Der verewigte Konflikt

Heiko Flottau im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 10.03.2009
Die Mauer, mit der sich Israel vor palästinensischen Selbstmordattentätern schützen will, ist 700 Kilometer lang. Im Falle von Kalkilia ist eine ganze Stadt davon umgeben. Heiko Flottau kritisiert, dass der Grenzzaun tief in palästinensisches Gebiet eingreife. "Was dort jetzt besteht, ist nicht lebensfähig", sagt Flottau, dessen Buch "Die eiserne Mauer" jetzt erscheint.
Liane von Billerbeck: Sie ist mehr als 700 Kilometer lang und streckenweise bis zu acht Meter aus hohem Beton gebaut: die gigantische Sperranlage, die die israelische Regierung seit 2002 bauen ließ. Vor Terroranschlägen durch palästinensische Selbstmordattentäter sollte sie schützen, doch sie schneidet auch mitten hinein in palästinensisches Gebiet und wird benutzt, um Bewegungsfreiheit einzuschränken und Land zu annektieren. Der das sagt, ist Heiko Flottau, langjähriger Nahost-Korrespondent für die "Süddeutsche" und die "Baseler Zeitung". Er hat über diese Mauer ein Buch geschrieben und es "Die eiserne Mauer" genannt. Mit Heiko Flottau sind wir jetzt in unserem Kairoer Studio verbunden. Einen schönen guten Morgen, ich grüße Sie!

Heiko Flottau: Ja, guten Morgen nach Berlin!

von Billerbeck: Beim Begriff "eiserne Mauer", da denkt man hierzulande sogleich an den "eisernen Vorhang", der jahrzehntelang die Blöcke in Ost und West teilte. Die Mauer zwischen Palästinensern und Israelis, die ist zwar sehr robust, aber eben doch eher aus Draht und Beton denn aus Eisen. Warum trotzdem dieser Name?

Flottau: Ja, das geht zurück auf einen Aufsatz aus dem Jahre 1923, geschrieben von einem Zionisten, der aus Odessa eingewandert ist, Vladimir Jabotinsky. Er hat im Jahre 1923 einen Aufsatz geschrieben, und der Titel lautet: "Die eiserne Mauer". Und seine These war, wir, die einwandernden Juden, wir, die Zionisten, wollen hier in Palästina, in einem Land, das anderen gehört, einen Staat gründen. Kein eingeborenes Volk, wie er sagt, wird sich damit zufriedengeben, dass Einwandernde andere Einwanderer in das Land nehmen wollen. Also müssen wir so stark sein, dass unsere Kolonisierung weitergehen kann. Wenn wir nicht so stark sind, haben wir nur die Wahl, unser koloniales Projekt aufzugeben. Also müssen wir stark sein, und wir müssen so stark sein, als ob zwischen uns – uns den Zionisten – und den palästinensischen Arabern eine eiserne Mauer bestünde. Wir müssen eine eiserne Mauer bauen. Nun meinte er nicht, dass man einen 700 Kilometer langen Grenzzaun baut, sondern er meinte, wir, die Zionisten, die einwandernden Juden, müssen so stark sein, dass jeder Widerstand gegen unsere Kolonisierung an dieser eisernen Mauer abprallt.

von Billerbeck: Nun umfasst ja eine Mauer, umreißt ja meist ein fest umrissenes Gebiet. Nun kennen wir aber alle die Karten von Israel, und da ist das mit den Grenzen nicht so einfach, denn viele Gebiete auf diesen Karten, die sind immer schraffiert. Deshalb die Frage, die ganz schlicht klingt: In welchen Grenzen liegt Israel?

