"Der Vorteil von Comics ist, dass sie sehr konkret sind"
Gezeichnete Romane finden endlich auch in Deutschland die ihnen gebührende Beachtung. Über die Graphic Novels "Aufzeichnungen aus Jerusalem", "Berlin. Geteilte Stadt" und "Quai d'Orsay" diskutieren der Zeichner Thomas Henseler und Bodo Birk, Festivalleiter des Erlanger Comic Salons.
Maike Albath: Herzlich willkommen. Der eine ist groß, hat breite Schultern, einen winzigen Kopf, dafür eine riesige Nase. Und die Tür wirft er gern mit einem prägnanten 'Wumm!' ins Schloss. Der andere ist ein bisschen tapsig, mit einer kleinen Haartolle ausgestattet. Der Dritte wirkt sportlich und hat einen ernsten konzentrierten Gesichtsausdruck. Schließlich bereitet er gerade seine Flucht aus Ost-Berlin vor.
Die Rede ist von den Helden dreier Bücher. Und dass ich sie äußerlich beschreibe, liegt an dem Genre, um das es in der Weihnachtsausgabe unserer Sendung gehen soll: gezeichnete Romane, Bildgeschichten, die unter dem Begriff "Graphic Novels" endlich auch bei uns Beachtung finden.
Wir wollen Ihnen heute gleich mehrere dieser Bücher vorstellen. Dazu sind zwei Experten ins Studio gekommen: der Zeichner Thomas Henseler, der gerade mit Susanne Buddenberg den Band "Berlin. Geteilte Stadt" vorgelegt hat. Guten Tag, Herr Henseler.
Thomas Henseler: Hallo.
Maike Albath: Und Bodo Birk, Festivalleiter des Internationalen Comic Salon in Erlangen, seit 1984 zentraler und wichtigster Umschlagplatz für alles, was im deutschsprachigen Raum mit Bildgeschichten und grafischer Literatur zu tun hat. Guten Tag, Herr Birk.
Bodo Birk: Guten Tag.
Maike Albath: Bodo Birk, Israel, der Gaza-Streifen, Palästina, das hat in den letzten Wochen immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Ausgerechnet in dieser Weltgegend landet der Held der Graphic Novel "Aufzeichnungen aus Jerusalem" von Guy Delisle. Das ist ein Frankokanadier. Seine Hauptfigur kommt nach Jerusalem, der sanfte Mann mit der Haartolle, den ich schon erwähnt habe. Was treibt denn ein Frankokanadier in Jerusalem?
Bodo Birk: Guy Delisle ist ein Reisender in Sachen Comic, und er ist selbst unterwegs, weil er große Animationsprojekte in aller Welt betreut. Und er ist verheiratet mit einer Ärztin, die bei "Ärzte ohne Grenzen" arbeitet, und manchmal begleitet er sie auch auf ihren Reisen. Und sie hatte einen einjährigen Einsatz in Israel. Da ist sein Comic "Tagebuch. Aufzeichnungen aus Jerusalem" entstanden. Er ist bekannt geworden mit einem Buch über die chinesische Stadt Shenzhen, über Pjöngjang, zuletzt auch mit dem Tagebuch über seine Erlebnisse in Birma.
Maike Albath: Israel ist natürlich ein äußerst zwiespältiges, aufregendes Land. Gewalt und Bedrohung sind an der Tagesordnung. Aber das merkt man diesem Comic, dieser Bildgeschichte eigentlich gar nicht so sehr an. Thomas Henseler, wie ist das denn zeichnerisch gestaltet?
Thomas Henseler: Also, vom Stil her ist es eigentlich sehr einfach, ein bisschen cartoonig gehalten. Manchmal erinnert die Hauptfigur von Guy Delisle ein bisschen an das HB-Männchen mit so einer langen Nase. Es wechseln sich ganz viele Situationen ab. Es ist wie ein Tagebuch, was er erlebt mit seinen Kindern, wo die Kinder in den Kindergarten gehen. Das wechselt sich dann aber mit Kriegsberichten ab, weil seine Frau bei "Ärzte ohne Grenzen" arbeitet. Diesen Zwiespalt kriegt der Leser permanent mit.
Bodo Birk: Ich bin vor einigen Jahren mal selber in Israel gewesen. Dieser Wahnsinn im Alltag, die Bedrohung im Hintergrund und diese absurde Normalität, mit der damit umgegangen wird, das habe ich auch so empfunden, als ich selber da war.
Maike Albath: Und das wird sehr anschaulich vermittelt und auch nicht über Gebühr strapaziert. Man merkt, wie normal diese Bedrohung im Alltag ist und wie sehr dieser Held dann aber doch auch immer wieder innehält, wenn er ein Gewehr sieht oder wenn der Gaza-Streifen plötzlich nicht mehr erreichbar ist. Er wohnt ja in Ost-Jerusalem. Nun ist Gewalt ein großes Thema auch in Graphic Novels. Hat er da eine bestimmte Art und Weise, damit umzugehen? Thomas Henseler, Sie sagten gerade schon, dass das fast in den Alltag einfließt.
Thomas Henseler: Das finde ich ein bisschen zwiespältig. Guy Delisle kommt vom Trickfilm. Das merkt man seinen Zeichnungen auch an. Er kann wirklich gut Geschichten erzählen, die die Sache auf den Punkt bringen. Er setzt immer eine gute Pointe. Nur bei den Berichten aus dem Gaza-Streifen dachte ich, hm, na, ob jetzt die Zeichnungen noch dazu passen? Ich glaube, er selber reflektiert das auch. Er wurde zum Beispiel von Journalisten eingeladen, auf den Gaza-Hügel zu steigen, um dort Beobachtungen zu machen. Und er hat sich vorgestellt, was er da sehen würde, und sah die Mauer mit den Explosionen dahinter. Und dann hat er abgelehnt. Da gibt’s schon diesen Zwiespalt, der auch ganz gut dargestellt wird.
Maike Albath: Wie erging es Ihnen, Bodo Birk? Wird das möglicherweise verharmlost? Oder ist die Art und Weise der Darstellung angemessen?
