Der viktorianische Kafka
Charles Dickens war der Prototyp des Schriftsteller-Unternehmers. Bis zu seinem Tod hatte er ein Vermögen in zweistelliger Millionenhöhe angehäuft. Gelferts Biografie porträtiert ihn aber auch als einen Vorläufer Kafkas, der die Entfremdung des Einzelnen in der Gesellschaft thematisiert.
Werk und Leben gehören bei einem Schriftsteller untrennbar zusammen. Das eine spiegelt das andere, ja mehr noch: Das Werk ist der wichtigste Teil des Lebens. Jede Schriftsteller-Biografie gibt auch eine Antwort auf die Frage nach diesem Zusammenhang, wenn sie nachweist, wie reale Erfahrungen und Erlebnisse verwandelt in der Literatur wiederkehren oder wie das Leben dem Schreiben untergeordnet wird. Hans-Dieter Gelfert, emeritierter Anglist an der FU Berlin, stellt in seiner Biografie über Charles Dickens Werk und Leben in getrennten Kapiteln dar. Auf knappe chronologisch geordnete Zusammenfassungen der wichtigsten Ereignisse der jeweiligen Jahre oder Monate folgen Kapitel über die einzelnen Werke mit kurzen Inhaltsangaben und Interpretation. Das ist so übersichtlich, dass es als Nachschlagewerk zu gebrauchen ist, geht aber ein wenig auf Kosten der Lebendigkeit und des Erzählflusses.
Dabei ist gerade bei Dickens der Zusammenhang von Werk und Leben unübersehbar. Prägend war für ihn das Kindheitserlebnis, für vermutlich mindestens ein Jahr in einer Schuhwichsfabrik am Ufer der Themse arbeiten zu müssen, während sein Vater – ein über seine Verhältnisse lebender Beamter – Monate in Schuldhaft verbrachte. Von "Oliver Twist" über "David Copperfield" bis zu den späten Werken kehrt dieses Trauma als Erfahrung einer schicksalhaften Fremdbestimmtheit wieder.
Gelfert zeigt, wie Dickens Werk insgesamt vom Motivpaar Gefängnis/Wasser geprägt wird, dem als drittes wiederkehrendes Element das Motiv der Erbschaft hinzuzurechnen ist. Versteckte Testamente, dunkle, schicksalhafte Verfügungen setzen eine Handlung in Gang, die Elemente des Detektivromans zu nutzen versteht. In Gelferts Interpretationen ist Dickens nicht nur der humorige Moralist des viktorianischen Zeitalters, nicht nur der pathetische Sozialkritiker, der auf soziale Missstände mit Appellen an die Herzensgüte reagiert, sondern auch schon ein Vorläufer Kafkas, der die Entfremdung des Einzelnen in der Gesellschaft und die unentrinnbare Geworfenheit in ein dunkles Geschick thematisiert.
Gelfert zeigt Dickens als sozialen Aufsteiger und Geschäftsmann, der trotz wachsenden Wohlstandes von ständiger Verarmungsangst angetrieben wurde. In der Epoche der Industrialisierung war er der Prototyp des Schriftsteller-Unternehmers. Er gründete immer wieder eigene Zeitschriften, in denen seine Romane kapitelweise in Fortsetzungen erschienen. Auf sinkende Auflagen konnte er dann direkt reagieren, indem er neue Spannungsmomente einbaute. Der "Cliffhanger" ergibt sich aus dieser Publikationsform. Die Romane erschienen erst in Wochen-, dann in etwas edleren Monatszeitschriften, schließlich als Buch und dann als billige Eisenbahnausgabe. Zudem verdiente Dickens, der anfangs Schauspieler werden wollte, enorme Summen durch Lesungen. Er war fast so etwas wie heute ein Hollywoodstar. Bei seinem Tod hatte er ein Vermögen in – nach heutigen Maßstäben – zweistelliger Millionenhöhe angehäuft. In Gelferts Biografie ist viel von Zahlen die Rede, von Verträgen, Honoraren, Vermögen. Das ist Dickens und seiner Zeit nicht nur angemessen, sondern auch spannend zu lesen.
