Der vertikale Mensch

Von Barbara Sichtermann |
Alles und jedes wird in Hierarchien gepresst, vom 'Sexiest man alive' bis zur süffigsten Weinsorte. Aber die Vorliebe unserer Kultur für das Ranking bleibt nicht ohne Folgen. Denn Ranglisten können auch ein Instrument der Demütigung sein.
Leistung, Erfolg, Karriere – diese Themen werden fast nur noch in Termini von Druck, Härte, Überforderung bis hin zum Burn-out diskutiert. Die Regisseurin und Intendantin Karin Beier ist eine berühmte Frau. Man schaut auf sie. Karin Beier sagt, dass sie sich "als Theaterschaffende dauernd in einer Bewertungssituation befinde", dass sie sich "permanent benotet" fühle. Das heißt nichts anderes als dass die Konkurrenz sich verschärft und der oder die einzelne beim Rattenrennen immer öfter aus der Puste kommt. Aber muss das so sein? Muss hinter jedem Tun und Schaffen eine Note lauern?

Noten sind Zahlen, sie etablieren eine Hierarchie, wir kennen das aus der Schule: 1 sehr gut, 6 ungenügend. Man kann es auch anders machen und Punkte vergeben, dann wäre ein Punkt zu wenig, und sechs Punkte wären Spitze. Noten oder Punkte – das ist egal. Nicht egal ist, dass alle diese Bewertungsmethoden mit einem quantitativen Maßstab arbeiten. Sie begnügen sich bei ihrer Begutachtung mit einer Größe. Das aber bedeutet: Sie abstrahieren von der Qualität. Das müssen sie, denn Qualitäten als solche lassen sich nicht vergleichen. Tut man es doch, tappt man in die "Äpfel-mit-Birnen-Vergleichs"-Falle.

Alles und jedes wird in Hierarchien gepresst, vom 'Sexiest man alive' bis zur süffigsten Weinsorte, wobei die digitale Technik, die das Ranking so leicht macht, die Funktion eines allzeit bereiten Assistenten erfüllt. Die Vorliebe unserer Kultur für das Ranking bleibt nicht ohne Folgen. Konkurrenz, Wettbewerb, erster, zweiter und dritter Platz – das ist uns allen geläufig. Wir leben damit, wir nehmen es hin, es macht uns sogar manchmal Spaß, vor allem, wenn wir selbst den ersten Platz besetzen. Es soll auch gar nicht bestritten werden, dass ein Leistungsvergleich den quantifizierenden Maßstab braucht – ob PISA, ob Ermittlung des soundsovielten Platzes der Bundesrepublik unter den Exportnationen, ob Erstellung einer Liste der beliebtesten Theater im Land – überall werden Rankings vorgenommen.

Was man aber wissen muss, ist, dass die Vergabe von Noten und Punkten, also das Ranking, nicht die einzige Methode ist, um eine Leistung und den Menschen, der sie erbracht hat, zu beurteilen. Denn dass im Ranking von der Qualität abstrahiert wird, heißt ja nicht, dass diese Qualität nicht existiert. Das Individuelle, das Besondere, das Abweichende, das Eigentümliche ist sogar das eigentlich Interessante an einem Theaterabend, an einem Exportland oder einem Schulaufsatz. Man kann es aber nicht messen, man müsste es im Einzelnen beschreiben. Das ist mühsam. Messen geht schneller. Sicher, wir brauchen beides: den Sinn für das Besondere und die Messlatte fürs Allgemeine.

Dennoch scheint jener Sinn allmählich verloren zu gehen, während das Ranking eine Art Volkssport geworden ist. Dabei vergisst man leicht, dass Ranglisten ein Instrument der Demütigung sein können, besonders dort, wo sich Leistungsbereitschaft überhaupt erst herausbildet: In der Schule. Es gibt immer nur einen ersten Platz. Wie fühlt sich beim Lesewettbewerb der kleine Moritz, wenn er sich auf Platz 7 wiederfindet? Er hat nicht so flüssig gelesen wie die anderen, aber dafür hatte er doch eine ganz besondere Intonation... Man kann seine Leistung nicht messen, dennoch hat sie womöglich eine größere Bedeutung als alle sogenannte Fehlerfreiheit.

Was es bedeutet, immer nur vertikal, von mies bis prima, von down bis top zu urteilen und die Eigenarten einfach wegzubügeln, sich dessen bewusst zu werden – dabei hilft dieser schöne Satz, der Albert Einstein zugeschrieben wird: "Nicht alles was gezählt werden kann, zählt. Und nicht alles, was zählt, kann gezählt werden."

Barbara Sichtermann, Jahrgang 1943, lebt als freie Autorin in Berlin. Sie ist Kolumnistin der Wochenzeitung "Die Zeit". Ihre letzten Buchveröffentlichungen: "Lebenskunst in Berlin" (mit Ingo Rose), "Romane vor 1900" (mit Joachim Scholl) und "Das Wunschkind" (Mitautor Claus Leggewie).
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