Bodo Birk: Guy Delisle hat eine sehr humorvolle Art, diese Dinge, auch die ganz ernsten Themen anzugehen. Das ist natürlich auch eine sehr elegante Art, solche Problematiken zu vermitteln.
Also, ich habe mich sehr amüsiert bei dem Buch, obwohl natürlich diese Bedrohung und der Wahnsinn die ganze Zeit im Hintergrund sind. Aber er hat einen sehr reduzierten Stil, einen sehr lakonischen Humor. Und gleichzeitig gibt es auch immer wieder – gar nicht pädagogisch oder didaktisch eingebaut – solche Erkenntnisse. Ich meine, im Grunde kennt man die Situation aus den Nachrichten, aber trotzdem: Wie sich diese politische Situation dann im Alltag widerspiegelt, da gibt’s ganz viele sehr komische Situationen.
Und es gibt ja andere Zeichner, wie Joe Sacco, der große Comic-Reportagen macht, die dann den schweren, ernsteren Part übernehmen. Also, er hat schon eine sehr humorvolle Art, mit den Dingen umzugehen.
Maike Albath: Und der Band "Aufzeichnungen aus Jerusalem" ist natürlich auch besonders geeignet für diejenigen, die Israel nicht kennen. Man erfährt sehr viel und lernt eine ganze Menge, ohne dass es da irgendeinen Zeigefinger gäbe.
Thomas Henseler, es gab ja früher sogar einen Comic-Code. Bis 1954 galt in den USA, dass man bestimmte Dinge eben nicht darstellen darf. Wie ist das heute? Kann man alles zeichnen, was man zeichnen möchte? Oder gibt es da auch Sperren, die man als Zeichner hat?
Thomas Henseler: Also, diesen Comic-Code haben wir ja in der Form nicht mehr. Aber die Frage ist, was angemessen ist. Joe Sacco, der vorhin erwähnt wurde, geht wirklich anders an die Dinge ran. Er ergreift auch eindeutig Partei. Er ist auf der Seite der Unterdrückten. Zum Beispiel war er auch in Palästina, hat die Leute dort interviewt. Und er zeigt alles sehr krass – gerade auch Gräueltaten.
Das ist bei Guy Delisle nicht der Fall. Er hat eine andere Haltung. Er ist eher ein Tourist vor Ort. Das Bild, das er darstellt, entwickelt sich wie ein Kaleidoskop. Und er selbst bleibt eigentlich außen vor. Es gibt ein paar Berührungspunkte mit Palästina, wo er vor Studenten eine Lesung hält. Da gibt es dann auch recht komische Situationen. Er bleibt in erster Linie eben ein Humorist.
Joe Sacco dagegen ist mehr ein Humanist, würde ich sagen, der irgendwie auch von der Darstellung sehr realistisch ist.
Maike Albath: Bodo Birk, hier hat man ja schon den Eindruck, dass diese Comics eine ganz bestimmte gesellschaftliche Funktion haben. Was können diese Bildgeschichten im Idealfall leisten?
Bodo Birk: Wir haben in diesem Jahr im Juni beim Internationalen Comic Salon eine große Ausstellung gemacht mit vielen Titeln, die aus dem Nahen Osten und aus dem arabischen Raum kommen. Da haben wir uns mit dem Comic über den arabischen Raum und aus dem arabischen Raum beschäftigt. Und da konnten wir feststellen, dass der Comic da tatsächlich, obwohl das dort eine ganz junge Szene ist, eine wichtige Rolle spielt in Kombination mit den sozialen Netzwerken.
Zum Beispiel gibt’s ja auch bei uns in Deutschland diesen sehr viel Aufmerksamkeit erregenden Internet-Comic "Zarahs Paradise", vor zwei Jahren auch als Buch herausgekommen, in dem die Grüne Revolution im Iran nachgezeichnet wird. Und auch in Ägypten und in anderen Ländern des arabischen Raums gibt es eine interessante Szene. In Palästina gibt es ein großes Projekt, "The Palestine Graphic Novel" heißt das, wo sich eine ganze Reihe von Zeichnern zusammentun.
Da werden nicht nur Themen behandelt. Sie haben das vorhin gefragt: Kann der Comic oder die Graphic Novel genauso alle Themen behandeln, wie das die Literatur oder der Film tut? Da gibt’s natürlich überhaupt keine Einschränkungen mehr. Aber diese Themen werden nicht nur behandelt, sondern der Comic spielt dort auch im politischen Prozess eine sehr existenzielle Rolle.
Maike Albath: Wir sprachen über Guy Delisle, "Aufzeichnungen aus Jerusalem", erschienen bei Reprodukt. Thomas Henseler, Sie kümmern sich in dem Band "Berlin. Geteilte Stadt", den Sie mit Susanne Buddenberg zusammen gemacht haben, um die Vergangenheit. Was können denn Bilder über Berlin anderes erzählen als zum Beispiel ein Roman oder Erzählungen?
Thomas Henseler: Ich denke, der Vorteil von Comics ist, dass sie sehr konkret sind. Was wir mit "Berlin. Geteilte Stadt" versucht haben, war, eine Brücke zu schlagen von 1961 bis 1989. Da geht’s um persönliche Geschichten, um den authentischen Ort und um historische Informationen. Man kann unser Buch auch als Reiseführer benutzen. Man kann damit vor Ort gehen, sich die entsprechenden Gebäude und Plätze anschauen.
Für uns war der Ausgangspunkt, dass es die Mauer seit über 20 Jahren nicht mehr gibt. Und die heute junge Generation weiß eigentlich nicht mehr, wie sich das anfühlt, wenn eine Mauer eine Stadt teilt und Leute, Freunde, Familien auseinandergerissen werden. Das war ein Versuch, den Comic zu wählen, um dieses Thema Leuten auf sehr einfache Weise nahe bringen zu können.
Maike Albath: Wie entgeht man denn, Bodo Birk, der Gefahr des Zeigefingers? Wie lösen das Thomas Henseler und Susanne Buddenberg?
