Der Verlust der Müdigkeit
Die Erzählung "Schlaf" enthält eine typisch Murakamische Versuchsaufstellung: man nehme ein unerklärliches, unerhörtes Ereignis und lasse es in einem ansonsten unauffälligen Gegenwartsleben einigermaßen lautlos explodieren.
Eine kleine Dosis des Erfolgsautors Haruki Murakami: Bevor im Herbst 2010 sein neuer großer Roman erscheint gibt es für seine deutschen Anhänger eine 19 Jahre alte Erzählung in elegant illustriertem Gewand. Ein Verlagsverkaufstrick, um die Murakami-Liebhaber bei der Stange zu halten? Sicherlich, aber mit großem ästhetischen Gewinn – denn diese philosophische Erzählung vom Mysterium Schlaf hat nicht nur eine verdiente Wiederauflage, sondern auch ein wundervolles visuelles Surplus bekommen.
Die namenlose Protagonistin schläft nicht. Seit 17 Tagen und Nächten ist sie wach, und das ohne Müdigkeit, bei starkem Bewusstsein. Die Tage der Zahnarztgattin sind Routine: Putzen, Kochen, Einkaufen, Schwimmen, Familie. Doch während ihr Mann und ihr Sohn und ganz Tokio schlafen, trinkt sie Cognac in kleinen Schlucken, isst Schokolade und macht sich hellwach an die Lektüre von Tolstoi und Dostojewski. Manchmal setzt sie sich in ihr Auto und fährt durch die nächtliche Stadt, beobachtet das Meer vom Hafen aus. Eine Gewohnheit, die sie in tödliche Gefahr bringen wird.
Doch der Schluss ist nicht das Entscheidende in dieser Erzählung. Es ist die Schlaflosigkeit, die nichts quälendes, marterndes, medizinisch Abnormes hat – sondern das Leben einer spannungsarm lebenden Hausfrau positiv verändert, ihr Freizeit zum Lesen gibt, Appetit fördernd wirkt, sie zum Denken bringt. Der Verlust der Müdigkeit beginnt mit dem Alptraum von einem hutzeligen Männchen, das nächtens an ihrem Bett steht und Wasser über ihre Füße gießt. Doch weder diese archaische Horrorerscheinung noch ein anderer äußerer Einfluss erklären die wundersame Nicht-Müdigkeit. Eine typisch Murakamische Versuchsaufstellung: man nehme ein unerklärliches, unerhörtes Ereignis und lasse es in einem ansonsten unauffälligen Gegenwartsleben einigermaßen lautlos explodieren.
Wie in seinen Romanen "Gefährliche Geliebte", in dem es unter anderem um Tod, Wiederkehr, Signale aus dem Jenseits ging, in "Wilde Schafsjagd" oder zuletzt "Kafka am Strand" spricht Murakami ein uraltes Mysterium an und lenkt den Blick auf nicht gesicherte Gebiete. Denn: Wieso schlafen wir eigentlich? Der Schlaf ist bis heute eine veritable Lücke in der Kartografie des Wissens vom Leben. Wenn Hypnos der Bruder Thanatos’ ist, der Schlaf also der kleine Bruder des Todes, so hat man es seit Menschengedenken nicht nur mit ungeklärten Familienverhältnissen zu tun, sondern auch mit den Fragen nach den Wesen selbst: Weder der Tod noch der Schlaf lassen sich restlos biologisch erklären.
Das Buch gibt keine Antwort, aber es stellt – auch das ist Murakami-Prinzip – beunruhigende Fragen aus der scheinbar einfachen Deckung heraus. Die latente Spannung, die von Murakamis Texten ausgeht, liegt zu einem wesentlichen Teil an seiner Sprache, seiner unaufgeregten Grammatik und seiner für westliche Leser seltsam aseptischen, sparsamen Metaphorik. Bevor in einem Jahr sein neuer großer Roman "1Q84"– in Japan bereits Bestseller – auch bei uns erscheint, lenkt diese Erzählung noch einmal den Blick auf den ruhigen Philosophen Murakami, seine Gedanken an der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits.
Die Illustratorin Kat Menschik fasst die Stimmungen der Erzählung in irisierende Alptraumbilder in elegantem Zweifarbdruck – dunkelblau und silber auf Perlmutt-schimmerndem Papier. Ihre surrealen Welten werden bevölkert von Fischen, Quallen, Nachtfaltern und weit aufgerissenen Augen, organisches Material vermengt sich hier und lässt Szenen des Textes eindringlich wirken. Fließende Formen und Reduktionen erinnern an die lange Tradition japanischer Bildkunst: an die Holzschnitte Hokusais aus dem 19. Jahrhundert genauso wie an moderne Manga. Ein beeindruckendes visuelles Surplus.