Für die Familie blieb neben der Arbeit nicht viel Zeit. Dickens' Ehe scheiterte. Nachdem seine Frau Catherine zehn Kinder geboren hatte (und er ihr ihre Fruchtbarkeit vorwarf, als hätte er nichts damit zu tun), wurde sie von ihm verstoßen. Er verliebte sich in eine 18-jährige Schauspielerin, die er vor der Öffentlichkeit zu verbergen suchte, und leugnete hartnäckig, mit ihr eine Beziehung zu haben. Dickens Lebensgeschichte ist sehr viel weniger von Sentimentalität geprägt als sein Werk. Gelfert ist nüchtern genug, ihn in all seiner Ambivalenz deutlich werden zu lassen.
Besprochen von Jörg Magenau
Hans-Dieter Gelfert: Charles Dickens der Unnachahmliche. Biografie. C.H. Beck, München 2011, 376 Seiten, 29,95 Euro
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Dabei ist gerade bei Dickens der Zusammenhang von Werk und Leben unübersehbar. Prägend war für ihn das Kindheitserlebnis, für vermutlich mindestens ein Jahr in einer Schuhwichsfabrik am Ufer der Themse arbeiten zu müssen, während sein Vater – ein über seine Verhältnisse lebender Beamter – Monate in Schuldhaft verbrachte. Von "Oliver Twist" über "David Copperfield" bis zu den späten Werken kehrt dieses Trauma als Erfahrung einer schicksalhaften Fremdbestimmtheit wieder.
Gelfert zeigt, wie Dickens Werk insgesamt vom Motivpaar Gefängnis/Wasser geprägt wird, dem als drittes wiederkehrendes Element das Motiv der Erbschaft hinzuzurechnen ist. Versteckte Testamente, dunkle, schicksalhafte Verfügungen setzen eine Handlung in Gang, die Elemente des Detektivromans zu nutzen versteht. In Gelferts Interpretationen ist Dickens nicht nur der humorige Moralist des viktorianischen Zeitalters, nicht nur der pathetische Sozialkritiker, der auf soziale Missstände mit Appellen an die Herzensgüte reagiert, sondern auch schon ein Vorläufer Kafkas, der die Entfremdung des Einzelnen in der Gesellschaft und die unentrinnbare Geworfenheit in ein dunkles Geschick thematisiert.
Gelfert zeigt Dickens als sozialen Aufsteiger und Geschäftsmann, der trotz wachsenden Wohlstandes von ständiger Verarmungsangst angetrieben wurde. In der Epoche der Industrialisierung war er der Prototyp des Schriftsteller-Unternehmers. Er gründete immer wieder eigene Zeitschriften, in denen seine Romane kapitelweise in Fortsetzungen erschienen. Auf sinkende Auflagen konnte er dann direkt reagieren, indem er neue Spannungsmomente einbaute. Der "Cliffhanger" ergibt sich aus dieser Publikationsform. Die Romane erschienen erst in Wochen-, dann in etwas edleren Monatszeitschriften, schließlich als Buch und dann als billige Eisenbahnausgabe. Zudem verdiente Dickens, der anfangs Schauspieler werden wollte, enorme Summen durch Lesungen. Er war fast so etwas wie heute ein Hollywoodstar. Bei seinem Tod hatte er ein Vermögen in – nach heutigen Maßstäben – zweistelliger Millionenhöhe angehäuft. In Gelferts Biografie ist viel von Zahlen die Rede, von Verträgen, Honoraren, Vermögen. Das ist Dickens und seiner Zeit nicht nur angemessen, sondern auch spannend zu lesen.
Für die Familie blieb neben der Arbeit nicht viel Zeit. Dickens' Ehe scheiterte. Nachdem seine Frau Catherine zehn Kinder geboren hatte (und er ihr ihre Fruchtbarkeit vorwarf, als hätte er nichts damit zu tun), wurde sie von ihm verstoßen. Er verliebte sich in eine 18-jährige Schauspielerin, die er vor der Öffentlichkeit zu verbergen suchte, und leugnete hartnäckig, mit ihr eine Beziehung zu haben. Dickens Lebensgeschichte ist sehr viel weniger von Sentimentalität geprägt als sein Werk. Gelfert ist nüchtern genug, ihn in all seiner Ambivalenz deutlich werden zu lassen.
Besprochen von Jörg Magenau
Hans-Dieter Gelfert: Charles Dickens der Unnachahmliche. Biografie. C.H. Beck, München 2011, 376 Seiten, 29,95 Euro
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