Bodo Birk: Mir hat sich diese Problematik oder die Frage beim Lesen gar nicht gestellt. Denn das hat Herr Henseler auch gerade geschildert, dass es natürlich ein klarer Wunsch ist, da etwas aus der Vergangenheit zu vermitteln. Das Buch besteht ja nicht nur aus Comic-Geschichten über diese tatsächlichen Fluchtgeschichten und Geschichten in der ehemaligen DDR, die tatsächlich stattgefunden haben und die gründlich recherchiert sind und sehr, sehr genau nachgezeichnet werden. Sondern sie werden auch mit Informationen, mit Hintergrundinformationen kombiniert – nicht nur so, wie das öfter mal vielleicht bei einem historischen Comic geschieht: alibimäßig mit ein paar Infoseiten.
Das habe ich nicht nur als Dreingabe, sondern als grundsätzliches Konzept von Anfang an verstanden, dass mit den Comics in sehr knapper und sehr pointierter Art und Weise die konkrete Geschichte vermittelt wird. Denn gerade die Orte müssen ja nicht beschrieben werden im Comic, man sieht sie ja und die Gebäude erkennt man wieder oder kann sie auch aufsuchen. Das finde ich auch einen ganz interessanten Aspekt. Und die Hintergrundinformationen werden dann von gut geschriebenen historischen und didaktischen Texten vermittelt. Also, diese Kombination war ja von Anfang an auch der Grundgedanke dieses Buches. Insofern hat sich mir diese Zeigefingerfrage gar nicht gestellt.
Maike Albath: Thomas Henseler, der Band besticht durch diese sehr präzisen Zeichnungen. Ein Wort dazu: Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Thomas Henseler: Also, wir haben ziemlich viel in Archiven recherchiert, Dokumente durchgelesen. Aber das Wichtigste war, die Zeitzeugen zu interviewen, weil man da Informationen bekommt, die kriegt man sonst nicht aus den Texten. Wir haben auch zu allen Beteiligten ein sehr nettes Verhältnis. Am Anfang war natürlich ein bisschen Skepsis angesagt: Na was, eine Geschichte über unser Leben als Comicfigur?
Aber als wir unseren ersten Band "Grenzfall" gezeigt hatten, in dem es auch um DDR-Geschichte ging, gab's diese Skepsis eigentlich nicht mehr. Und wir konnten Vertrauen aufbauen. Und diese Geschichten der Zeitzeugen sind wie ein Geschenk gewesen, gerade auch, wenn sie ihre Fotoalben geöffnet haben und uns wirklich in ihr Leben als Gast hereingelassen hatten.
Maike Albath: Mitunter existieren Comicfiguren also tatsächlich. So ist es in dem Band "Berlin. Geteilte Stadt" von Susanne Buddenberg und Thomas Henseler. – Bodo Birk, hat sich denn so etwas wie ein Bewusstseinswandel eingestellt bei Comics? Sind sie jetzt salonfähig geworden? Sie leiten ja den Erlanger Comic Salon.
Bodo Birk: Wir arbeiten seit Jahren daran. Ja, natürlich hat sich da in den letzten Jahren etwas entwickelt, was man so gar nicht mehr für möglich gehalten hätte, nachdem nach dem ersten Entdecken der franko-belgischen Comics in den 80er-Jahren in Deutschland so etwas wie eine Stagnation eingekehrt ist. Aber in den letzten acht bis zehn Jahren ist eine ungeheure Entwicklung in Deutschland entstanden. Es gibt eine ganze Reihe toller, inzwischen auch international beachteter Zeichner, die von den deutschen Hochschulen kommen. Diese Ausbildung darf zwar nie 'Comic' heißen, aber viele von den ersten Avantgarde-Comic-Künstler der Pionierzeit sind inzwischen an Hochschulen und unterrichten. Und von diesen Hochschulen kommen ausgezeichnete neue Zeichner.
Aber man muss sagen, der Comic wird langsam entdeckt, aber wir können natürlich überhaupt nicht von einem Boom oder von einem großen Trend sprechen. Es gibt immer noch ganz wenige Menschen in Deutschland, die vom anspruchsvollen Comic-Zeichnen oder -Verlegen wirklich leben können. Die Entwicklung ist am Anfang.
Maike Albath: Also, Deutschland ist immer noch ein Entwicklungsland, was Comics angeht. – Thomas Henseler ist Zeichner von Beruf. Und wir wollen jetzt noch diskutieren über "Quai d’Orsay". Das ist ein Band über die Macht des Außenministeriums in Frankreich, von Blain und Lanzac. Wer treibt sich denn hinter den Kulissen herum?
Thomas Henseler: Ich glaube, Dominique de Villepin, der damalige Außenminister, stand Pate. Und die Hauptfigur Arthur Vlaminck ist ein Redenschreiber, der hat einen Job bei ihm bekommen. Und es geht um die Zeit, als damals Deutschland und Frankreich versucht haben, den USA im Irakkrieg entgegenzutreten. Der Band ist wirklich Comic at its best. Politik ist ja an sich ein sehr trockenes Thema. Aber das ist so toll, so witzig aufbereitet, auch ganz viele Parallelen zum Comic selber, wirklich toll.
Maike Albath: Ich habe mich auch köstlich amüsiert, gerade über diesen Minister, der die Angewohnheit hat, mit einem Textmarker, den er nach der Marke Stabilo nennt und dann sagt, er stabilosiere jetzt wieder alles. Das ist so eine Angewohnheit, die er hat, er markiert alles im Text. – Man erfährt eine Menge über die Machenschaften dort am Quai d’Orsay. Bodo Birk, diese Figuren sind ja wiedererkennbar. Es ist so eine ganz eigene Art des Zeichnens. Können Sie das noch beschreiben?
Bodo Birk: Also, wie Herr Henseler schon sagt, ich finde auch, dass das wirklich ein Buch ist, das zeigt, was Comic wirklich kann. Der erste Auftritt des Außenministers, eine einzige Seite: Er tritt auf mit dieser ungeheuren Dynamik, mit dieser ungeheuren Ausstrahlung, die mächtige Menschen haben. Und da muss man überhaupt keine Worte finden. Da muss überhaupt nichts beschrieben werden. Mit wenigen Strichen kann Christophe Blain das klarmachen.