Besprochen von Katrin Schumacher
Haruki Murakami: Schlaf
Aus dem Japanischen von Nora Bierich, mit Illustrationen von Kat Menschik
Dumont, Köln 2009
80 Seiten, 14,95 Euro
Die namenlose Protagonistin schläft nicht. Seit 17 Tagen und Nächten ist sie wach, und das ohne Müdigkeit, bei starkem Bewusstsein. Die Tage der Zahnarztgattin sind Routine: Putzen, Kochen, Einkaufen, Schwimmen, Familie. Doch während ihr Mann und ihr Sohn und ganz Tokio schlafen, trinkt sie Cognac in kleinen Schlucken, isst Schokolade und macht sich hellwach an die Lektüre von Tolstoi und Dostojewski. Manchmal setzt sie sich in ihr Auto und fährt durch die nächtliche Stadt, beobachtet das Meer vom Hafen aus. Eine Gewohnheit, die sie in tödliche Gefahr bringen wird.
Doch der Schluss ist nicht das Entscheidende in dieser Erzählung. Es ist die Schlaflosigkeit, die nichts quälendes, marterndes, medizinisch Abnormes hat – sondern das Leben einer spannungsarm lebenden Hausfrau positiv verändert, ihr Freizeit zum Lesen gibt, Appetit fördernd wirkt, sie zum Denken bringt. Der Verlust der Müdigkeit beginnt mit dem Alptraum von einem hutzeligen Männchen, das nächtens an ihrem Bett steht und Wasser über ihre Füße gießt. Doch weder diese archaische Horrorerscheinung noch ein anderer äußerer Einfluss erklären die wundersame Nicht-Müdigkeit. Eine typisch Murakamische Versuchsaufstellung: man nehme ein unerklärliches, unerhörtes Ereignis und lasse es in einem ansonsten unauffälligen Gegenwartsleben einigermaßen lautlos explodieren.
Wie in seinen Romanen "Gefährliche Geliebte", in dem es unter anderem um Tod, Wiederkehr, Signale aus dem Jenseits ging, in "Wilde Schafsjagd" oder zuletzt "Kafka am Strand" spricht Murakami ein uraltes Mysterium an und lenkt den Blick auf nicht gesicherte Gebiete. Denn: Wieso schlafen wir eigentlich? Der Schlaf ist bis heute eine veritable Lücke in der Kartografie des Wissens vom Leben. Wenn Hypnos der Bruder Thanatos’ ist, der Schlaf also der kleine Bruder des Todes, so hat man es seit Menschengedenken nicht nur mit ungeklärten Familienverhältnissen zu tun, sondern auch mit den Fragen nach den Wesen selbst: Weder der Tod noch der Schlaf lassen sich restlos biologisch erklären.
Das Buch gibt keine Antwort, aber es stellt – auch das ist Murakami-Prinzip – beunruhigende Fragen aus der scheinbar einfachen Deckung heraus. Die latente Spannung, die von Murakamis Texten ausgeht, liegt zu einem wesentlichen Teil an seiner Sprache, seiner unaufgeregten Grammatik und seiner für westliche Leser seltsam aseptischen, sparsamen Metaphorik. Bevor in einem Jahr sein neuer großer Roman "1Q84"– in Japan bereits Bestseller – auch bei uns erscheint, lenkt diese Erzählung noch einmal den Blick auf den ruhigen Philosophen Murakami, seine Gedanken an der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits.
Die Illustratorin Kat Menschik fasst die Stimmungen der Erzählung in irisierende Alptraumbilder in elegantem Zweifarbdruck – dunkelblau und silber auf Perlmutt-schimmerndem Papier. Ihre surrealen Welten werden bevölkert von Fischen, Quallen, Nachtfaltern und weit aufgerissenen Augen, organisches Material vermengt sich hier und lässt Szenen des Textes eindringlich wirken. Fließende Formen und Reduktionen erinnern an die lange Tradition japanischer Bildkunst: an die Holzschnitte Hokusais aus dem 19. Jahrhundert genauso wie an moderne Manga. Ein beeindruckendes visuelles Surplus.
Besprochen von Katrin Schumacher
Haruki Murakami: Schlaf
Aus dem Japanischen von Nora Bierich, mit Illustrationen von Kat Menschik
Dumont, Köln 2009
80 Seiten, 14,95 Euro