Der virtuelle Beichtstuhl

Von Ralf Bei der Kellen |
Moderne Kommunikation macht auch vor den Kirchen nicht halt. Und weil das Internet zu einem Massenmedium geworden ist und immer weniger Menschen den Weg in die Kirchen finden, setzt auch die Seelsorge auf das Netz.
Die Entwicklung der modernen Kommunikationsmedien hat zwischenmenschliche Kontakte nicht nur erleichtert, sondern darüber hinaus immer Einfluss auf die Art und Weise der Kommunikation genommen. Auch die Seelsorge als kommunikatives Angebot der Kirchen hat so zu immer neuen Formen gefunden.

Wie so oft in der Geschichte der Kirche und ihres Umgangs mit Medien wurden die jeweiligen Angebote durch die Initiativen Einzelner auf den Weg gebracht. So gab am 2. November 1953 der anglikanische Pfarrer Chad Varah folgende Anzeige in der Times auf:

"Bevor Sie Selbstmord begehen wollen – rufen Sie mich an. Die Nummer ist Mansion House 9000."

Aus diesem Vorstoß erwuchs in Großbritannien die Bewegung der Samaritans. Nach ihrem Vorbild wurde 1956 die erste Telefonseelsorgestelle in Deutschland gegründet.

Ende des 20. Jahrhunderts avancierte das Internet zum Massenmedium. E-Mails und Chats wurden zu populären Kommunikationswegen. Auch hier waren es wieder Einzelpersonen, die den Wert dieser Medien für die Seelsorge erkannten.

Holschuh: "Ich hab einfach mich als Diplom-Theologe dargestellt auf einer Seite im Netz und hab angeboten eben in schwierigen Lebenssituationen zuzuhören."

Der heute 41-jährige Diakon Uwe Holschuh ist einer dieser Innovatoren. In seiner Ausbildung zum Pastoralreferenten Anfang der 90er Jahre war es ihm ein Anliegen, auch denjenigen Gemeindemitgliedern ein Seelsorgeangebot zu machen, die nicht den Weg in den Gottesdienst oder zum Pfarrer fanden. Irgendwann kam ihm die Idee, dass das Internet eine Möglichkeit bieten könnte, mit diesen Menschen in Kontakt zu kommen.

Im November 1996 startete er sein Experiment unter dem Namen www.kummernetz.de. Und das wurde erstaunlich gut angenommen.

Holschuh: "Das führte dann über die Jahre dazu, dass es mir einfach über den Kopf wuchs und dass ich einfach dazu gezwungen war, Mitstreiter zu finden, weil es allein nicht mehr zu bewältigen war."

Holschuh suchte sich ein kleines Team aus ehrenamtlichen Beratern und Seelsorgern zusammen. Er nahm Kontakt zum Bistum Würzburg auf, das ebenfalls gerade online gegangen war. Dort lief er offene Türen ein. Man verlinkte sein Angebot auf den offiziellen Seiten. Seitdem ist das Kummernetz eine feste Größe in der virtuellen Seelsorgelandschaft Deutschlands.

Innerhalb der Kirche gab es kaum Kritik an diesem neuen Angebot – was damit zusammenhängen dürfte, dass man bereits Erfahrung mit medial vermittelter Seelsorge hatte.

Das Internet bietet aber noch einen ganz anderen Zugang als das Telefon. Dieser wird von den verschiedenen Anbietern unterschiedlich stark genutzt. Bei Kummernetz kann man sich beispielsweise im Gegensatz zum Zufallsprinzip der Telefonseelsorge seinen Berater aussuchen.

Holschuh: "Man hat wirklich mit einer festen Person zu tun. Man weiß auch von der ein bisschen was, wie alt sie ist oder wie sie aussieht, man sieht ein Foto von ihr. Im Erwachsenenbereich ist es auch so, dass die teilweise auch Lieblingsbücher eintragen können – da hat man auch einfach Identifikationspunkte und kann sagen: Ja, mit dem Menschen, dem möchte ich mich anvertrauen, da kann ein Funke überspringen."

Und auch die Art der Darstellung und Diskussion eines Problems ist eine andere als am Telefon.

Holschuh: "Internet ist noch mal ein Schritt weiter, weil ich ja nur die Schrift habe … beim Telefon ist es noch intimer, ich höre die Stimme, beim Computer sehe ich nur noch die Schrift, ich höre nichts mehr, ich sehe nichts mehr – also das Medium drängt sich da ganz schön dazwischen."