Das ist ja sowieso eine Stärke von ihm. Es ist ja auch kein naturalistischer Stil, es ist natürlich nicht so reduziert wie bei Guy Delisle, aber trotzdem noch ein abstrahierender Stil, karikierender Stil. Auch dieser Band hat ja ein ernstes Thema – aber man muss immer wieder lachen und kann sich darüber amüsieren. Christophe Blain ist ja auch erstmal gar nicht als Autor und Zeichner von politischen Themen bekannt geworden, sondern mit "Gus", einer Westernparodie, und mit Piratengeschichten.
Wie er dieses Thema aufbereitet, das finde ich absolut neu und unfasslich. Es ist im Grunde ein Sittengemälde über die Politik an sich. Man muss sich nicht besonders für französische Politik oder für die Machenschaften in Frankreich interessieren, sondern es zeigt einfach, was Macht aus Menschen machen kann.
Maike Albath: Es ist auch sprachlich sehr witzig gestaltet, immer wieder sehr derb und deftig. Und dann zeigt er aber auch, wie Politik funktioniert, nämlich über Schlagworte – Effizienz, Einheit, Interdependenzen, solche Begriffe, die da fallen. Wie ist der Umgang mit Tempo und Rhythmus und Zeit – gerade aus zeichnerischer Perspektive, Thomas Henseler?
Thomas Henseler: Was ich hier wirklich sehr passend fand, war der Auftritt des Ministers. Der ist ja überlebensgroß dargestellt, sieht auch ein bisschen wie ein Adler aus mit einer ganz langen Nase, und rauscht immer in die Räume herein und hat ganz große Hände. Man denkt, allein dadurch kann er anderen Leuten seinen Willen aufzwingen. Was ich auch sehr nett fand, war dieser Bezug zu Tim und Struppi. Er sagt seinem Redenschreiber: "Nee, also, die Rede ist ja nicht so doll, aber ob man denn Tim und Struppi kennen würde, denn da führt ein Bild zum nächsten." Und genauso wäre es mit Reden auch.
Maike Albath: Heraklit allerdings ist auch ein Gewährsmann. Der wird auch immer wieder eingearbeitet. Wir sprachen über "Quai d’Orsay. Hinter den Kulissen der Macht" von Blain und Lanzac, erschienen im Reprodukt Verlag. – Wie ist das, Bodo Birk, nach Ihrer Erfahrung? Es fällt auf, dass doch die meisten Comic-Autoren und Zeichner Männer sind. Sind Comics eine Männerangelegenheit? Oder gibt es auch sehr viele Leserinnen, die bei Ihnen in den Comic Salon kommen?
Bodo Birk: Seit einigen Jahren ist es überhaupt keine Männerangelegenheit mehr. Wir haben eine ganze Reihe toller Künstlerinnen in Deutschland. Barbara Yelin, Isabel Kreitz, Leute, die auch international Furore machen. Und in den letzten zehn Jahren hat sich auch unser Salonpublikum und die Leserschaft der Graphic Novels deutlich verändert.
Maike Albath: Wir haben jetzt noch am Ende der Sendung Zeit für eine Lektüreempfehlung. Welchem Buch wünschen Sie viele Leser, Thomas Henseler?
Thomas Henseler: Mir hat "Der Winter des Zeichners" sehr gut gefallen, von Paco Roca. Er basiert auf realen Gegebenheiten. Es geht um eine Zeichnergruppe zur Zeit des Franco-Regimes, die bei einem Verlag angestellt waren, und da ihre künstlerische Sicherheit hatten. Sie haben sich dann aber entschlossen, ein eigenes Projekt auf den Weg zu bringen. Das fand ich sehr, sehr passend, denn so ist es bei uns Zeichnern ja eigentlich auch, eben die Frage: Arbeitet man für die Sicherheit oder macht man eher künstlerische Geschichten? Aber der Kulturstaatsminister denkt ja jetzt darüber nach, Comics zu fördern. Ich finde, das sollte er auch mal tun.
Maike Albath: Der Band "Der Winter des Zeichners" ist im Reprodukt Verlag erschienen. – Und Bodo Birk, welcher Comic hat Sie besonders fasziniert?
Bodo Birk: Ich empfehle einen Comic, der in Kürze erscheinen wird, eine grafische Gerichtsreportage von Viktoria Lomasko und Anton Nikolajew: "Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung". Ein Comic, der Prozesse grafisch dokumentiert, die in Russland gegen Künstler und Kunstvermittler und Kuratoren geführt worden sind, im Umfeld dieser Künstlergruppen, aus denen auch Pussy Riot entstammt. Das ist also eine aufregende und interessante Einblicke in die russische Szene bietende Gerichtsreportage.
Maike Albath: Und dieser Band wird bei Matthes und Seitz erscheinen. Graphic Novels, Comic-Romane standen heute im Mittelpunkt der Lesart mit Bodo Birk und Thomas Henseler. Vielen Dank für Ihren Besuch.
Guy Delisle: "Aufzeichnungen aus Jerusalem", Reprodukt
Susanne Buddenberg und Thomas Henseler: "Berlin. Geteilte Stadt", avant-Verlag
Abel Lanzac und Christophe Blain: "Quai d'Orsay. Hinter den Kulissen der Macht", Reprodukt
Paco Roca: "Der Winter des Zeichners", Reprodukt, ISBN: 978-3943143386
Viktoria Lomasko und Anton Nikolajew: "Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung", Matthes und Seitz, ISBN: 978-3-88221-984-5
Beitrag in Lesart, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio) Kurz und kritisch - Weitere in Lesart besprochene Graphic Novels:
"Die Mauer. Bericht aus Palästina" von Maximilien Le Roy, Edition Moderne, ISBN: 978-3-03731-091-5
"Metro - Kairo Underground" von Magdy El-Shafee, Edition Moderne, ISBN: 978-3-03731-099-1
"Kriegszeiten" von David Schraven und Vincent Burmeister, Carlsen Verlag, ISBN: 978-3-551-78698-2
"Alois Nebel" von Jaroslav Rudiš und Jaromír 99, Voland & Quist, ISBN: 978-3-863910-12-9
"Packeis" von Simon Schwartz, avant-Verlag, ISBN: 978-3-939080-52-7
"Henry David Thoreau: Das reine Leben" von Maximilien Le Roy, Knesebeck Verlag, ISBN: 978-3-86873-509-3
Die Rede ist von den Helden dreier Bücher. Und dass ich sie äußerlich beschreibe, liegt an dem Genre, um das es in der Weihnachtsausgabe unserer Sendung gehen soll: gezeichnete Romane, Bildgeschichten, die unter dem Begriff "Graphic Novels" endlich auch bei uns Beachtung finden.
