Der Völkermord als Gründungsmotiv der israelischen Nation
Die Erinnerung an den Holocaust hat die Identität der Israelis geformt. Dass sie sich als "Opfergemeinschaft" verstehen, jeden ihrer Kriege mit Verweis auf den Holocaust führen, ist für die Autorin jedoch eine unzulässige Funktionalisierung der Tragödie.
Das moderne Israel ist mit seinen nicht einmal 65 Jahren ein junger Staat. Wie es sich als Nation mithilfe der eigenen Geschichtsschreibung – Erinnerung und Auslassung bestimmter Ereignisse, Schaffung gemeinsamer Mythen und kollektiver Rituale - geformt hat, beschreibt Idith Zertal in ihrem Buch "Nation und Tod". Der zentrale Mythos für Gründung und Existenz Israels, so ihre These, ist der Holocaust. Seine Wirkungsweise in der israelischen Öffentlichkeit stellt die in Basel lehrende israelische Historikerin in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung.
Zertal gehört zur Generation der "neuen Historiker", jenen jüngeren Wissenschaftlern, die in den 1990er-Jahren bekannt und teilweise als Nestbeschmutzer beschimpft wurden, weil sie sich kritisch mit Zionismus und israelischer Geschichtsschreibung auseinandersetzten. Tony Judt, der vor einem Jahr verstorbene bedeutende britische Historiker, würdigt sie im Vorwort zu Zertals Buch als "die bei weitem mutigste und originellste" jener "revisionistischen Historiker". Das mag übertrieben sein. Auf das Buch selbst trifft die Charakterisierung "mutig und originell" gleichwohl zu.
Zertal bietet messerscharfe Analysen sowie politisch und psychologisch überzeugende Überlegungen zur "fatalen Verbindung" zwischen israelischem Nationalismus und dem Tod. Anhand dreier konstituierender Niederlagen des Zionismus vor Staatsgründung - dem Kampf um Tel Chai im Oberen Galiläa, bei dem 1920 der russisch-jüdische Volksheld Joseph Trumpeldor ums Leben kam; dem aussichtslosen Aufstand in den Ghettos während des Zweiten Weltkrieges; dem gescheiterten Versuch des Flüchtlingsschiffs "Exodus", Holocaustüberlebende 1947 nach Palästina zu bringen – zeigt sie, wie es gelang, reale Niederlagen zu einem siegreichen Narrativ umzuformen, das bis heute die kollektive Erinnerung bestimmt.
Wie stark diese durch den Tod geprägt ist, zeigt sie insbesondere am Beispiel des Umgangs Israels mit dem Holocaust. Bereits vor Staatsgründung entwarf sich die jüdische Gesellschaft Palästinas als Gegenbild des Diasporajudentums, eignete sich dann aber die Rolle als Erbin und Rächerin der Opfer des Völkermords in Europa an.
Die Erinnerung an diese Opfer hat die Identität der Israelis geformt – auch wenn sie historisch, politisch und geografisch in einer ganz anderen Situation leben. Dass sie sich als "Opfergemeinschaft" verstehen, jeden ihrer Kriege mit Verweis auf den Holocaust führen, jedes politische Handeln mit Verweisen auf ihn begründen, ist für die Autorin eine Funktionalisierung der Tragödie, die zur Trivialisierung derselben führt.
Entschieden wehrt sie sich auch gegen die in der israelischen Öffentlichkeit jahrzehntelang betriebene "Nazifizierung der Araber". Dass Yitzhak Rabin mit den Palästinensern einen Friedensvertrag aushandelte, machte ihn so, im Verständnis der Rechten des Landes, zum "Judenrat", der sein Volk (und Land) verrät. Zertal legt den Finger in eine schwärende Wunde, wenn sie feststellt, dass Rabins Ermordung nicht als Symptom einer manifesten gesellschaftlichen Krankheit begriffen, sondern als eine Art technische Panne behandelt wurde.
