Der Weg zum Göttlichen

Der in Ungarn geborene und in Berlin lebende Schriftsteller László Krasznahorkai beschreibt in seinem Erzählungsband "Seiobo auf Erden" Begegnungen mit dem Göttlichen in scheinbaren Nebensächlichkeiten.
Ein seltsamerer Prosaband ist in den letzten Jahren nicht erschienen. "Seiobo auf Erden" des Ungarn László Krasznahorkai enthält 17 sehr unterschiedliche Erzählungen. Gemeinsam sind ihnen auf den ersten Blick nur Zahlen von 1 bis 2584, die den Titeln vorangestellt sind. Sie bilden die sogenannte Fibonacci-Reihe, die viele Dichter als Code der Welterzeugung fasziniert hat. (Krasznahorkai lässt die "0" und die primäre "1" aus, bevor sich dann die jeweils nächste Zahl aus der Summe der zwei hervorgehenden ergibt: 1, 2, 3, 5...).

Die zweite Gemeinsamkeit der Erzählungen sind über mehrere Seiten ausschwingende, jedoch gut lesbare Sätze. Die junge Übersetzerin Heike Flemming hat sie auf bewundernswerte Weise übertragen.

Den Einbruch des Unbegreiflichen in eine geschlossene Welt schilderte Krasznahorkai in seinen frühen Werken. Danach wandte er sich Asien zu. In seinem neuen Band sucht er in Europa wie in Asien das Heilige, die jenseitige Welt hienieden, "auf Erden", und erweist sich erneut als größter Mystiker unter den Schriftstellern der Gegenwart.

Krasznahorkai begegnet das Heilige nicht in Kirchen oder Tempeln. Sondern in einem stundenlang regungslos dastehenden japanischen Vogel, um den herum alles in Bewegung ist. In Szenen aus dem biblischen Buch Esther, die in der Werkstatt Botticellis auf zwei Truhen gemalt werden. Im Blick eines konservierten und wieder aufgestellten Buddhas. In einem Bildnis des toten Christi, der für den Betrachter die Augen aufschlägt. Auf der Akropolis, die in gleißender Sonne für den Reisenden ohne Sonnenbrille schmerzhaft unsichtbar bleibt. Bei der Herstellung der Theatermaske eines Gottes. In einer Ikone, aus der die Heilige Dreieinigkeit den Betrachter, einen mittellosen Immigranten aus Osteuropa, in Barcelona anblickt. In einem umschwärmten Schauspieler, der mit einer Maske die Göttin Seiobo spielt und sich vor der Aufführung nur auf der Toilette sammeln kann. Das sind die Handlungskerne der ersten acht Erzählungen, die keinesfalls mystisch, frömmelnd oder weihevoll wie stellenweise etwa die Bücher Peter Handkes sind.

Weil dem Heiligen bei Krasznahorkai nicht umstandslos zu begegnen ist, beschreiben seine Erzählungen menschliche Annäherungen. Weil das Andere aber stets plötzlich hervortritt, nähert sich Krasznahorkai diesem Augenblick mit größtmöglicher Genauigkeit, mit kunstvoller Verzögerung. Er referiert ausführlich kunsthistorische Diskussionen über die Frage, ob das Gemälde des toten Christi von Tizian, Giorgione, Bellini oder einem Namenlosen gemalt worden ist. Er erwähnt jede Straße Venedigs, durch die sein Protagonist eilt. Er schildert die Handhabung immer feinerer Schablonen beim Schnitzen der Maske der Göttin.

Das Buch ist eine Lobpreisung traditionellen, meist handwerklichen Tuns im Europa der Renaissance und dem gegenwärtigen Japan. Denn die Versenkung in eine Tätigkeit, die die langen Sätze nachbilden, ebnet für Krasznahorkai trotz unvermeidbarer menschlicher Fehler den Weg zum Göttlichen.

Das Buch wirkt, als sei es aus dem Stamm der oft erwähnten, für japanische Riten zentralen Honiko-Zypresse herausgearbeitet: handgreiflich und zugleich unbegreiflich. Eine faszinierende, weltentrückende und lange nachwirkende Lektüre.


Besprochen von Jörg Plath



László Krasznahorkai: "Seiobo auf Erden", Erzählungen,
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming,
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010,
463 Seiten, 22,95 Euro