Flottau: Ja, das ist eben die große Frage. Israel hat eigentlich seine Grenzen noch nicht definiert, international zumindest inoffiziell anerkannt sind die Waffenstillstandsgrenzen vom Mai 1949. Und natürlich hat Israel das Recht, sich durch eine Mauer zu schützen, aber dann müsste Israel diese Mauer auch auf dieser anerkannten Grenze von 1949 bauen. Das tut es natürlich nicht. Die Mauer greift tief, tief in palästinensisches Gebiet ein, sie umschließt viele Siedlungen, die illegal sind nach internationalem Völkerrecht. Sie nimmt Palästinensern die Bewegungsfreiheit, sie beschlagnahmt wertvolle Wasserressourcen, und deshalb ist dieses Projekt natürlich schon von diesem Standpunkt aus sehr, sehr zweifelhaft. Dann gibt es natürlich den politischen Aspekt. Wenn man sich wirklich um eine Friedenslösung bemüht hätte, wenn der Osloer Friedensprozess, der 1993 begann, wirklich intensiv fortgesetzt worden wäre, dann wäre eine Mauer überflüssig.

von Billerbeck: Nun ist der Begriff vom Existenzrecht Israels eine Art festgefügter Begriff geworden, und die Forderung, die ist geradezu in Deutschland zu einer routinemäßigen Übung geworden, das kann man auch bei Ihnen noch mal nachlesen. Aber über welches Israel in welchen Grenzen sprechen wir eigentlich, wir Deutschen, wenn wir davon sprechen, dass das Existenzrecht Israels quasi die Grundvoraussetzung für alle Verhandlungen ist?

Flottau: Ja, das ist eben die große Frage. Wenn Sie mich persönlich fragen, sage ich, Israel in den Waffenstillstandsgrenzen von 1949 unbestritten. Und das sagen auch alle arabischen Staaten, die 2002 einen großen Friedensplan vorgelegt haben. Und die haben gesagt, zieht euch auf die Grenzen von 1949 zurück, wir geben euch diplomatische Anerkennung, wir werden mit euch kooperieren und dann ist das Problem gelöst. Aber wenn wir in Deutschland sagen, dass Existenzrecht Israels, dann sagen wir nie, welches Israel wir meinen. Meinen wir schon die Siedlungen, die auf besetztem Gebiet gebaut worden sind, meinen wir Israel mit der Mauer, meinen wir Israel, das in dem Westjordanland etwa 560 Kontrollposten gebaut hat, die die Bewegungsfreiheit der Palästinenser behindern und die eine neue Intifada verhindern sollen? Welches Israel meinen wir? Das müsste man mal ganz klar sagen.

von Billerbeck: Nun stellt sich ja die Frage, ob das Argument ja gezogen hat, denn eines der Argumente für den Bau der Mauer lautete ja, wir wollen uns vor palästinensischen Selbstmordattentätern schützen. Hat die Mauer das Leben in Israel denn sicherer gemacht, also sowohl kurzfristig als auch langfristig?

Flottau: Also kurzfristig ganz bestimmt. Es werden ja in dem Buch auch Stellungnahmen von Israelis zitiert. Die Selbstmordattentate sind absolut zurückgegangen, und das ist auch gut so. Aber die Mauer wäre überflüssig gewesen, wenn man schon nach 1993 den Friedensprozess fortgesetzt hätte, dann wäre die Hamas niemals so stark geworden. Ich habe wirklich, wann immer ich in Palästina oder in Israel war, bin ich in jedes Flüchtlingslager gegangen, was ich sehen konnte, und habe die Leute gefragt: Was wollt ihr? Und die Antwort war: Wir wollen in unserem kleinen Staat in Frieden endlich ein bescheidenes Dasein mit bescheidenem Wohlstand führen. Wir wollen keinen Krieg, wir wollen keine Hamas. Aber es ist halt anders gekommen. Der Friedensprozess wurde nicht fortgesetzt, die Siedlungen wurden weiter gebaut und Hamas ist stark geworden. Das hätte man verhindern können.

von Billerbeck: Wie einschneidend im Wortsinn ist denn diese Mauer für die Palästinenser?