Idith Zertal erweist sich mit diesem Buch als politische Philosophin in der Nachfolge Hannah Arendts. Sie demontiert Mythen, lässt sich vom politischen common sense nicht einschüchtern, denkt gegen den Strich mit Verve und Selbstbewusstsein, mit geistiger und moralischer Schärfe. Dabei bleibt sie souverän, wird polemisch nur im Sinn der Sache, nie um ihrer selbst willen.
Besprochen von Carsten Hueck
Idith Zertal: Nation und Tod - Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke;
Vorwort aus dem Englischen von Felix Kurz
Wallstein Verlag, Göttingen 2011,
364 Seiten, 32,00 Euro
Zertal gehört zur Generation der "neuen Historiker", jenen jüngeren Wissenschaftlern, die in den 1990er-Jahren bekannt und teilweise als Nestbeschmutzer beschimpft wurden, weil sie sich kritisch mit Zionismus und israelischer Geschichtsschreibung auseinandersetzten. Tony Judt, der vor einem Jahr verstorbene bedeutende britische Historiker, würdigt sie im Vorwort zu Zertals Buch als "die bei weitem mutigste und originellste" jener "revisionistischen Historiker". Das mag übertrieben sein. Auf das Buch selbst trifft die Charakterisierung "mutig und originell" gleichwohl zu.
Zertal bietet messerscharfe Analysen sowie politisch und psychologisch überzeugende Überlegungen zur "fatalen Verbindung" zwischen israelischem Nationalismus und dem Tod. Anhand dreier konstituierender Niederlagen des Zionismus vor Staatsgründung - dem Kampf um Tel Chai im Oberen Galiläa, bei dem 1920 der russisch-jüdische Volksheld Joseph Trumpeldor ums Leben kam; dem aussichtslosen Aufstand in den Ghettos während des Zweiten Weltkrieges; dem gescheiterten Versuch des Flüchtlingsschiffs "Exodus", Holocaustüberlebende 1947 nach Palästina zu bringen – zeigt sie, wie es gelang, reale Niederlagen zu einem siegreichen Narrativ umzuformen, das bis heute die kollektive Erinnerung bestimmt.
Wie stark diese durch den Tod geprägt ist, zeigt sie insbesondere am Beispiel des Umgangs Israels mit dem Holocaust. Bereits vor Staatsgründung entwarf sich die jüdische Gesellschaft Palästinas als Gegenbild des Diasporajudentums, eignete sich dann aber die Rolle als Erbin und Rächerin der Opfer des Völkermords in Europa an.
Die Erinnerung an diese Opfer hat die Identität der Israelis geformt – auch wenn sie historisch, politisch und geografisch in einer ganz anderen Situation leben. Dass sie sich als "Opfergemeinschaft" verstehen, jeden ihrer Kriege mit Verweis auf den Holocaust führen, jedes politische Handeln mit Verweisen auf ihn begründen, ist für die Autorin eine Funktionalisierung der Tragödie, die zur Trivialisierung derselben führt.
Entschieden wehrt sie sich auch gegen die in der israelischen Öffentlichkeit jahrzehntelang betriebene "Nazifizierung der Araber". Dass Yitzhak Rabin mit den Palästinensern einen Friedensvertrag aushandelte, machte ihn so, im Verständnis der Rechten des Landes, zum "Judenrat", der sein Volk (und Land) verrät. Zertal legt den Finger in eine schwärende Wunde, wenn sie feststellt, dass Rabins Ermordung nicht als Symptom einer manifesten gesellschaftlichen Krankheit begriffen, sondern als eine Art technische Panne behandelt wurde.
Idith Zertal erweist sich mit diesem Buch als politische Philosophin in der Nachfolge Hannah Arendts. Sie demontiert Mythen, lässt sich vom politischen common sense nicht einschüchtern, denkt gegen den Strich mit Verve und Selbstbewusstsein, mit geistiger und moralischer Schärfe. Dabei bleibt sie souverän, wird polemisch nur im Sinn der Sache, nie um ihrer selbst willen.
Besprochen von Carsten Hueck
Idith Zertal: Nation und Tod - Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke;
Vorwort aus dem Englischen von Felix Kurz
Wallstein Verlag, Göttingen 2011,
364 Seiten, 32,00 Euro