Der vorsorgende Sozialstaat

Von Florian Felix Weyh |
Neulich im Willy-Brandt-Haus: Drei hochrangige SPD-Aktivisten ziehen den "vorsorgenden Sozialstaat" aus dem Ärmel. Sogleich werden sie vom <em>Best Ager</em> Hans-Jochen Vogel ermahnt, darüber keineswegs den "nachsorgenden Sozialstaat" zu vergessen.
Wörtlich: "Wenn du schon im neunten Lebensjahrzehnt lebst, wird die Nachsorge anschaulich." Tatsächlich? Das muss die gerühmte Reife des Alters sein! Dem Jüngeren erschließt sich die Sprachlogik einer "Nachsorge" kaum: zeitliche Hinterherbekümmerung? Rückschau im Grauen? Ach, der mündige Wähler in Deutschland hat es überhaupt schwer. Wenn er nicht regelmäßig ein kleines sprachliches Propädeutikum absolviert, rasen ihm die Politiker mit ihren Neuschöpfungen davon.

Das Wort "Vorsorge" zum Beispiel war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein mit der "Fürsorge" identisch. Noch im Grimmschen Wörterbuch erfuhr diese eine heute verblüffende Definition, nämlich als "im Gedanken und im Hinblick auf Zukünftiges beängstigende Unruhe im Innern. Fürsorge bezeichnete also nicht die Linderung einer Not, sondern die Not selbst. Das besitzanzeigende Pronomen "für" bezog sich – eigentlich überflüssig – auf die eigene Person. Erst im 20. Jahrhundert wandelte sich Fürsorge zum Synonym für materielle Hilfe. Der fürsorgliche Staat konstatiert einen Bedarf und deckt ihn dann. Nicht zur Gänze, aber doch so, dass sich nicht mehr von skandalösen Missständen sprechen lässt: Waisen haben zwar kein Elternhaus, doch ein Heim; Arbeitslose keinen Lohn, doch ein Auskommen. Weil der Staat zur Lösung dieser Aufgaben rigide Regeln setzt, haftet dem Fürsorgebegriff etwas Bevormundendes an; als Wahlkampfvokabel kam er deswegen rasch aus der Mode. Der Wähler will die Früchte der Fürsorge ernten, doch den Preis der Entmündigung nicht bezahlen. So setzte sich der inhärent leere und deshalb niemals negative Begriff des "Sozialstaats" durch: Sozial ist alles, was Gesellschaft ist; Gesellschaft alles, was soziale Prozesse überwölbt.

Dass über Generationen hinweg Wahlen mit einem sprachlichen Windbeutel gewonnen wurden, musste nun ausgerechnet die SPD-Avantgarde enthüllen. Zunächst sieht ihr Vorschlag ganz althergebracht aus: Während der Sozialstaat sich um die individuell Gestrauchelten der Gesellschaft kümmert, will der "vorsorgende Sozialstaat" das Straucheln kollektiv verhindern. Abgesehen von der naiven Hybris, die hinter einem solchen Programm steckt (und darum gut zur Machbarkeitsideologie linker Politikvorstellungen passt), weisen die praktischen Vorschläge der SPD-Vordenker allerdings in eine ganz andere Richtung. Engagierte Bildungspolitik Bildungspolitik, wie sie prominent herausgestellt wird, hat mit dem Sozialstaat gar nichts zu tun. Sie gehört zum schlichten Grundbestand des Staates an sich; das würden sogar in der Wolle gefärbte Neoliberale unterschreiben. Jeder Staat muss dahingehend Vorsorge betreiben, dass er weder kollabiert, noch verarmt, noch auseinanderfällt, noch dass es ihm an Eliten mangelt, die ihn verwalten können et cetera. Eine dem Stande der Hochzivilisation angemessene Bildungspolitik ist da eine Selbstverständlichkeit – und keineswegs ein besonderes sozialstaatliches Instrument. Ja, die dauerhafte Antizipation der Zukunft gehört zwingend zum Wesen des Staates, weil dieser im Gegensatz zum einzelnen Menschen kaum vom individuellen Tode bedroht wird. Opfert er diese weitblickende Position allerdings zu Gunsten schnöder Gegenwartsfixierung, wie regelmäßig im überschuldeten Transferstaat der Fall, der ja nur noch die kurzfristigen Bedürfnisse bedient, unterminiert er seine eigenen Fundamente.

Die SPD-Avantgarde hat also den Staat für sich entdeckt, pur und nackt und ohne Beiwerk, und könnte nun darüber nachdenken, was man künftig mit ihm anfangen soll. Die Klarheit freilich verlangte, alte Worte zu streichen, statt neue hinzuzufügen. Weg mit der "Vor"-, wie der "Nachsorge", weg mit dem überdehnten Gummibegriff "sozial" – hin zur nüchternen Präzisierung eigener Staatsvorstellungen. Um die eingeführte Marke SPD müsste dabei niemand bangen: Auch als umfirmierte "Staatstragende Partei Deutschlands" bliebe ihr das große "S" erhalten, denn eine interventionistische Kraft, die lieber zu früh eingreift, als zu spät falsche Ergebnisse gewärtigen zu müssen, wird sie so oder so bleiben. Dabei täte ihr freilich ein Gran des Scharfblicks von Georg Christoph Lichtenberg gut. Für-, wie Vorsorge – beides zu seiner Zeit sprachlich ja noch geeint – betrachtete der Frühaufklärer mit der gesunden Skepsis der Selbstkritik: "Wo Vorsorge unnütz war", schrieb er in einer Epoche ohne Rentenanstalten und Versicherungen, "da hatte ich sie; wo sie aber hätte nützlich sein können, trat der Leichtsinn ein."

So sind die Menschen eben. Und die Politik ändert nichts daran.

Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein neues Buch "Die letzte Wahl – Therapien für die leidende Demokratie" erschien im August 2007 in der Anderen Bibliothek. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin
Florian Felix Weyh© Katharina Meinel