Was zunächst als Hürde erscheint, hat aber auch seine Vorteile.

Holschuh: "Ich bin dazu gezwungen, meine Lebenssituation ja zu verschriftlichen und damit reflektiert darzustellen. Das heißt, ich muss mir das durch den Kopf gehen lassen, ich muss überlegen: wie gliedere ich das, wie stell’ ich das dar, wie bringe ich das in einen zeitlichen Ablauf, also da passiert schon ganz viel. Im Grunde ist das so eine Art präventiver Arbeit auch, die sich vor allem am Anfang eignet, also zum Erstkontakt."

Reimann: "Es scheint so zu sein, dass es Menschen leichter fällt, bestimmte Sachen auszuschreiben oder sich von der Seele zu schreiben, als sie einem Menschen direkt ins Gesicht zu sagen. Von daher ist Chatseelsorge oder Onlineseelsorge ein Angebot, das Menschen erreicht, die durch andere Seelsorgeangebote eben nicht erreicht werden."

Der Pastor und Diplom-Informatiker Ralf-Peter Reimann ist 40 Jahre alt und als Oberkirchenrat für die Onlinearbeit der Evangelischen Kirche Deutschlands verantwortlich. In dieser Funktion betreut er auch Chatseelsorge.de, ein Online-Angebot, das von den Landeskirchen Hannover und Rheinland getragen wird.

Reimann: "Das ist so, dass es einen öffentlichen Chat gibt, den kann man fast wie ein Wartezimmer, eine Vorhalle empfinden, wo viele Menschen miteinander reden. Einer der Pfarrerinnen oder Pfarrer moderiert diesen Chat, und wer dann möchte, kann eben in einen Privatchat zu einer Pfarrerin oder Pfarrer wechseln und dort ein persönliches 1:1 Gespräch haben, bei dem niemand anders reinhören kann."

Im Gegensatz zur E-Mail-Seelsorge hat die Chatseelsorge eher den Charakter eines Gesprächs: Mehr oder weniger schnell findet hier eine Kommunikation in Echtzeit statt. Ein Nachteil der Chartseelsorge sind die im Vergleich zur Telefonseelsorge stark begrenzten Öffnungszeiten. Dies ist vor allem den beschränkten Ressourcen geschuldet; ein Problem, das in allen Bereichen der virtuellen kirchlichen Seelsorge auftaucht, wie Uwe Holschuh und Ralf-Peter Reimann bestätigen.

Holschuh: "Wenn man von den Zahlen ausgeht, dass wir die Hälfte eines Monats so im Schnitt besetzt sind – das würde ja rein rechnerisch bedeuten, dass wir doppelt so viel Personal bräuchten. Wir haben jetzt 60 Leute, wenn man alle Stellen zusammenrechnet … also mit 120 wären wir dann – im Moment jedenfalls – ganz gut dabei, könnten immer offen haben."

Reimann: "Wo wir Werbung betreiben, ist, dass die Kollegen in der Landeskirche Hannover auf Pfarrkonventen dieses Angebot bekannter und bekannter machen, und dort Kolleginnen und Kollegen ansprechen: Wollt ihr nicht mitmachen? Von daher machen wir intern Werbung, um mehr Seelsorger zu bekommen, aber wir platzieren das Angebot nicht aktiv nach außen, nach dem Motto: Jetzt kommt, jetzt kommt, denn wir können nicht noch mehr Menschen auf dieser Plattform haben wollen. Und das, denke ich, ist das Problem."

Holschuh: "Wir brauchen noch mehr Mitarbeiter, das ist einfach wichtig, damit es auch gut funktioniert. Ein Supermarkt, wo beständig die Produkte ausverkauft sind, der macht sich keinen guten Ruf."

Sind die Ressourcen aufgebraucht, kann man keine Berater oder Chattermine mehr auswählen. Beide Angebote verweisen in diesem Fall auf eine Liste mit Links zu anderen Anbietern – darunter auch die Telefonseelsorge.

Blömeke: "Wir haben im Mailbereich 33 Telefonseelsorgestellen, die neben ihrer Telefonarbeit noch zusätzlich die Mailanfragen beantworten. Und wir haben 19 Stellen von den Telefonseelsorgestellen, die die Chatanfragen beantworten und sich der Chatarbeit widmen."

