Der Tristesse-Deutsche - eine Fiktion?

Von Tilman Krause |
Zwei Deutschländer wollte um 1900 der französische Publizist Elme Caro erkennen. Es gebe nicht nur ein Deutschland, schrieb er, um die Vorurteile seiner Landsleute zu bekämpfen, es gebe derer zwei: das alte Deutschland, friedlich, musikalisch-poetisch, ein wenig versponnen und verglichen mit Frankreich in allen zivilisatorischen Dingen etwas zurückgeblieben. Aber da sei auch das andere, das neue Deutschland: dynamisch und aggressiv, militärisch und zackig.
"Dieses neue Deutschland ist es, das uns 1871 die schmachvolle Niederlage zugefügt hat. Und wenn wir nicht aufpassen, wird es noch den ganzen Erdkreis in Brand setzen." Soweit Elme Caro um 1900. "Les deux Allemagnes" – sehen wir die Formel nicht in diesen Tagen fröhliche Urständ feiern? Sicher, das aggressive, kriegerische Deutschland des Wilhelminismus ist mit Hitler endgültig untergegangen. Aber noch scheint Deutschland ein Land mit zwei Gesichtern zu sein. Allerdings sehen die ganz anders aus als vor 100 Jahren.

Das eine Gesicht haben wir der Welt in diesen Wochen gezeigt. Und was noch wichtiger ist: Die Welt hat es auch wahrgenommen. Die Welt hat sich gefreut und freut sich noch an einem Deutschland, das fröhlich und in Feierlaune Besucher aus der ganzen Welt willkommen heißt. Und diese Besucher haben sich hier wohl gefühlt. Sie haben das auch nach Hause kommuniziert, so dass die Zeitungen des Auslands voll davon sind. "Deutschland ist anders geworden", titelte beispielsweise ein italienisches Magazin dieser Tage. "Früher gingen sie in Sack und Asche. Jetzt sind sie laut und bunt und lustig und feiern fast so lange wie wir."

Aber nicht nur das Erstaunen des Auslands kennt keine Grenzen. Auch wir reiben uns ungläubig die Augen: Das sollen wir sein, dieses Volk, das sich scheinbar sorglos den Freuden eines großen Spiels hingibt, das in entspanntem Nationalstolz der eigenen Mannschaft die Daumen drückt und munter die deutsche Fahne schwenkt? Das sich aber auch solidarisch und neidlos an den Fußball-Erfolgen der anderen Nationen freut? Das singt und lacht und den lieben Herrgott einen guten Mann sein lässt?

Nun gut, es ist Sommer, die Ferien stehen vor der Tür oder sind schon angebrochen. Da können selbst wir Deutschen nicht andauernd Trübsal blasen. Die gute Stimmung wird schon noch rasch genug verfliegen, unken bereits die Pessimisten, und: Auf jede Orgie folgt der Kater. Wir werden schon bald wieder diejenigen sein, als die man uns kennt: miesepetrige Bedenkenträger, die pessimistisch bis ängstlich in die Zukunft blicken und ihre Groschen zusammenhalten, weil die Zeiten ja nur noch schlechter werden können.

Es ist klar, dass die Unker das sagen. Sie müssen das geradezu tun. Sie leben nämlich davon, die angeblich so schlecht gelaunten Deutschen immer wieder zu geißeln. Eine ganze Industrie spezialisiert sich mittlerweile darauf, unser Volk schwarz in schwarz zu malen. Und Intellektuelle, Künstler, Politiker aller Parteien, offizielle Funktionsträger vieler gesellschaftlicher Gruppen haben sich dem angeschlossen und wiederholen ebenfalls gebetsmühlenartig die Stereotypen vom kleinlaut mürrischen Deutschen, dem alles abgeht, was er an Franzosen oder Italienern so bewundert, nämlich das Vermögen, auch in Krisenzeiten das Leben zu genießen.

Die vergangenen Tage und Wochen werfen aber die Frage auf: Vielleicht ist der Tristesse-Deutsche nur eine Fiktion? Vielleicht ist hier jene Dynamik am Werk, welche die Psychologen "self-fulfilling prophecy" nennen, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung also, nach dem Motto: Wer sich selbst lange genug schlecht geredet hat, glaubt schließlich auch, dass er schlecht sei. Eines ist sicher, wir sind, nicht zuletzt dank unserer Geschichte im 20. Jahrhundert, ein labiles Volk, wir hören gern auf vermeintliche Autoritäten, die uns erklären, wie wir sind oder sogar zu sein haben.

Und da haben wir nur allzu gern den Befund verinnerlicht, wir seien ein trübsinniges Volk. Aber jetzt können wir den Autoritäten und Auguren etwas entgegenhalten. Jetzt können wir sagen: April, April, wir stehen, wenn wir wollen, den anderen in nichts nach. Wir können uns genau so wie sie des Lebens freuen. Lasst uns in Ruhe mit eurem Gerede vom deutschen Trauerkloß.

Und vor allem ihr, liebe Politiker, projiziert eure Mattheit, Mutlosigkeit und Reformunfähigkeit nicht dauernd auf uns. Wir werden es schon schaffen, komme, was da wolle. Auch wenn wir nicht Weltmeister geworden sind. Denn wir haben trotzdem einen Rekord aufgestellt: Wir sind, zumindest vorübergehend, das Land der guten Stimmung geworden. Daran können und werden wir uns halten. Dann wird’s schon schief gehen!


Tilman Krause, 1959 in Kiel geboren, Studium der Germanistik, Geschichte und Romanistik in Tübingen. 1980/81 erster von vielen Frankreich-Aufenthalten, beginnend mit einer Stelle als Deutschlehrer am Pariser Lycée Henri IV. 1981 Fortsetzung des Studiums an der Berliner FU. Dort selbst 1991 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den Publizisten Friedrich Sieburg, den ersten 'Literaturpapst' der Bundesrepublik. Seitdem diverse Lehraufträge an der FU, der Humboldt-Universität, an der Universität Hildesheim und am Leipziger Literatur-Institut. Sein journalistischer Werdegang führte Tilman Krause über die "FAZ" (1990-1994) und den "Tagesspiegel" (1994-1998) zu seinem jetzigen Posten als leitendem Literatur-Redakteur bei der "Welt".