Wir wollen Ihnen heute gleich mehrere dieser Bücher vorstellen. Dazu sind zwei Experten ins Studio gekommen: der Zeichner Thomas Henseler, der gerade mit Susanne Buddenberg den Band "Berlin. Geteilte Stadt" vorgelegt hat. Guten Tag, Herr Henseler.
Thomas Henseler: Hallo.
Maike Albath: Und Bodo Birk, Festivalleiter des Internationalen Comic Salon in Erlangen, seit 1984 zentraler und wichtigster Umschlagplatz für alles, was im deutschsprachigen Raum mit Bildgeschichten und grafischer Literatur zu tun hat. Guten Tag, Herr Birk.
Bodo Birk: Guten Tag.
Maike Albath: Bodo Birk, Israel, der Gaza-Streifen, Palästina, das hat in den letzten Wochen immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Ausgerechnet in dieser Weltgegend landet der Held der Graphic Novel "Aufzeichnungen aus Jerusalem" von Guy Delisle. Das ist ein Frankokanadier. Seine Hauptfigur kommt nach Jerusalem, der sanfte Mann mit der Haartolle, den ich schon erwähnt habe. Was treibt denn ein Frankokanadier in Jerusalem?
Bodo Birk: Guy Delisle ist ein Reisender in Sachen Comic, und er ist selbst unterwegs, weil er große Animationsprojekte in aller Welt betreut. Und er ist verheiratet mit einer Ärztin, die bei "Ärzte ohne Grenzen" arbeitet, und manchmal begleitet er sie auch auf ihren Reisen. Und sie hatte einen einjährigen Einsatz in Israel. Da ist sein Comic "Tagebuch. Aufzeichnungen aus Jerusalem" entstanden. Er ist bekannt geworden mit einem Buch über die chinesische Stadt Shenzhen, über Pjöngjang, zuletzt auch mit dem Tagebuch über seine Erlebnisse in Birma.
Maike Albath: Israel ist natürlich ein äußerst zwiespältiges, aufregendes Land. Gewalt und Bedrohung sind an der Tagesordnung. Aber das merkt man diesem Comic, dieser Bildgeschichte eigentlich gar nicht so sehr an. Thomas Henseler, wie ist das denn zeichnerisch gestaltet?
Thomas Henseler: Also, vom Stil her ist es eigentlich sehr einfach, ein bisschen cartoonig gehalten. Manchmal erinnert die Hauptfigur von Guy Delisle ein bisschen an das HB-Männchen mit so einer langen Nase. Es wechseln sich ganz viele Situationen ab. Es ist wie ein Tagebuch, was er erlebt mit seinen Kindern, wo die Kinder in den Kindergarten gehen. Das wechselt sich dann aber mit Kriegsberichten ab, weil seine Frau bei "Ärzte ohne Grenzen" arbeitet. Diesen Zwiespalt kriegt der Leser permanent mit.
Bodo Birk: Ich bin vor einigen Jahren mal selber in Israel gewesen. Dieser Wahnsinn im Alltag, die Bedrohung im Hintergrund und diese absurde Normalität, mit der damit umgegangen wird, das habe ich auch so empfunden, als ich selber da war.
Maike Albath: Und das wird sehr anschaulich vermittelt und auch nicht über Gebühr strapaziert. Man merkt, wie normal diese Bedrohung im Alltag ist und wie sehr dieser Held dann aber doch auch immer wieder innehält, wenn er ein Gewehr sieht oder wenn der Gaza-Streifen plötzlich nicht mehr erreichbar ist. Er wohnt ja in Ost-Jerusalem. Nun ist Gewalt ein großes Thema auch in Graphic Novels. Hat er da eine bestimmte Art und Weise, damit umzugehen? Thomas Henseler, Sie sagten gerade schon, dass das fast in den Alltag einfließt.
Thomas Henseler: Das finde ich ein bisschen zwiespältig. Guy Delisle kommt vom Trickfilm. Das merkt man seinen Zeichnungen auch an. Er kann wirklich gut Geschichten erzählen, die die Sache auf den Punkt bringen. Er setzt immer eine gute Pointe. Nur bei den Berichten aus dem Gaza-Streifen dachte ich, hm, na, ob jetzt die Zeichnungen noch dazu passen? Ich glaube, er selber reflektiert das auch. Er wurde zum Beispiel von Journalisten eingeladen, auf den Gaza-Hügel zu steigen, um dort Beobachtungen zu machen. Und er hat sich vorgestellt, was er da sehen würde, und sah die Mauer mit den Explosionen dahinter. Und dann hat er abgelehnt. Da gibt’s schon diesen Zwiespalt, der auch ganz gut dargestellt wird.
Maike Albath: Wie erging es Ihnen, Bodo Birk? Wird das möglicherweise verharmlost? Oder ist die Art und Weise der Darstellung angemessen?
Bodo Birk: Guy Delisle hat eine sehr humorvolle Art, diese Dinge, auch die ganz ernsten Themen anzugehen. Das ist natürlich auch eine sehr elegante Art, solche Problematiken zu vermitteln.
