Dr. Ulrike Ackermann, geb. 1957, Studium der Politik, Soziologie und Neueren Deutschen Philologie in Frankfurt/Main., ab 1977 Zusammenarbeit mit der Charta 77, dem polnischen KOR, der Solidarnosc und anderen Bürgerrechtsbewegungen in Ostmitteleuropa.
Sie ist Professorin für Politikwissenschaften und Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung in Heidelberg. Sie war verantwortliche Redakteurin der "Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft", wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung, Gründerin und Leiterin des Europäischen Forums an der Berlin-Brandenburgischen Akademie für Wissenschaften.
Auf nach Pragmatien!
"Das hat den Staat zur Hölle gemacht, dass man ihn zu seinem Himmel machen wollte", sagte Hölderlin. Tatsache ist: Utopien haben etwas Totalitäres an sich. Wie wäre es, das Gegenteil zu loben, das Land Pragmatien, in dem man auf Realitätssinn und Machbarkeiten setzt?
Zugegeben, es ist im Moment angesichts des Weltenlaufs nicht immer einfach, nicht hysterisch zu werden und keinen Verschwörungstheorien aufzusitzen. Etwa im Blick auf die ehemalige europäische Schutzmacht, deren Bürger sich einen Antipolitiker gewählt haben, der antiwestliche Ressentiments bedient und Putin gegenüber den US-amerikanischen Sicherheitsdiensten in Schutz nimmt.
Zugleich erfreut sich der neoimperiale Autokrat Putin in Europa immer größerer Beliebtheit, obwohl er mit Millionenbeträgen rechts- und linkspopulistische Parteien subventioniert und einen offenen Cyberkrieg gegen den Westen führt.
Reden wir gar nicht erst vom tödlichen Islamismus und dem Krieg in Syrien. Obendrein stärkt es nicht gerade das Sicherheitsgefühl der Bürger, wenn die Außengrenzen der EU immer noch ungeschützt sind, und wir bisher keine Einigkeit darüber gefunden haben, wie wir mit unkontrollierter Migration umgehen wollen.
Es sind nicht nur diffuse Ängste, von denen populistische Bewegungen und Parteien profitieren. Sondern ganz reale Verwerfungen und soziale Spaltungen, die unsere bisher liberalen, offenen Gesellschaften, ihre demokratischen Institutionen im Kern berühren, uns vor ganz neue Herausforderungen stellen.
Die Heilsbringer versprechen etwas, bringen es aber nicht
Angesichts dieser recht ungemütlichen Lage verwundert es nicht, dass inzwischen überall in Europa rechte und linke Heilsbringer unterwegs sind, die Erlösung vom Übel der bösen Welt versprechen. Auch wenn die großen Sozialutopien ihre Hochzeit im 19. Jahrhundert hatten, ist die Sehnsucht nach Harmonie, Übersichtlichkeit, perfekt funktionierenden Gemeinwesen ohne Konflikte und einem Staat, der wie ein gütiger Vater über allem wacht, nicht verschwunden.
Doch die großen ideologischen Pläne für eine perfekte Gesellschaft, gar die Schaffung eines neuen Menschen, sind allesamt gescheitert. Demokratie und Pluralismus der Lebensstile siegten zumindest im Westen über alle totalitären Experimente der Vergangenheit.
Natürlich ist es beunruhigend, wenn in immer mehr europäischen Ländern fremdenfeindliche, restaurative und autoritäre Tendenzen stärker werden, immer mehr Menschen nach einer starken Hand rufen, die das Volk führen soll.
Die Kluft zwischen Eliten und "Abgehängten"
Doch für den Vertrauensverlust der Volksparteien kann man nicht einzig das Wahlvolk verantwortlich machen. Die immer größer gewordene Kluft zwischen politischer Klasse und Bürgern ist lange übersehen worden, ob in Brüssel, Rom, Wien, Paris, Berlin, Warschau und eben auch Washington.
Der zuweilen etwas hochmütig-mitleidige Blick der urbanen, kosmopolitischen, global vernetzten Eliten auf die sogenannten "Abgehängten" in der Provinz wird diesen Graben kaum überbrücken helfen.
Unserer Krise ist weder mit dramatischen Szenarien des Untergangs zu begegnen, noch mit moralisch aufgeladener Politik. Sondern mit klaren Analysen und mutigen gesellschaftlichen Debatten, die in konfliktreicher Erfahrung und alltäglicher Vernunft gründen.
Ein kluger Pragmatismus ist jetzt gefragt, der auf große Visionen, die endgültige Lösungen versprechen, verzichtet.
Versuch und Irrtum haben uns die Fortschritte der offenen Gesellschaft beschert. Gutes Regieren kann ja auch bedeuten, dass unsere Funktionseliten einen neuen Realitätssinn entwickeln. Oder wie wäre es mit der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien, wie Haftung und Verantwortung?
Auch die Besinnung auf die parlamentarisch-repräsentative Demokratie wird klüger sein als fragwürdige Plebiszite. Und mit Washington sollten wir trotz Trump die Beziehungen aufrechterhalten – nicht zuletzt wegen des angelsächsischen Pragmatismus, der besser als sein Ruf ist.
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?