Der Wahnsinn eines Massakers
Vor 75 Jahren verübten japanische Truppen in Nanking fast zwei Monate lang Gräueltaten an der Zivilbevölkerung. Ha Jin erzählt in seinem Roman die Geschichte von Minnie Vautrin, die tausenden Menschen in der damaligen chinesischen Hauptstadt das Leben rettete.
Nach 100 Seiten ist bereits ein hoher Eintrittspreis an den Roman entrichtet. "Der Fall der Hauptstadt" ist dieser erste Teil des Buches überschrieben - ein Sturz in eine Hölle: Massenvergewaltigungen und Plünderungen, gefolterte und ermordete Babys, Exekutionen von Tausenden Männern, Frauen, Kindern. All dies wird angedeutet, ausgeführt, bis der Atem stockt beim Lesen.
Schonungslos, in seiner ihm eigenen klaren, langsamen und expliziten Sprache erzählt Ha Jin von dem am 13. Dezember 1937 begonnenen Exodus. Japanische Truppen sollen in anderthalb Monaten mindestens 200.000 Zivilisten und Kriegsgefangene getötet und 20.000 Frauen vergewaltigt haben.
Das Massaker in der damaligen chinesischen Hauptstadt Nanking gilt als barbarischer Höhepunkt des zweiten japanisch-chinesischen Krieges, der da bereits vier Monate andauerte. Eine Kapitulation des Humanismus vor dem Ausnahmezustand Krieg.
Bis vor wenigen Jahren wurde selbst in China viel geschwiegen über das Nanking-Massaker, das trotzdem tief im chinesischen Bewusstsein gegenüber Japan verankert ist. Überlieferungen gibt es in Fülle: Fotografien, Beobachter- und Opferberichten. Aus diesem Material sind bereits Doku-Fiktionen entstanden; Bücher und Filme über den deutschen Geschäftsmann John Rabe etwa.
Aus Tagebüchern und Dokumenten heraus hat der Autor Ha Jin nun eine andere historische Figur destilliert: die der amerikanischen Missionarin Wilhelmine "Minnie" Vautrin, die neben Rabe eine der wenigen Ausländerinnen war, die in der Stadt ausharrten und tätig wurden.
Gemeinsam mit einem kleinen - vornehmlich weiblichen - Stab richtet die Nonne ein Flüchtlingslager für Frauen und Kinder ein, in das sich zeitweise bis zu 10.000 Menschen zurückziehen. Das Grundstück und die Gebäude des Jingling College, das Minnie Vautrin leitet, werden zum Camp. Das allerdings nur bedingt Schutz bieten kann.
Japanische Befehlshaber suchen die Schulleiterin auf mit der Forderung nach Frauen für ein "Freizeitzentrum". In die Enge getrieben gibt sie nach:
"Nur unter einer Bedingung – die Frauen müssen einverstanden sein. Gut, dann wählen Sie."
An dieser Szene und an der Gewissheit, nicht mehr Frauen vor den Vergewaltigungen und Folterungen retten zu können, zerbricht Minnie Vautrin schließlich, aus dem Trauma heraus nimmt sie sich drei Jahre nach dem Massaker das Leben.
Die Taten der "Göttin der Barmherzigkeit", wie Minnie Vautrin von den Chinesen genannt wird, sind aus der Sicht der fiktiven Assistentin Angling erzählt, deren Sohn eine Japanerin heiratet. Diese eingebettete Beobachterin ermöglicht es, dass man es zumindest immer wieder schafft, von den Monstrositäten zurückzutreten in einen Alltag, in dem Freund und Feind relative Größen sind.
Ha Jin, gebürtiger Chinese und seit den 80er-Jahren in den USA, hat fünf Jahre an "Nanking Requiem" geschrieben. Seine preisgekrönten Geschichten und Romane spielen in der chinesischen Vergangenheit oder im chinesischen Immigrantenmilieu der USA.
Doch es ist hier beileibe keine nationalhistorische Kulisse für eine schmissige Story, die der Autor mit der Wahl seines Themas aufbaut – es ist der erste literarisch ernstzunehmende und sehr gewagte Versuch, eine ästhetische Ebene in den Wahnsinn des Nanking-Massakers einzuziehen.
Das Ergebnis ist zweifellos eine Zumutung. Die nicht jedem angeraten sein kann. Denn dies ist eine Geschichte, in die man hineingeht, um als ein anderer wieder herauszukommen. Sein Buch sei eine Fußnote, sagt Ha Jin, nicht mehr. Für eine künstlerische Vermittlung des Ungeheuerlichen ist sie erst ein Anfang. Es werden noch viele Totenmessen nötig sein.