Bernd Blömeke ist Leiter der Geschäftsstelle der evangelischen Konferenz für Telefonseelsorge. 1995 beschloss man dort, die neuen Kommunikationswege Chat und E-Mail zu nutzen – in der Hoffnung, mit dem renommierten Namen den Menschen im Angebotsdschungel des Internet ein seriöses Angebot zu machen. Auch Blömeke kennt das Problem mit der Überlastung.

Blömeke: "Ein Mailkontakt ist ja vergleichbar sage ich mal mit dem Briefeschreiben. Das heißt, ich sage: Heute Abend nehme ich mir Zeit, ’ne Stunde, zu überlegen, was schreibe ich, wie schreibe ich, und kann das sozusagen mir auch ein bisschen besser einteilen, wann ich das tun will. Chatkontakt ist: Ich muss hier und jetzt da sein – das ist ja eher vergleichbar wie am Telefon sitzen."

Da Blömeke mit allen drei Formen der medialen Seelsorge arbeitet, weiß er um die Verschiedenheit der jeweiligen Nutzergruppen:

Blömeke: "Menschen, die sehr verletzt sind, wählen häufig diesen Weg über die Mail, über den Mailkontakt, weil sie dort am besten regulieren können, wie viel sie an Nähe zu ihrem Problem, zu ihrer Verletzung im Moment zulassen wollen oder nicht."

Vor allem Missbrauchsfälle melden sich häufig per Mail, da sie hier selber bestimmen können, wie viel sie wie schnell von sich preisgeben. Und auch, wer sie sein wollen. Denn die virtuellen Kommunikationswege sind geradezu prädestiniert für Rollenspiele.

Holschuh: "Also beispielsweise der Mann gibt sich als Frau aus und lässt sich in der Beziehungskrise der beiden aus der Perspektive der Frau beraten. Oder eine Frau gibt sich als Jugendliche aus, die sexuell missbraucht worden ist und erlebt ihre Missbrauchssituation, die vielleicht schon Jahrzehnte zurückliegt, noch mal aus der Sicht einer Jugendlichen und lässt sich in dieser Situation beraten."

Reimann: "Das passiert nicht nur im Internet, sondern ist mir auch bei der Telefonseelsorge passiert, dass zum Beispiel auch Kinder bestimmte Sachen ausprobieren und Probleme erzählen, bei denen sich dann herausstellt, dass die so nicht real sind. Aber für diese Kinder ist dieses eine Denkmöglichkeit und sie wollen wissen, wie reagieren Erwachsene darauf."

Holschuh: "Computer ist ja auch ein Medium, mit dem gespielt wird, auch im Netz gespielt wird. Von daher liegt es auch nahe, dass manche Menschen auch hier, im Beratungsbereich, im Seelsorgebereich eine Rolle spielen wollen."

Reimann: "Von daher ist dieses ein Austesten, was durchaus ernst zu nehmen ist. Und von daher das nur als Scherzanrufe abzuqualifizieren wird dem auch nicht gerecht. Und so ist es auch im Internet."

Obwohl das Medium Internet stärker zwischen Ratsuchenden und Beratern steht, kann die vordergründig größere Anonymität durchaus ein Mehr an Intimität mit sich bringen.

Holschuh: "Die Nähe erleb’ ich als größer ähnlich wie man vielleicht auch einen Liebesbrief formuliert, bewusst in Briefform, das kann auch sehr dicht, kann sehr nah sein und durch diese Schriftform kommt man sich durchaus sehr nahe. Das heißt, der Berater, die Beraterin muss noch mal gucken, wie viel Distanz brauch’ ich auch, um gut beraten zu können – das ist eher noch mal ein 'zu nah', wo ich einen Schritt zurückgehen muss."

Reimann: "Manchmal bleibt natürlich bei Gesprächen die Frage: Kann so etwas Schreckliches einem Menschen wirklich passieren? Übertreibt er da nicht? Ist das wirklich echt? Dies sind dann Sachen, die man als Seelsorger oder Seelsorgerin aushalten muss."

Was für die Ratsuchenden eine Chance ist, erleben die Beratenden mitunter als Belastung. Für sie gibt es weniger Möglichkeiten zum Nachzufassen als im direkten Gespräch. Deshalb ist Supervision gerade der Ehrenamtlichen hier noch wichtiger, als sie es bei der Telefonseelsorge ist. Zudem gibt es für die Online-Berater oft spezielle Schulungsangebote.