Also, ich habe mich sehr amüsiert bei dem Buch, obwohl natürlich diese Bedrohung und der Wahnsinn die ganze Zeit im Hintergrund sind. Aber er hat einen sehr reduzierten Stil, einen sehr lakonischen Humor. Und gleichzeitig gibt es auch immer wieder – gar nicht pädagogisch oder didaktisch eingebaut – solche Erkenntnisse. Ich meine, im Grunde kennt man die Situation aus den Nachrichten, aber trotzdem: Wie sich diese politische Situation dann im Alltag widerspiegelt, da gibt’s ganz viele sehr komische Situationen.
Und es gibt ja andere Zeichner, wie Joe Sacco, der große Comic-Reportagen macht, die dann den schweren, ernsteren Part übernehmen. Also, er hat schon eine sehr humorvolle Art, mit den Dingen umzugehen.
Maike Albath: Und der Band "Aufzeichnungen aus Jerusalem" ist natürlich auch besonders geeignet für diejenigen, die Israel nicht kennen. Man erfährt sehr viel und lernt eine ganze Menge, ohne dass es da irgendeinen Zeigefinger gäbe.
Thomas Henseler, es gab ja früher sogar einen Comic-Code. Bis 1954 galt in den USA, dass man bestimmte Dinge eben nicht darstellen darf. Wie ist das heute? Kann man alles zeichnen, was man zeichnen möchte? Oder gibt es da auch Sperren, die man als Zeichner hat?
Thomas Henseler: Also, diesen Comic-Code haben wir ja in der Form nicht mehr. Aber die Frage ist, was angemessen ist. Joe Sacco, der vorhin erwähnt wurde, geht wirklich anders an die Dinge ran. Er ergreift auch eindeutig Partei. Er ist auf der Seite der Unterdrückten. Zum Beispiel war er auch in Palästina, hat die Leute dort interviewt. Und er zeigt alles sehr krass – gerade auch Gräueltaten.
Das ist bei Guy Delisle nicht der Fall. Er hat eine andere Haltung. Er ist eher ein Tourist vor Ort. Das Bild, das er darstellt, entwickelt sich wie ein Kaleidoskop. Und er selbst bleibt eigentlich außen vor. Es gibt ein paar Berührungspunkte mit Palästina, wo er vor Studenten eine Lesung hält. Da gibt es dann auch recht komische Situationen. Er bleibt in erster Linie eben ein Humorist.
Joe Sacco dagegen ist mehr ein Humanist, würde ich sagen, der irgendwie auch von der Darstellung sehr realistisch ist.
Maike Albath: Bodo Birk, hier hat man ja schon den Eindruck, dass diese Comics eine ganz bestimmte gesellschaftliche Funktion haben. Was können diese Bildgeschichten im Idealfall leisten?
Bodo Birk: Wir haben in diesem Jahr im Juni beim Internationalen Comic Salon eine große Ausstellung gemacht mit vielen Titeln, die aus dem Nahen Osten und aus dem arabischen Raum kommen. Da haben wir uns mit dem Comic über den arabischen Raum und aus dem arabischen Raum beschäftigt. Und da konnten wir feststellen, dass der Comic da tatsächlich, obwohl das dort eine ganz junge Szene ist, eine wichtige Rolle spielt in Kombination mit den sozialen Netzwerken.
Zum Beispiel gibt’s ja auch bei uns in Deutschland diesen sehr viel Aufmerksamkeit erregenden Internet-Comic "Zarahs Paradise", vor zwei Jahren auch als Buch herausgekommen, in dem die Grüne Revolution im Iran nachgezeichnet wird. Und auch in Ägypten und in anderen Ländern des arabischen Raums gibt es eine interessante Szene. In Palästina gibt es ein großes Projekt, "The Palestine Graphic Novel" heißt das, wo sich eine ganze Reihe von Zeichnern zusammentun.
Da werden nicht nur Themen behandelt. Sie haben das vorhin gefragt: Kann der Comic oder die Graphic Novel genauso alle Themen behandeln, wie das die Literatur oder der Film tut? Da gibt’s natürlich überhaupt keine Einschränkungen mehr. Aber diese Themen werden nicht nur behandelt, sondern der Comic spielt dort auch im politischen Prozess eine sehr existenzielle Rolle.
Maike Albath: Wir sprachen über Guy Delisle, "Aufzeichnungen aus Jerusalem", erschienen bei Reprodukt. Thomas Henseler, Sie kümmern sich in dem Band "Berlin. Geteilte Stadt", den Sie mit Susanne Buddenberg zusammen gemacht haben, um die Vergangenheit. Was können denn Bilder über Berlin anderes erzählen als zum Beispiel ein Roman oder Erzählungen?
Thomas Henseler: Ich denke, der Vorteil von Comics ist, dass sie sehr konkret sind. Was wir mit "Berlin. Geteilte Stadt" versucht haben, war, eine Brücke zu schlagen von 1961 bis 1989. Da geht’s um persönliche Geschichten, um den authentischen Ort und um historische Informationen. Man kann unser Buch auch als Reiseführer benutzen. Man kann damit vor Ort gehen, sich die entsprechenden Gebäude und Plätze anschauen.
Für uns war der Ausgangspunkt, dass es die Mauer seit über 20 Jahren nicht mehr gibt. Und die heute junge Generation weiß eigentlich nicht mehr, wie sich das anfühlt, wenn eine Mauer eine Stadt teilt und Leute, Freunde, Familien auseinandergerissen werden. Das war ein Versuch, den Comic zu wählen, um dieses Thema Leuten auf sehr einfache Weise nahe bringen zu können.
Maike Albath: Wie entgeht man denn, Bodo Birk, der Gefahr des Zeigefingers? Wie lösen das Thomas Henseler und Susanne Buddenberg?
Bodo Birk: Mir hat sich diese Problematik oder die Frage beim Lesen gar nicht gestellt. Denn das hat Herr Henseler auch gerade geschildert, dass es natürlich ein klarer Wunsch ist, da etwas aus der Vergangenheit zu vermitteln. Das Buch besteht ja nicht nur aus Comic-Geschichten über diese tatsächlichen Fluchtgeschichten und Geschichten in der ehemaligen DDR, die tatsächlich stattgefunden haben und die gründlich recherchiert sind und sehr, sehr genau nachgezeichnet werden. Sondern sie werden auch mit Informationen, mit Hintergrundinformationen kombiniert – nicht nur so, wie das öfter mal vielleicht bei einem historischen Comic geschieht: alibimäßig mit ein paar Infoseiten.