Besprochen von Katrin Schumacher
Ha Jin: Nanking Requiem
Aus dem Amerikanischen von Susanne Hornfeck
Ullstein Verlag, Berlin 2012
343 Seiten, 22,99 Euro
Schonungslos, in seiner ihm eigenen klaren, langsamen und expliziten Sprache erzählt Ha Jin von dem am 13. Dezember 1937 begonnenen Exodus. Japanische Truppen sollen in anderthalb Monaten mindestens 200.000 Zivilisten und Kriegsgefangene getötet und 20.000 Frauen vergewaltigt haben.
Das Massaker in der damaligen chinesischen Hauptstadt Nanking gilt als barbarischer Höhepunkt des zweiten japanisch-chinesischen Krieges, der da bereits vier Monate andauerte. Eine Kapitulation des Humanismus vor dem Ausnahmezustand Krieg.
Bis vor wenigen Jahren wurde selbst in China viel geschwiegen über das Nanking-Massaker, das trotzdem tief im chinesischen Bewusstsein gegenüber Japan verankert ist. Überlieferungen gibt es in Fülle: Fotografien, Beobachter- und Opferberichten. Aus diesem Material sind bereits Doku-Fiktionen entstanden; Bücher und Filme über den deutschen Geschäftsmann John Rabe etwa.
Aus Tagebüchern und Dokumenten heraus hat der Autor Ha Jin nun eine andere historische Figur destilliert: die der amerikanischen Missionarin Wilhelmine "Minnie" Vautrin, die neben Rabe eine der wenigen Ausländerinnen war, die in der Stadt ausharrten und tätig wurden.
Gemeinsam mit einem kleinen - vornehmlich weiblichen - Stab richtet die Nonne ein Flüchtlingslager für Frauen und Kinder ein, in das sich zeitweise bis zu 10.000 Menschen zurückziehen. Das Grundstück und die Gebäude des Jingling College, das Minnie Vautrin leitet, werden zum Camp. Das allerdings nur bedingt Schutz bieten kann.
Japanische Befehlshaber suchen die Schulleiterin auf mit der Forderung nach Frauen für ein "Freizeitzentrum". In die Enge getrieben gibt sie nach:
"Nur unter einer Bedingung – die Frauen müssen einverstanden sein. Gut, dann wählen Sie."
An dieser Szene und an der Gewissheit, nicht mehr Frauen vor den Vergewaltigungen und Folterungen retten zu können, zerbricht Minnie Vautrin schließlich, aus dem Trauma heraus nimmt sie sich drei Jahre nach dem Massaker das Leben.
Die Taten der "Göttin der Barmherzigkeit", wie Minnie Vautrin von den Chinesen genannt wird, sind aus der Sicht der fiktiven Assistentin Angling erzählt, deren Sohn eine Japanerin heiratet. Diese eingebettete Beobachterin ermöglicht es, dass man es zumindest immer wieder schafft, von den Monstrositäten zurückzutreten in einen Alltag, in dem Freund und Feind relative Größen sind.
Ha Jin, gebürtiger Chinese und seit den 80er-Jahren in den USA, hat fünf Jahre an "Nanking Requiem" geschrieben. Seine preisgekrönten Geschichten und Romane spielen in der chinesischen Vergangenheit oder im chinesischen Immigrantenmilieu der USA.
Doch es ist hier beileibe keine nationalhistorische Kulisse für eine schmissige Story, die der Autor mit der Wahl seines Themas aufbaut – es ist der erste literarisch ernstzunehmende und sehr gewagte Versuch, eine ästhetische Ebene in den Wahnsinn des Nanking-Massakers einzuziehen.
Das Ergebnis ist zweifellos eine Zumutung. Die nicht jedem angeraten sein kann. Denn dies ist eine Geschichte, in die man hineingeht, um als ein anderer wieder herauszukommen. Sein Buch sei eine Fußnote, sagt Ha Jin, nicht mehr. Für eine künstlerische Vermittlung des Ungeheuerlichen ist sie erst ein Anfang. Es werden noch viele Totenmessen nötig sein.
Besprochen von Katrin Schumacher
Ha Jin: Nanking Requiem
Aus dem Amerikanischen von Susanne Hornfeck
Ullstein Verlag, Berlin 2012
343 Seiten, 22,99 Euro