Der vergessene Reformator

Von Eva Wolk |
Reformation ist gleich Martin Luther - so die verkürzte Formel, die in vielen Köpfen steckt. Aber natürlich hat er das Riesenwerk nicht allein geschafft, sondern hatte viele Mitstreiter, darunter ein paar große, von denen so mancher heute im Schatten des Wittenbergers steht und kaum mehr erinnert wird. Johannes Bugenhagen zum Beispiel war einer, der schon vor Luthers Auftritt ähnliche Gedanken hatte wie der Wittenberger, und den dieser später gar den "Bischof der Reformation" nannte.
"Was soll ich euch viel sagen? Die ganze Welt ist verblendet und in die äußerste Finsternis verstrickt. Dieser einzige Mann sieht allein die rechte Wahrheit."

Mit solchen Absolutismen war einer wie Johannes Bugenhagen sicher nicht verschwenderisch, aber im Fall von Martin Luther war das etwas Anderes.
Seit 1504 lebte Bugenhagen, geboren 1485 in Wollin als Sohn eines Ratsherren, im pommerischen Treptow an der Rega. Er begann seine Laufbahn als Rektor an der Lateinschule. 1509 ließ er sich zum Priester weihen, und 1517 trat er die Stelle des Lektors für Bibelauslegung an der noch in Gründung stehenden Ordensschule des Klosters Belbuck an.
Als dann 1520 das "lutherische Lärmen" – wie der Urprotestant selbst es nannte – auch Treptow erreicht hatte, und Bugenhagen Luthers Schrift "Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" las, war er zwar erstmal entsetzt: Diese Schrift sei die gräulichste Anfeindung der Kirche und ihr Verfasser der ärgste und schändlichste Ketzer, den es in der Kirche Christi jemals gegeben habe. Doch der Boden für eine Kehrtwende in Bugenhagens Denken war längst bereitet, denn der spätere Reformator war ein "Bibelhumanist". In den Thesen der Evangelischen Landeskirche Greifswald zum 500. Geburtstag des Reformators im Jahr 1985 steht zu lesen:

"Die pädagogische Arbeit Bugenhagens geschah im Geiste des Humanismus, jener fruchtbaren geistesgeschichtlichen Kraft, die zum Wegbereiter und zeitweiligen Bundesgenossen der der Reformation wurde. Bugenhagen bemühte sich, die junge Generation Jugend zu einer Lebenshaltung zu führen, in der die Erkenntnis der Welt und die Erkenntnis der Geschichte mit dem Bewusstsein der Verantwortung vor Gott verbunden sind. Dadurch brach er manche mittelalterliche Enge auf und eröffnete vielen, die am Althergebrachten zu zweifeln begannen, neue Wertvorstellungen."

"Bugenhagen hatte sich sehr früh humanistischen Ideen angeschlossen …"

… bestätigt Tim Lorentzen, Dozent an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Uni München und Bugenhagen-Experte …

"… Er war wahrscheinlich Audodidakt: Er hatte nicht humanistisch studiert, sondern hatte sich über Briefwechsel informiert, wen man lesen könnte, und als Tipp hatte er bekommen: Erasmus. Und wir sehen in seinen Schriften immer wieder, in den Frühschriften und Predigten, wie stark er doch von Erasmus von Rotterdam geprägt ist. Bugenhagens reformatorische Wende wird sich kaum in einer Nacht vollzogen haben. Vielmehr wissen wir heute, dass er in dieser Zeit an einem Matthäus-Kommentar gearbeitet hat, und im Lauf dieser Arbeit sehen wir eine zunehmende Hinwendung zu reformatorischen Gedanken, die er aus Luthers Schrift "Von der Babylonischen Gefangenschaft" entnommen hatte. Und an einem Punkt erkennen wir dann einen Durchbruch. Da steht: "Von Ablass gab mir Christus. Und ich sollte zulassen, dass es noch andere Ablässe gibt, für die ich bezahlen muss?"