Das habe ich nicht nur als Dreingabe, sondern als grundsätzliches Konzept von Anfang an verstanden, dass mit den Comics in sehr knapper und sehr pointierter Art und Weise die konkrete Geschichte vermittelt wird. Denn gerade die Orte müssen ja nicht beschrieben werden im Comic, man sieht sie ja und die Gebäude erkennt man wieder oder kann sie auch aufsuchen. Das finde ich auch einen ganz interessanten Aspekt. Und die Hintergrundinformationen werden dann von gut geschriebenen historischen und didaktischen Texten vermittelt. Also, diese Kombination war ja von Anfang an auch der Grundgedanke dieses Buches. Insofern hat sich mir diese Zeigefingerfrage gar nicht gestellt.
Maike Albath: Thomas Henseler, der Band besticht durch diese sehr präzisen Zeichnungen. Ein Wort dazu: Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Thomas Henseler: Also, wir haben ziemlich viel in Archiven recherchiert, Dokumente durchgelesen. Aber das Wichtigste war, die Zeitzeugen zu interviewen, weil man da Informationen bekommt, die kriegt man sonst nicht aus den Texten. Wir haben auch zu allen Beteiligten ein sehr nettes Verhältnis. Am Anfang war natürlich ein bisschen Skepsis angesagt: Na was, eine Geschichte über unser Leben als Comicfigur?
Aber als wir unseren ersten Band "Grenzfall" gezeigt hatten, in dem es auch um DDR-Geschichte ging, gab's diese Skepsis eigentlich nicht mehr. Und wir konnten Vertrauen aufbauen. Und diese Geschichten der Zeitzeugen sind wie ein Geschenk gewesen, gerade auch, wenn sie ihre Fotoalben geöffnet haben und uns wirklich in ihr Leben als Gast hereingelassen hatten.
Maike Albath: Mitunter existieren Comicfiguren also tatsächlich. So ist es in dem Band "Berlin. Geteilte Stadt" von Susanne Buddenberg und Thomas Henseler. – Bodo Birk, hat sich denn so etwas wie ein Bewusstseinswandel eingestellt bei Comics? Sind sie jetzt salonfähig geworden? Sie leiten ja den Erlanger Comic Salon.
Bodo Birk: Wir arbeiten seit Jahren daran. Ja, natürlich hat sich da in den letzten Jahren etwas entwickelt, was man so gar nicht mehr für möglich gehalten hätte, nachdem nach dem ersten Entdecken der franko-belgischen Comics in den 80er-Jahren in Deutschland so etwas wie eine Stagnation eingekehrt ist. Aber in den letzten acht bis zehn Jahren ist eine ungeheure Entwicklung in Deutschland entstanden. Es gibt eine ganze Reihe toller, inzwischen auch international beachteter Zeichner, die von den deutschen Hochschulen kommen. Diese Ausbildung darf zwar nie 'Comic' heißen, aber viele von den ersten Avantgarde-Comic-Künstler der Pionierzeit sind inzwischen an Hochschulen und unterrichten. Und von diesen Hochschulen kommen ausgezeichnete neue Zeichner.
Aber man muss sagen, der Comic wird langsam entdeckt, aber wir können natürlich überhaupt nicht von einem Boom oder von einem großen Trend sprechen. Es gibt immer noch ganz wenige Menschen in Deutschland, die vom anspruchsvollen Comic-Zeichnen oder -Verlegen wirklich leben können. Die Entwicklung ist am Anfang.
Maike Albath: Also, Deutschland ist immer noch ein Entwicklungsland, was Comics angeht. – Thomas Henseler ist Zeichner von Beruf. Und wir wollen jetzt noch diskutieren über "Quai d’Orsay". Das ist ein Band über die Macht des Außenministeriums in Frankreich, von Blain und Lanzac. Wer treibt sich denn hinter den Kulissen herum?
Thomas Henseler: Ich glaube, Dominique de Villepin, der damalige Außenminister, stand Pate. Und die Hauptfigur Arthur Vlaminck ist ein Redenschreiber, der hat einen Job bei ihm bekommen. Und es geht um die Zeit, als damals Deutschland und Frankreich versucht haben, den USA im Irakkrieg entgegenzutreten. Der Band ist wirklich Comic at its best. Politik ist ja an sich ein sehr trockenes Thema. Aber das ist so toll, so witzig aufbereitet, auch ganz viele Parallelen zum Comic selber, wirklich toll.
Maike Albath: Ich habe mich auch köstlich amüsiert, gerade über diesen Minister, der die Angewohnheit hat, mit einem Textmarker, den er nach der Marke Stabilo nennt und dann sagt, er stabilosiere jetzt wieder alles. Das ist so eine Angewohnheit, die er hat, er markiert alles im Text. – Man erfährt eine Menge über die Machenschaften dort am Quai d’Orsay. Bodo Birk, diese Figuren sind ja wiedererkennbar. Es ist so eine ganz eigene Art des Zeichnens. Können Sie das noch beschreiben?
Bodo Birk: Also, wie Herr Henseler schon sagt, ich finde auch, dass das wirklich ein Buch ist, das zeigt, was Comic wirklich kann. Der erste Auftritt des Außenministers, eine einzige Seite: Er tritt auf mit dieser ungeheuren Dynamik, mit dieser ungeheuren Ausstrahlung, die mächtige Menschen haben. Und da muss man überhaupt keine Worte finden. Da muss überhaupt nichts beschrieben werden. Mit wenigen Strichen kann Christophe Blain das klarmachen.
Das ist ja sowieso eine Stärke von ihm. Es ist ja auch kein naturalistischer Stil, es ist natürlich nicht so reduziert wie bei Guy Delisle, aber trotzdem noch ein abstrahierender Stil, karikierender Stil. Auch dieser Band hat ja ein ernstes Thema – aber man muss immer wieder lachen und kann sich darüber amüsieren. Christophe Blain ist ja auch erstmal gar nicht als Autor und Zeichner von politischen Themen bekannt geworden, sondern mit "Gus", einer Westernparodie, und mit Piratengeschichten.
