viel breiter auf, erläutern immer wieder die politische Situation Deutschlands und erklären, wie sich die gesellschaftlichen Veränderungen im Leben der Brüder widerspiegeln.
Geradezu ergreifend etwa ist die Schilderung der Jugend Otto Lilienthals, wenn wir erfahren, unter welchen Bedingungen er anfangs in Berlin lebte und arbeitete. Otto war in die expandierende Stadt gekommen, um eine Ausbildung an der Gewerbeakademie zu absolvieren und weil seine Mutter ihn finanziell nicht unterstützen konnte, musste er als so genannter "Schlafbursche" logieren. Damals gab es fünfzigtausend solcher Schlafburschen in Berlin, und viele Schlafmädchen: Sie lebten zur Untermiete bei armen, kinderreichen Familien. Aber sie hatten nicht etwa ein Zimmer gemietet, sondern nur ein Bett, und auch das teilten sie sich noch mit zwei anderen Schlafburschen. Am Beginn des Lebensweges stand also eine große Armut, die den sehr optimistischen Otto Lilienthal aber nicht entmutigte, sondern im Gegenteil dazu animierte, sich noch intensiver seiner Ausbildung zu widmen. Glücklicherweise gelang es ihm dann, durch gute Noten tatsächlich ein Stipendium zu ergattern, womit seine größte Not erst einmal beendet war.
Hervorzuheben ist der ausführliche Anhang, den die Autoren ihrem Buch beigefügt haben. Da finden sich genaue Angaben zu den vielen Quellen, die die Autoren zu Rate gezogen haben, zu den Archiven, in denen sie fündig wurden, zu der Literatur, die sie studiert haben und zu Internetseiten, die sich mit dem Thema Lilienthal beschäftigen.
Betulicher Stil
Leider mutet das Buch sprachlich stellenweise sehr betulich an. Das betrifft einmal die Erzählpassagen, die einigen Kapitel kursiv vorangestellt sind. Flugversuche der Brüder werden hier im Stil eines Romans geschildert – diese Passagen wären verzichtbar gewesen, denn stilistisch passen sie eher in ein Kinderbuch, als erwachsene Leserin fühlt man sich hier unterfordert.
Die übrigen Teile des Buches sind zwar solide, aber mitunter etwas bieder geschrieben, zwar sehr genau recherchiert, doch das schriftstellerische Können und der schmerzhaft genaue Blick, der beispielsweise einer Sigrid Damm in ihren literarischen Porträts zur Verfügung steht, fehlen dieser Biografie.
Unter dem Strich aber ist "Erfinderleben" ein lesenswertes Buch, mit dem man eintauchen kann in die Epoche der aufziehenden Technisierung und Industrialisierung unserer Gesellschaft und in die Köpfe von zwei der größten Erfinder jener Zeit.
Manuela Runge, Bernd Lukasch: Erfinderleben -
Berlin Verlag