Der Weltherrschaftsgedanke
Von geschichtsmächtigen Menschen wissen wir, seit es mündlich oder schriftlich überlieferte Geschichte gibt. Aber erst mit Alexander dem Großen und seiner Entwicklung eines ersten ökumenischen Weltherrschaftsgedankens begann eine neue Weltepoche in Sachen geschichtlicher Überlieferung.
Seit Homers Ilias-Helden, seit den Philisterkriegen des Alten Israel gab es immer wieder Herrscher, überragende Kriegsherrscher. Nur einer aber hat in der alten Welt das Format eines Weltherrschers erreicht: Alexander der Große. Was war das für ein Mensch?
"Hoch gewachsen war er nicht. Im Gegenteil: Er war klein, aber stämmig. Seinen Soldaten reichte er gerade mal bis zur Schulter, also ein Meter fünfzig, wenn’s hoch kommt. "
Dennoch, dieser muskulöse klein geratene Mann wurde "der Große" schlechthin. Alexander, ein Napoleon der Antike, ein militärischer Führer, wie ihn die Alte Welt noch nicht erlebt hatte. Kaum neunzehnjährig brach der junge König aus Makedonien auf, um die Griechen im Süden niederzuwerfen. Plutarch reportiert die folgende Begebenheit:
"Als Alexander stolz und froh zurückgeritten kam, jubelten ihm alle zu. Sein Vater aber soll Freudentränen vergossen haben. Beim Absitzen küsste er seinen Sohn und sagte zu ihm: "Mein Sohn, such dir ein Reich, das deiner würdig ist, denn Makedonien ist zu klein für dich"."
Das Interessante aber ist: Der junge Alexander ist begierig auf die Bildung, auf die Religion seiner Zeit. Er kannte seinen Homer mit all den martialischen Männer-Ritualen. Er saß zu Füßen des Aristoteles; drei Jahre lang lernte er vom großen Praxis-Philosophen Aristoteles Wetterkunde, Militärstrategie und die schicksalhaften Beziehungskämpfe der Götter. Vor allem aber war und blieb er ein hervorragender Reiter und ein absolut wagemutiger Kämpfer. Kein lange abwägender tausendmal vorausdenkender Taktiker – nein, eher ein Abenteurer, gerade im Krieg.
"Der Abenteurer ist ein Fantast in der Konzeption, ein Intrigant in der Methode, ein Held in der Aktion."
Eine Umschreibung von Jean Paul Sartre, auf die kleinen Helden des zwanzigsten Jahrhunderts gemünzt. Abenteuerlich war in jedem Fall der Entschluss Alexanders, das persische Weltreich anzugreifen, er, ein David gegen Goliath. Am Fluss Granikos preschte der kleine König mit seiner Elitekavallerie in die Reihen der Perser, machte die Gegner nieder, gnadenlos. Diese erste Schlacht mit den übermächtigen Persern wies ihn schon als genialen Blitzkriegsstrategen, als Genie im Taktischen aus.
Die Siege aber machten den ehrgeizigen jungen Herrscher größenwahnsinnig. Er entschied, von Anatolien aus nach Süden zu marschieren, die gesamte Mittelmeerküste des Perserreichs zu besitzen. Ein Sturm, von der heutigen Türkei über den Libanon, Israel bis nach Ägypten. Den Seestreitkräften der Perser wurden die Basis-Stationen in den Städten genommen. Das Mittelmeer fiel an Alexander.
Der jugendliche König lenkt die Kämpfe vom Streitwagen aus, oder vom Pferd, tollkühn. Weiter stürmt er, nach Ägypten, nach Babylon.
Christoph Koch, Alexanderforscher, erläutert:
"Das war revolutionär – noch nie war ein Europäer Pharao in Ägypten, seit Jahrtausenden nicht. Alexander aber wurde … zu jenem halbgöttlichen Wesen, ohne dessen Handeln die fruchtbringende Frucht des Nil ausbleiben würde … Der oberste Priester des (ägyptischen) Tempels (in der Oase Siwa) begrüßte Alexander als Göttersohn.
Und der war sich nun gewiss, dass ihn tatsächlich niemand aufhalten würde. Jetzt ging es ihm um alles, um die Weltherrschaft."
Er brach auf, um bis ans Ende der Welt zu ziehen, weit in den Osten, bis nach Indien. Er zieht in Babylon ein, der damals größten Metropole. Die Invasionstruppen werden nicht bekämpft. Im Gegenteil, man begrüßt den Fremdling als neuen Herrscher. Und Alexander übernimmt geschickt das orientalische Verständnis von Herrschaft, wonach der König hoch über allen Sterblichen zu verehren ist, wie ein Gott.