Wie er dieses Thema aufbereitet, das finde ich absolut neu und unfasslich. Es ist im Grunde ein Sittengemälde über die Politik an sich. Man muss sich nicht besonders für französische Politik oder für die Machenschaften in Frankreich interessieren, sondern es zeigt einfach, was Macht aus Menschen machen kann.
Maike Albath: Es ist auch sprachlich sehr witzig gestaltet, immer wieder sehr derb und deftig. Und dann zeigt er aber auch, wie Politik funktioniert, nämlich über Schlagworte – Effizienz, Einheit, Interdependenzen, solche Begriffe, die da fallen. Wie ist der Umgang mit Tempo und Rhythmus und Zeit – gerade aus zeichnerischer Perspektive, Thomas Henseler?
Thomas Henseler: Was ich hier wirklich sehr passend fand, war der Auftritt des Ministers. Der ist ja überlebensgroß dargestellt, sieht auch ein bisschen wie ein Adler aus mit einer ganz langen Nase, und rauscht immer in die Räume herein und hat ganz große Hände. Man denkt, allein dadurch kann er anderen Leuten seinen Willen aufzwingen. Was ich auch sehr nett fand, war dieser Bezug zu Tim und Struppi. Er sagt seinem Redenschreiber: "Nee, also, die Rede ist ja nicht so doll, aber ob man denn Tim und Struppi kennen würde, denn da führt ein Bild zum nächsten." Und genauso wäre es mit Reden auch.
Maike Albath: Heraklit allerdings ist auch ein Gewährsmann. Der wird auch immer wieder eingearbeitet. Wir sprachen über "Quai d’Orsay. Hinter den Kulissen der Macht" von Blain und Lanzac, erschienen im Reprodukt Verlag. – Wie ist das, Bodo Birk, nach Ihrer Erfahrung? Es fällt auf, dass doch die meisten Comic-Autoren und Zeichner Männer sind. Sind Comics eine Männerangelegenheit? Oder gibt es auch sehr viele Leserinnen, die bei Ihnen in den Comic Salon kommen?
Bodo Birk: Seit einigen Jahren ist es überhaupt keine Männerangelegenheit mehr. Wir haben eine ganze Reihe toller Künstlerinnen in Deutschland. Barbara Yelin, Isabel Kreitz, Leute, die auch international Furore machen. Und in den letzten zehn Jahren hat sich auch unser Salonpublikum und die Leserschaft der Graphic Novels deutlich verändert.
Maike Albath: Wir haben jetzt noch am Ende der Sendung Zeit für eine Lektüreempfehlung. Welchem Buch wünschen Sie viele Leser, Thomas Henseler?
Thomas Henseler: Mir hat "Der Winter des Zeichners" sehr gut gefallen, von Paco Roca. Er basiert auf realen Gegebenheiten. Es geht um eine Zeichnergruppe zur Zeit des Franco-Regimes, die bei einem Verlag angestellt waren, und da ihre künstlerische Sicherheit hatten. Sie haben sich dann aber entschlossen, ein eigenes Projekt auf den Weg zu bringen. Das fand ich sehr, sehr passend, denn so ist es bei uns Zeichnern ja eigentlich auch, eben die Frage: Arbeitet man für die Sicherheit oder macht man eher künstlerische Geschichten? Aber der Kulturstaatsminister denkt ja jetzt darüber nach, Comics zu fördern. Ich finde, das sollte er auch mal tun.
Maike Albath: Der Band "Der Winter des Zeichners" ist im Reprodukt Verlag erschienen. – Und Bodo Birk, welcher Comic hat Sie besonders fasziniert?
Bodo Birk: Ich empfehle einen Comic, der in Kürze erscheinen wird, eine grafische Gerichtsreportage von Viktoria Lomasko und Anton Nikolajew: "Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung". Ein Comic, der Prozesse grafisch dokumentiert, die in Russland gegen Künstler und Kunstvermittler und Kuratoren geführt worden sind, im Umfeld dieser Künstlergruppen, aus denen auch Pussy Riot entstammt. Das ist also eine aufregende und interessante Einblicke in die russische Szene bietende Gerichtsreportage.
Maike Albath: Und dieser Band wird bei Matthes und Seitz erscheinen. Graphic Novels, Comic-Romane standen heute im Mittelpunkt der Lesart mit Bodo Birk und Thomas Henseler. Vielen Dank für Ihren Besuch.
Guy Delisle: "Aufzeichnungen aus Jerusalem", Reprodukt
Susanne Buddenberg und Thomas Henseler: "Berlin. Geteilte Stadt", avant-Verlag
Abel Lanzac und Christophe Blain: "Quai d'Orsay. Hinter den Kulissen der Macht", Reprodukt
Paco Roca: "Der Winter des Zeichners", Reprodukt, ISBN: 978-3943143386
Viktoria Lomasko und Anton Nikolajew: "Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung", Matthes und Seitz, ISBN: 978-3-88221-984-5
Beitrag in Lesart, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio) Kurz und kritisch - Weitere in Lesart besprochene Graphic Novels:
"Die Mauer. Bericht aus Palästina" von Maximilien Le Roy, Edition Moderne, ISBN: 978-3-03731-091-5
"Metro - Kairo Underground" von Magdy El-Shafee, Edition Moderne, ISBN: 978-3-03731-099-1
"Kriegszeiten" von David Schraven und Vincent Burmeister, Carlsen Verlag, ISBN: 978-3-551-78698-2
"Alois Nebel" von Jaroslav Rudiš und Jaromír 99, Voland & Quist, ISBN: 978-3-863910-12-9
"Packeis" von Simon Schwartz, avant-Verlag, ISBN: 978-3-939080-52-7
"Henry David Thoreau: Das reine Leben" von Maximilien Le Roy, Knesebeck Verlag, ISBN: 978-3-86873-509-3