Blömeke: "Für die Mail- und Chatarbeit gibt es dann jeweils noch mal eigene Fortbildungen, weil Mailarbeit auch eben sehr viel mit einer Schreibkompetenz zu tun hat, also, sich formulieren zu können, aus einem längeren Kontext sozusagen auch das Problem herausfiltern zu können. Und aus vielen Mailkontakten (er)gibt sich auch ein längerer Kontakt. Das heißt, man muss dort auch ein bisschen mehr Kompetenz haben hinsichtlich der Beziehungsdynamik, die sich da aufgrund dessen entwickelt."

Verschwiegenheit und Wahrung des Beichtgeheimnisses sind für die Seelsorge essentiell. Im Onlinebereich hängt das neben den beratenden Personen stark von technischen Voraussetzungen ab. Ausgeklügelte Methoden wie die vom Onlinebanking bekannte SSL-Verschlüsselung garantierten höchste Anonymität. Viele User verleitet die "gefühlte Anonymität" des Internet allerdings zu unüberlegten Schritten.

Blömeke: "Also, wenn ich so merke, dass mir Mails auf nicht sicherem Weg, also über den ganz normalen E-Mailverkehr zugesandt werden, mit Schilderungen von Problemen, Lebensprobleme, Beziehungsproblemen, dann merke ich, wie naiv wir alle eigentlich mit dem Medium Internet umgehen und wir uns gar kein Bild davon machen können, wie offensichtlich das ist, was wir da tun."

Nicht selten erhält Blömeke über seine Dienst-E-Mail Anfragen von Ratsuchenden, deren Adressat eigentlich die Mailadresse der Telefonseelsorge ist. Die Anonymität soll aber nicht nur die Ratsuchenden schützen, sondern auch die Berater. Sind diese Theologen und wie bei den Angeboten von Kummernetz und Chatseelsorge namentlich bekannt, ist es für den User kaum ein Problem, sie über die E-Mailadressen ihrer Pfarrstellen ausfindig zu machen.

Reimann: "Und so weiß ich auch von Kolleginnen und Kollegen, dass sie angemailt wurden. Das ist aber etwas, was wir aber von Chatseelsorge.de so nicht wollen, sondern ganz klar das auf das Medium Chat begrenzen wollen. Denn sonst ist es auch ganz schwierig, Pfarrerinnen und Pfarrer zu gewinnen, die bei Chatseelsorge mitarbeiten. Sie haben ja noch ihre normale Gemeindearbeit in der Regel und machen diesen Dienst ja noch ehrenamtlich zusätzlich zu diesem Dienst. Und wenn sie dann noch Menschen weiter begleiten müssten, das würden sie auch nicht aushalten und von daher ist das einfach zum beidseitigen Schutz so, dass mit dem Chat das zu Ende ist."

Die Telefonseelsorge ist in der Vergangenheit gelegentlich als "Pfarrhaus des 20. Jahrhunderts" bezeichnet worden. Die Leitungen sind 24 Stunden offen, hier kann man zu jeder Tages- und Nachtzeit an die virtuelle Tür klopfen. Analog könnte man das Internet als Pfarrhaus des 21. Jahrhunderts bezeichnen.

Holschuh: "Der Begriff Pfarrhaus, der ändert sich, da gehen nicht Menschen zu einem Gebäude, sondern Kirche oder Seelsorge oder Beratung kommt in die Wohnungen hinein."

Der Vorteil von Seelsorge im Internet liegt vor allem in einer Diversifizierung seelsorglicher Möglichkeiten. Es wäre zu wünschen, dass die Kirche mehr Ressourcen in diese Angebote investieren könnte, da sie hier ihren Dienst am Menschen ganz direkt verrichten kann. Und die Nachfrage besteht. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass auch das "alte" Pfarrhaus nach wie vor seine Daseinsberechtigung hat.

Reimann: "Umgekehrt erreiche ich natürlich auch durch Seelsorgeangebote vor Ort auch Menschen, die ich vielleicht online nicht erreiche. Ich glaube, alle diese Seelsorgeformen sind wichtig. Und sie sind eben deswegen wichtig, weil jede dieser Seelsorgeformen unterschiedliche Menschen erreicht."