Der Umgang mit dem Tod nach Fukushima

Von Christian Röther |
Eine Dokumentation beschreibt die spirituellen Folgen der Dreifachkatastrophe in Japan und erklärt, warum die Menschen nach dem Tsunami zuerst nach ihren Hausaltaren in den Trümmern suchten. Damit bietet sie einen Blickwinkel, der bisher untergegangen ist.
Am 11. März 2011 befindet sich der Religionswissenschaftler Tim Graf in Tokio. Hier will er einen Dokumentarfilm über Zen-Buddhismus vorbereiten. Doch die Tsunami-Katastrophe wirft seine Pläne über den Haufen. Stattdessen entschließen sich Tim Graf und der Filmemacher Jakob Montrasio, einen Film über die Antworten des japanischen Buddhismus auf Erdbeben, Tsunami und Nuklearunfall zu drehen.

"Ich vermute, dass sich das Erdbeben rückblickend als ein Wendepunkt in der japanischen Religionsgeschichte erweisen wird. Es könnte die Welt der Religion, so wie wir sie kennen, komplett verändern. Es ist schwer in Worte zu fassen, aber ich denke, die gesamte Küstenregion hat sich in einen religiösen Ort verwandelt. Eine heilige Stätte sozusagen."

...erklärt Kimura Toshiaki, Religionswissenschaftler an der Universität Tohoku in Sendai, der größten vom Tsunami betroffenen Stadt. Kimura ist einer der wenigen Experten, die in "Souls of Zen" zu Wort kommen. Das Filmteam lässt hauptsächlich Betroffene der Katastrophe und vor allem buddhistische Priester sprechen.

Japan ist eine multireligiöse Gesellschaft. Die meisten Menschen gehen Praktiken unterschiedlicher Religionen nach. Sie feiern ihre Hochzeiten häufig christlich und besuchen vor allem an Neujahr Shinto-Schreine. Shinto ist so etwas wie die japanischen Nationalreligion. Beim Thema Tod spielt hingegen traditionell der Buddhismus eine wichtige Rolle. 90 Prozent der Bestattungen in Japan werden nach buddhistischem Ritus vollzogen, erklärt der Religionswissenschaftler Tim Graf im Interview.

"Der Buddhismus wird im Westen häufig als eine Religion verstanden, die ein Loslassen thematisiert. Eine Religion, in der es darum geht, von weltlichen Beziehungen und Begierden Abstand zu nehmen. In Japan hingegen spielt die Hauptrolle im Buddhismus im Alltag der Umgang mit dem Tod. Haupteinnahmequelle und Hauptaufgabe der Mehrzahl aller buddhistischen Priester besteht darin, Toten- und Ahnengedenkrituale durchzuführen. Es geht also nicht nur um eine Loslösung, sondern um eine Stärkung der Verbindung zu den familiären Vorfahren."

Nach dem Tsunami gehören buddhistische Priester zu den Ersten, die Spenden für die Betroffenen sammeln. Tim Graf spricht in diesem Zusammenhang von der größten religiösen Mobilisierung in der Nachkriegsgeschichte Japans. Doch die Priester bemühen sich nicht nur um den Ausgleich materieller Verluste. Auch Gegenstände von großer spiritueller Bedeutung gehen durch den Tsunami verloren. Die buddhistische Priesterin Takahashi Issei berichtet dem Filmteam:

"Die ersten Dinge, nach denen die Leute in den Trümmern suchten, waren ihr Hausaltar und die Ahnengedenktafeln und ihre Familienfotos. Viele suchen immer noch verzweifelt nach diesen Gegenständen. Sie mögen zwar noch ein Grab haben, der Hausaltar aber bildete die Basis für die spirituelle Unterstützung im Alltag und den Schutz der Familie. Nun haben sie nicht nur ihr Haus verloren, sondern auch das, was ihnen am meisten bedeutet."

Tim Graf erklärt die Bedeutung dieser Hausaltäre:

"Einen buddhistischen Hausaltar kann man sich vorstellen als einen Ort der Begegnung mit den familiären Vorfahren und einen Ort der Interaktion mit den Ahnen, die den Haushalt im Verständnis vieler, vor allem älterer Japaner, beschützen."

Dieser tausendfache Verlust steht sinnbildlich für die religiösen Folgen der Flutkatastrophe: Der Schutz durch die Ahnen wurde davongerissen, jetzt wünschen ihn sich viele so schnell wie möglich zurück. Deshalb spenden einige buddhistische Priester betroffenen Familien nach dem Tsunami auch neue Hausaltäre. Doch das kann nicht alle Probleme lösen. Familiengräber wurden weggespült, Leichen sind unauffindbar, Särge nicht ausreichend vorhanden. Tim Graf erläutert:

"Der Umgang mit dem Tod im Katastrophengebiet erwies sich als besonders schwierig, auch für diejenigen, die Hilfe anbieten wollten und aus anderen Landesteilen anreisten, denn die Grundversorgung war gekappt. Krematorien beispielsweise konnten nicht weiter mit Schweröl beliefert werden. Die Toten konnten auch nicht bestattet werden, weil Friedhöfe und buddhistische Tempel vom Tsunami zerstört wurden. Ein Abschiednehmen und ein ritueller Umgang mit dem Tod und die Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse wurde damit unmöglich gemacht."

Von dem Tsunami sind vor allem ländliche Gebiete betroffen, in denen die Menschen noch mehr an Traditionen festhalten als in japanischen Großstädten. Doch nicht nur die Flutwelle, auch die Reaktorkatastrophe in Fukushima hat solche Folgen. Eine ältere Frau berichtet:

"Um Ihnen die Wahrheit zu sagen – wir haben ein Familiengrab in Fukushima. Da ich alleinstehend bin, sollte ich eigentlich einmal im Grab meiner Eltern beerdigt werden. Aber wie soll das jetzt möglich sein, angesichts des Erdbebens und des Strahlenproblems?"

Auch zwei Jahre nach der Dreifachkatastrophe besteht rund um das Kraftwerk noch ein Sperrgebiet mit einem Radius vom 20 Kilometern. Für das Filmteam war die Arbeit im zerstörten Gebiet eine prägende Erfahrung, erzählt Regisseur Jakob Montrasio:

"Wir sind an die Küste gefahren, wo das Katastrophengebiet anfing, und sind dann den ganzen Tag stundenlang die Küste entlang gefahren und sind nicht mehr aus dem Katastrophengebiet raus gekommen. Also man wird sich über das Ausmaß der Katastrophe erst bewusst, wenn man vor Ort die Küste abfährt. Weil es ist wahnsinnig lang alles zerstört."

Wie der japanische Buddhismus mit dieser Zerstörung umgeht, zeigt der Film "Souls of Zen" in 90 Minuten eindrucksvoll. Dabei bedient sich die Dokumentation jedoch gelegentlich einer akademischen Sprache sowie buddhistischer Begriffe, die für Laien nicht ganz einfach zu verstehen sind. Dennoch ist "Souls of Zen" informativ und sehenswert – und das nicht nur für Menschen, die sich für Japan und Buddhismus interessieren. Der Film zeigt die Tsunami-Katastrophe aus einem Blickwinkel, der in der Fukushima-Berichterstattung in Deutschland mit ihrem Fokus auf der Atomenergie bisher untergegangen ist.
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