Flottau: Ja, also gehen Sie nach Kalkilia, eine Stadt nördlich von Ramallah, die ist von einer Mauer total umgeben, und Sie können nach Kalkilia hinein, nur indem sie durch einen Tunnel fahren. Und der Tunnel wird oft blockiert von israelischem Militär. Man sagt aus Sicherheitsgründen, aber eine Stadt, die vollkommen ummauert ist, da kann eigentlich kein Palästinenser jetzt noch Attentate vollbringen. Um Jerusalem herum sind viele Gemeinden einfach eingeschnitten, abgeschnitten von Jerusalem worden. Die Leute können sich nicht mehr bewegen, sie müssen wählen, ob sie in Jerusalem wollen oder in ihrem Dorf, und wenn sie einmal die Wahl gemacht haben, können sie nicht mehr zurück. Also ist eine physische und psychische Einschränkung der Lebensqualität, die eigentlich nicht hinzunehmen ist.

von Billerbeck: Sie haben es schon erwähnt, Sie sind ja in mehreren Perioden immer wieder als Nahostkorrespondent in der Gegend gewesen, leben jetzt auch da. Und wenn man sich zurückerinnert an die Zeit 1996, nach den Abkommen von Madrid und Oslo, da gab es ja Hoffnung. Wie hat sich das – das schreiben Sie auch selber, dass Sie damals Hoffnung hatten, dass es tatsächlich zu einer Zweistaatenlösung kommt – wie hat sich das bis heute verändert, wie viel Hoffnung ist da noch geblieben?

Flottau: Es ist keine Hoffnung geblieben jetzt, weil auf diesem Territorium des Westjordanlandes, das zerschnitten, zerfurcht und zerrissen ist von Siedlungen, von Siedlerstraßen, auf denen nur die Israelis fahren dürfen, das zerschnitten ist von 560 Kontrollposten, da kann kein Staat gegründet werden. Das ist einfach physisch unmöglich. Und deshalb muss, wie viele Israelis sagen – zum Beispiel Avraham Burg, der ehemalige Knesset-Sprecher, der auch in dem Buch zitiert wird –, das Westjordanland muss geräumt werden, die Siedlungen müssen abgebaut werden und man muss einen Modus finden, dass es wirklich einen lebensfähigen Staat gibt. Wie Tony Blair immer sagt, wie Angela Merkel immer sagt: lebensfähig. Was dort jetzt besteht, ist nicht lebensfähig.

von Billerbeck: Seit 1996, seit dieser Zeit, als es noch Hoffnung gab, da hat sich ja auch etwas anderes verändert, nämlich es gibt ein Problem, dass die Mauer zwar nicht löst, aber zumindest verschiebt, nämlich ein demografisches Problem. So habe ich es bei Ihnen im Buch gelesen, nämlich dass spätestens 2020 nach jetzigen Prognosen die Palästinenser im historischen Palästina die Mehrheit haben werden. Was dann, wenn diese Mehrheit nach Gleichberechtigung ruft und allgemeine freie Wahlen verlangt?

Flottau: Ja, das ist ja genau die Frage. Ariel Sharon, in seiner Zeit als Ministerpräsident, wollte eine Million russische Juden ansiedeln, um dieses demografische Problem im Sinne Israels zu lösen. Das ist nicht gelungen. Die Geburtenrate, besonders in Gaza, aber auch im Westjordanland, ist sehr viel höher. Im Jahre 2020, vielleicht auch schon vorher, vielleicht ein bisschen später, haben die Palästinenser im historischen Palästina die Bevölkerungsmehrheit. Und dann werden Sie natürlich sagen, das ist unser Land, ihr seid hierhergekommen, ohne uns zu fragen, wir wollen jetzt freie Wahlen und wollen vielleicht einen binationalen Staat gründen. Das aber wird nicht funktionieren, nachdem so viel Leid auf beiden Seiten aufgehäuft wurde und nachdem so viel Hass aufgebaut wurde. Ich glaube, dieser Konflikt wird sich irgendwie noch verewigen.

von Billerbeck: Heiko Flottau war mein Gesprächspartner. Der langjährige Nahostkorrespondent der "Süddeutschen" und "Baseler Zeitung". Ich danke Ihnen.

Flottau: Bitte sehr!

von Billerbeck: Sein Buch "Die eiserne Mauer – Palästinenser und Israels in einem zerrissenen Land" erscheint diese Woche im Christoph Links Verlag, es hat 222 Seiten und kostet 16,90 Euro. Die Angaben darüber finden Sie natürlich auch auf unserer Internetseite unter dradio.de.