1521 siedelte Bugenhagen nach Wittenberg um – dort begann er seine Bibelexegese, zunächst in kleinem Rahmen in seinem Zimmer im Haus Melanchthons, später in Form öffentlicher Vorlesungen an der Wittenberger Universität, die auf Drängen Luthers auch in gedruckter Form erschienen. "Dr. Pommer", wie ihn die Wittenberger Reformatoren riefen, hatte erkannt, dass Luthers Ziele zu seinem eigenen Verständnis von Christentum und Bibel passten: Die Befreiung des Glaubens aus den Fesseln von kirchlichen Normen und religiösen Leistungen und die Hinwendung zum ursprünglichen Zeugnis der Bibel. Tim Lorentzen:

"Bugenhagen war schon vor dieser Hinwendung kritisch, was die Seelenmessen und andere religiöse Werke betraf. Es gibt eine sehr eindrucksvolle Predigt von ihm aus dem Kloster Belbuck, in der er sagt: Solches Geld, das man in die Seelenmessen steckt, soll lieber den Armen gegeben werden. Und das ist vor der Reformation."

1523 von der Gemeinde und dem Rat zum Stadtpfarrer von Wittenberg gewählt, wollte Bugenhagen die Wahrheit der Evangelien vermitteln und dabei den Gläubigen einen starken Halt für ihr Leben und Sterben geben – sozusagen das Bibel-Wort in den Lebensalltag transzendieren. Tim Lorentzen belegt in seinem Buch "Johannes Bogenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge", wie weit der Wittenberger Superintendent es dabei gebracht hat, vor allem durch seine Kirchenordnungen.

"In der Reformationszeit war öffent¬liche Fürsorge selbstverständlich Gegenstand der Kirchenordnungen, denn dies war der Ort, an dem die Angelegenheiten der evangelischen Gemeinwesen für die Zukunft neu vereinbart wurden. Als eine der pro¬minentesten Gestalten auf diesem Gebiet steht Bugenhagen für jenen Wandlungsprozeß, in dessen Verlauf die vielfältigen kirchlichen Nächstendienste durch obrigkeitlich verantwortete Kirchenordnungen eine Sache der ganzen Öffentlichkeit wurden."

Bugenhagen formulierte keine lateinischen, trocken-langweiligen Regelwerke zur Standardisierung der Liturgie. Vielmehr schuf er dem Lebens-Alltag zugewandte Ordnungen nicht nur des Gottesdienstes, sondern auch des Soziallebens – auf niederdeutsch. Klaus Reblin, ehemaliger Hauptpastor der Hamburger St Katharinen-Kirche, über Bugenhagens "Christliche Ordnung der ehrbaren Stadt Hamburg" von 1529:

"Im Grunde ist da das gesamte soziale Leben beschrieben, bis ins Schulwesen hinein: Die Lehrpläne, Pausenpläne, Ferienpläne, die Besoldung und die Unterbringung der Lehrer – aber auch Anweisungen bringt über das Gesundheitswesen: Wie die Ärzte bezahlt werden sollen, wie man mit den Hebammen und den sogenannten "Bademumen", die sich also um die alten Leute kümmern mussten, die sie pflegen und waschen mussten, deswegen "Bademumen"… Und die Reaktion war durchaus positiv: Als der Bugenhagen nach Hamburg kam 1528, wurde er in der Stadt empfangen mit einem großen Begrüßungsgeschenk des Senats, des Rats der Stadt, bestehend aus 150 Liter Wein, 200 Liter Bier und einem großen Mastochsen."

Viele weitere reformatorische Kirchen in Norddeutschland und im Doppelreich Dänemark-Norwegen ließen sich neue Kirchenordnungen geben vom Pomeranus, wie er sich selbst nannte. Seine Art und Weise, das kirchliche und gesellschaftliche Leben auf eine ganz neue Grundlage zu stellen, fand große Resonanz. Tim Lorentzen:

"Wie in einer gedruckten Predigt gewissermaßen wird aus dem Evangelium heraus jeder Bereich kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens geregelt – aber in einer ganz offenen Weise. Das ist charakteristisch für Bugenhagen: Es heißt immer wieder, man kann es so oder anders machen; wichtig ist, dass das Evangelium als Maßstab bestehen bleibt."

