Der türkische Reformer
Mustafa Kemal wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Als Soldat macht er in der Armee des Osmanischen Reichs Karriere. Als Atatürk ging er in die Geschichte ein. Klaus Kreiser zeichnet in seiner Atatürk-Biographie das Leben des Begründers der Türkei nach.
Im Oktober 1933 gratulierte der Präsident der türkischen Republik, Mustafa Kemal, genannt Atatürk, seinen Landeskindern zum zehnten Jahrestag der Republik.
Atatürk: "In kurzer Zeit haben wir Großes erreicht. Das Größte und Grundlegendste jedoch ist die Republik Türkei. Aber wir müssen noch Vieles und Großes in Angriff nehmen. Wir werden unser Land auf ein Niveau bringen, das dem moderner Zivilisationen entspricht."
Atatürk auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Innerhalb von zehn Jahren war das Kalifat hinweggefegt, der Schleierzwang abgeschafft, die ethnischen Minderheiten des Landes unter die Herrschaft des türkischen Nationalstaats gezwungen. Nun galten das Zivilrecht, die Grundschulpflicht an staatlichen Schulen und die lateinische Schrift. 1934 erhielten die Frauen das Wahlrecht. - Eine beispiellose Leistung. Ein beispielloser Werdegang.
Biograph Klaus Kreiser zeichnet diesen Werdegang auf der Basis zahlreicher, bislang noch nicht auf Deutsch erschienener Quellen nach.
Die Welt, in die Mustafa Kemal anno 1881 hineingeboren wurde, war das Osmanische Reich - ein riesiger Vielvölkerstaat, mit einem bankrotten Sultan und Kalifen an der Spitze, dessen Macht bedrohlich wackelte. Die Balkankriege kündigten sich an, das Reich war dabei, auseinanderzufliegen. In dieser Zeit wuchs Mustafa Kemal in bescheidenen Verhältnissen auf.
Kreiser: "Der Vater war in der Zollverwaltung, konnte aber davon alleine nicht leben, und hat sich mit einem Brennstoffhandel durchgeschlagen, die Mutter konnte nicht lesen und schreiben, aber das war eher normal in dieser Schicht."
Knapp beleuchtet der Autor die Umbrüche, die Mustafa Kemals Kindheit bestimmten: Den frühen Tod des Vaters, die Internatszeit auf der Kadettenanstalt, den Abschluss als Leutnant an der Militärakademie in Istanbul. Klaus Kreiser beschreibt Mustafa Kemal als einen bildungshungrigen jungen Mann, der sich für osmanische Dichtkunst genauso interessierte wie für Romane der französischen Moderne. Und als jemanden, der bereits in jungen Jahren dem Islam skeptisch gegenüberstand.
Kreiser: "Er war ein Lerner und ein Leser von Anfang an, fasziniert von den Schriften über den biologischen Materialismus und andere Dinge. Er hat das osmanische System engstens, vor allem den regierenden Sultan, mit den von ihm so gesehenen Defiziten des Islam verbunden; auf Deutsch: Er glaubte nicht, dass man mit dem Islam einen Staat machen und verteidigen kann."
Klaus Kreiser belegt, dass Mustafa Kemal bereits als junger Soldat mit seinem Staat etwas vorhatte. So gestand er zum Beispiel 1914 in einem Brief an eine Freundin, dass er große Ambitionen habe, die aber weder hohe Positionen noch Reichtum zum Ziel hätten.
"Ich suche die Verwirklichung dieser Ambitionen im Erfolg einer großen Idee, die mir die lebendige Befriedigung verleiht, meine Pflicht würdig erfüllt zu haben, indem ich meinem Vaterland nützte."
Doch die Chance für seine große Idee kam nach dem Ersten Weltkrieg. Der Krieg hatte dem Osmanischen Reich nicht nur den Verlust der Balkanstaaten beschert. Nach dem Willen der Siegermächte sollten zudem große Gebiete des osmanischen Reststaates den Griechen zufallen.
Kreiser: "Genau das hat er abgelehnt und hat es verstanden, in relativ kurzer Zeit alle Kräfte zu mobilisieren, die Anatolien noch bot, das war eine historische Leistung."
Als Oberbefehlshaber einer Befreiungsarmee besiegten Mustafa Kemal und seine Gefährten die griechischen Truppen, die ins anatolische Kernland eingedrungen waren. Nun konnte eine neue Türkei mit den Siegermächten des Ersten Weltkrieges erneut verhandeln und ihre Grenzen vertraglich sichern. Zielstrebig und machtbewusst setzte sich Mustafa Kemal an die Spitze der Republik. Vom neuen Regierungssitz Ankara aus begann er, seine große Idee, von der er einst gesprochen hatte, umzusetzen: Die Reform der Türkei nach westlichem Vorbild.
Biograph Klaus Kreiser schildert keine Atatürk-Anekdoten, -Legenden oder Klatsch. Strikt hält er sich an belegte Zeugnisse aus dem Leben Mustafa Kemals. Auch Atatürks Fehler werden nicht verschwiegen. Den Leser erwartet also kein idealistisches Heldenstück. Das ist zugleich die Stärke und die Schwäche des Buches. Denn der Autor schreibt über diesen Menschen fast ohne Gefühl, nüchtern wie über einen Forschungsgegenstand. Dadurch fehlt dem Buch eine innere Struktur der Empathie, die das Interesse an sich binden kann und die Detailfülle des historischen Materials zusammenhält. Oft fehlen auch sprachliche, historische und geografische Erklärungen. Dennoch ist diese Biographie lesenswert, weil sie einen Eindruck davon vermittelt, mit welcher Wucht die Ideen Atatürks in die osmanische Gesellschaft eingeschlagen sind - und warum zahlreiche Türken meinen, dass der Respekt vor Mustafa Kemal Atatürk der Schlüssel zum Verständnis ihres Landes ist.
Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie
C. H. Beck Verlag, München 2008
Rezensiert von Dorothea Jung
Atatürk: "In kurzer Zeit haben wir Großes erreicht. Das Größte und Grundlegendste jedoch ist die Republik Türkei. Aber wir müssen noch Vieles und Großes in Angriff nehmen. Wir werden unser Land auf ein Niveau bringen, das dem moderner Zivilisationen entspricht."
Atatürk auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Innerhalb von zehn Jahren war das Kalifat hinweggefegt, der Schleierzwang abgeschafft, die ethnischen Minderheiten des Landes unter die Herrschaft des türkischen Nationalstaats gezwungen. Nun galten das Zivilrecht, die Grundschulpflicht an staatlichen Schulen und die lateinische Schrift. 1934 erhielten die Frauen das Wahlrecht. - Eine beispiellose Leistung. Ein beispielloser Werdegang.
Biograph Klaus Kreiser zeichnet diesen Werdegang auf der Basis zahlreicher, bislang noch nicht auf Deutsch erschienener Quellen nach.
Die Welt, in die Mustafa Kemal anno 1881 hineingeboren wurde, war das Osmanische Reich - ein riesiger Vielvölkerstaat, mit einem bankrotten Sultan und Kalifen an der Spitze, dessen Macht bedrohlich wackelte. Die Balkankriege kündigten sich an, das Reich war dabei, auseinanderzufliegen. In dieser Zeit wuchs Mustafa Kemal in bescheidenen Verhältnissen auf.
Kreiser: "Der Vater war in der Zollverwaltung, konnte aber davon alleine nicht leben, und hat sich mit einem Brennstoffhandel durchgeschlagen, die Mutter konnte nicht lesen und schreiben, aber das war eher normal in dieser Schicht."
Knapp beleuchtet der Autor die Umbrüche, die Mustafa Kemals Kindheit bestimmten: Den frühen Tod des Vaters, die Internatszeit auf der Kadettenanstalt, den Abschluss als Leutnant an der Militärakademie in Istanbul. Klaus Kreiser beschreibt Mustafa Kemal als einen bildungshungrigen jungen Mann, der sich für osmanische Dichtkunst genauso interessierte wie für Romane der französischen Moderne. Und als jemanden, der bereits in jungen Jahren dem Islam skeptisch gegenüberstand.
Kreiser: "Er war ein Lerner und ein Leser von Anfang an, fasziniert von den Schriften über den biologischen Materialismus und andere Dinge. Er hat das osmanische System engstens, vor allem den regierenden Sultan, mit den von ihm so gesehenen Defiziten des Islam verbunden; auf Deutsch: Er glaubte nicht, dass man mit dem Islam einen Staat machen und verteidigen kann."
Klaus Kreiser belegt, dass Mustafa Kemal bereits als junger Soldat mit seinem Staat etwas vorhatte. So gestand er zum Beispiel 1914 in einem Brief an eine Freundin, dass er große Ambitionen habe, die aber weder hohe Positionen noch Reichtum zum Ziel hätten.
"Ich suche die Verwirklichung dieser Ambitionen im Erfolg einer großen Idee, die mir die lebendige Befriedigung verleiht, meine Pflicht würdig erfüllt zu haben, indem ich meinem Vaterland nützte."
Doch die Chance für seine große Idee kam nach dem Ersten Weltkrieg. Der Krieg hatte dem Osmanischen Reich nicht nur den Verlust der Balkanstaaten beschert. Nach dem Willen der Siegermächte sollten zudem große Gebiete des osmanischen Reststaates den Griechen zufallen.
Kreiser: "Genau das hat er abgelehnt und hat es verstanden, in relativ kurzer Zeit alle Kräfte zu mobilisieren, die Anatolien noch bot, das war eine historische Leistung."
Als Oberbefehlshaber einer Befreiungsarmee besiegten Mustafa Kemal und seine Gefährten die griechischen Truppen, die ins anatolische Kernland eingedrungen waren. Nun konnte eine neue Türkei mit den Siegermächten des Ersten Weltkrieges erneut verhandeln und ihre Grenzen vertraglich sichern. Zielstrebig und machtbewusst setzte sich Mustafa Kemal an die Spitze der Republik. Vom neuen Regierungssitz Ankara aus begann er, seine große Idee, von der er einst gesprochen hatte, umzusetzen: Die Reform der Türkei nach westlichem Vorbild.
Biograph Klaus Kreiser schildert keine Atatürk-Anekdoten, -Legenden oder Klatsch. Strikt hält er sich an belegte Zeugnisse aus dem Leben Mustafa Kemals. Auch Atatürks Fehler werden nicht verschwiegen. Den Leser erwartet also kein idealistisches Heldenstück. Das ist zugleich die Stärke und die Schwäche des Buches. Denn der Autor schreibt über diesen Menschen fast ohne Gefühl, nüchtern wie über einen Forschungsgegenstand. Dadurch fehlt dem Buch eine innere Struktur der Empathie, die das Interesse an sich binden kann und die Detailfülle des historischen Materials zusammenhält. Oft fehlen auch sprachliche, historische und geografische Erklärungen. Dennoch ist diese Biographie lesenswert, weil sie einen Eindruck davon vermittelt, mit welcher Wucht die Ideen Atatürks in die osmanische Gesellschaft eingeschlagen sind - und warum zahlreiche Türken meinen, dass der Respekt vor Mustafa Kemal Atatürk der Schlüssel zum Verständnis ihres Landes ist.
Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie
C. H. Beck Verlag, München 2008
Rezensiert von Dorothea Jung

Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie© C. H. Beck Verlag