Im Mittelpunkt steht stets der Gottesdienst nach reformatorischem Verständnis:

"Falscher Gottesdienst richtet sich auf die luxuriösen, kostspieligen Bilder im Kirchenraum, wahrer Gottesdienst richtet sich auf die Bilder Christi: Das sind die Armen. Christus sagt im Matthäus-Evangelium: Was ihr einem von diesen meinen Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan. Und daraus kommt die Vorstellung, dass der Arme, Kranke, Fremde, Nackte eigentlich Christus repräsentiert. Das ist der wahre Gottesdienst, und diese Unterscheidung können wir auf andren Feldern des täglichen Lebens der Christenmenschen ebenso sehen …"

… zum Beispiel bei der Armenfürsorge oder im Schulwesen. Ganz im Sinne Luthers wollte Bugenhagen Elementarbildung durchsetzen: Um sich selbständig mit der Bibel beschäftigen und darin Orientierung suchen zu können, sollte der Einzelne Lesen und Schreiben lernen.

"… und auch die Einzelne, denn Bugenhagen möchte überall auch Mädchenschulen haben."

Die Bedeutung des pommerischen Reformators Johannes Bugenhagen regional auf seinen Wirkungsbereich zu reduzieren, greift zu kurz. Er stehe heute im Schatten Luthers, sagt Bugenhagen-Experte Lorentzen – und dort gehöre er nicht hin:

"Bugenhagen hat eine eigenständige Theologie, die sehr stark auf die konkreten Werke ausgeht, auf eine ganz konkrete Ethik, und die auch optimistischer ist als Luther. Luther nannte ihn sogar einmal den "Bischof der Reformation".Die Dimensionen, in denen Bugenhagen gewirkt hat, erstrecken sich von Island über das Baltikum, von England über die Niederlande, über das Elsaß in die Schweiz bis nach Siebenbürgen …"

Mit seinen Studenten hat sich Tim Lorentzen in einer Exkursion auf die Spuren Bugenhagens begeben: unter Anderem in den Geburtsort Wollin, nach Treptow in die Marienkirche, und nach Wittenberg – dort sind die Original-Rechnungsbücher des Gemeinen Kastens aus den Jahren 1526 bis 1806 archiviert. Der Gemeine oder Gotteskasten war praktischer Teil der Kirchenordnung Bugenhagens: Eine Form der Sozialkasse.
Die Theologiestudenten Rebecca Scherf und David Ruthenberg haben an der Exkursion teilgenommen. Für sie ist Bugenhagen ein ganz großer Reformer, der in vielen Teilen bis heute aktuell ist.

"Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die reformatorischen Vorlagen, die von Luther, Bugenhagen und Melanchthon vorhanden waren, dass er das geschafft hat, umzusetzen – also er hat die theologischen Gedanken, sieht die sozialen Probleme, die Probleme der Prediger, der Kirchen, der Gemeinden und überhaupt der Städte, und schafft das, das umzusetzen in den Kirchenordnungen – durch die theologischen Gedanken, die vorlagen."

"Und was davon aktuell ist, sind ja genau diese Strukturreformen, die er als besonders wichtig und zukunftsweisend erkennt – das heißt, er sieht die sozialen Probleme seiner Zeit: umherziehende Bettler, Armut bei Waisenkindern und auch speziell bei Frauen, und dafür richtet er etwas ein wie beispielsweise diesen Gemeinen Kasten, um diese Probleme irgendwie in den Griff zu bekommen. Und das ist eigentlich ein aktueller Gedanke: Dass ich versuche, bestehende soziale Strukturen zu reformieren und darauf aufbaue."