Erfolgsversessen, und von Allmachtswahn getrieben besetzt er 331 vor Christus schließlich auch Persepolis, das spirituelle Zentrum des persischen Reiches. Doch hier widerstehen die Einwohner. Alexander geht brutal vor, brennt den Herrscherpalast nieder, schändet die heiligen Stätten, überlässt die alte Stadt seinen Söldnern zur Plünderung. Und die Anpassung an die fremde Staatsreligion geht weiter.
Alexander-Forscher Koch beschreibt:
"Alexander begann, persische Rituale einzuführen: Kniefälle vor dem Großkönig und Handküsse … "
Um das Perserreich in den Griff zu bekommen, erfand er eine Verschmelzungspolitik:
"Perser werden für sein Heer rekrutiert, opportunistische Eliten in hohe Ämter berufen."
Wer nicht pariert, wird exekutiert. Bessos, der letzte persische Gegenkönig wird schließlich gefangen und nackt seinen Truppen zur Schau gestellt. Dann lässt der große Alexander seinen Gegner auspeitschen, Nase und Ohren abschneiden.
Alexander ist auf dem Weg zur Weltmacht zum kleinen, niederträchtigen Angsthasen geworden, der niemanden neben sich zu dulden vermag, der ihn auch nur leise zu kritisieren wagt.
4.300 Kilometer ist sein Heer nun entfernt von Makedonien, angetrieben vom Herrschaftswahn des 32-Jährigen. Alexander aber treibt die Soldaten an, durch Wüsten, Treibsand und ein Spalier von Hass der unterjochten Landesbewohner. Geiseltötungen, Rache-Aktionen werden zur letzten, verzweifelten Selbstbehauptungstaktik.
Michael Wood, einer der kompetentesten Kenner, urteilt:
"Von nun an begannen die Makedonen ihr wahres Gesicht zu zeigen: Sie wüteten in einem alten Kulturkreis wie die Conquistadores der Alten Welt. "
Alexander plant den Rückzug. Verfällt aber körperlich mehr und mehr. Am 10. Juni 323 stirbt er an schwerem Fieber, nur 32 Jahre alt.
Ein Weltherrscher? Die Urteile differieren. Oliver Stone, der Regisseur des Alexander-Films aus Hollywood, kommentiert gut amerikanisch:
"Alexander war wie ein Rockstar, ein junger Mensch, der seine Vision hatte und sie weiter-, weiter-, weitertrieb. … Er schaffte es bis ans Ende der Welt, es war ein Leben on the run… Natürlich hatte er auch ein hässliches Gesicht, war ein brutaler Killer. Aber nur gegenüber denen, die ihn verraten hatten."
So Oliver Stone, Kriegsfilme-Macher aus Hollywood über einen der ersten weltpolitischen Gewaltherrscher. Ganz anders Maximilian Schell, der in seiner Jugend den großen Alexander bewunderte. Der aber heute urteilt:
"Ich habe Alexander den Großen … bewundert… Aber was er tat, war genauso schlimm wie das, was jetzt im Irak passiert.
Er war ein imponierender Feldherr, aber sein Charakter war ruhelos. Warum musste er Persien unterwerfen? … Muss man die Welt durch Krieg ändern? Sollte man nicht schauen, dass die Menschen in Frieden leben?"
Das Weltreich Roms ging auf die tiefe Friedens-Sehnsucht der Menschen ein, anders als Alexander. Auch Rom baute sein Weltreich: In einem riesigen Gebiet – von der Mündung des Rheins bis zum Schwarzen Meer, von der Bretagne bis nach Tunesien, von der Straße von Gibraltar bis nach Konstantinopel, ja bis zum Euphrat im heutigen Irak.
Die Kaiser Roms, Augustus vor allen anderen, stellen sich betont dar als Friedensbringer. Frieden? Die Pax Romana ist eine von oben diktierte Ordnung im riesigen Reich, ein durch Siege gefestigter Friede. Sehr beredt ist hier die Sprache der römischen Münzen.
"Kaiser Commodus zu Pferde, hinter ihm Victoria, die Göttin, die ihn bekränzt, … darunter am Boden sitzend ein gefesselter Gefangener, auf dessen Kopf das Pferd des Kaisers den linken Vorderhuf setzt … Der Kaiser, über einen waffenlos am Boden liegenden Gegner hinweggaloppierend, der einen Arm flehentlich erhebt. "
Entscheidend aber ist die religiöse Begründung dieser Gewaltherrschaft. Horaz preist den Kaiser Augustus – wörtlich – als "Gott auf Erden". Die Überhöhung des Kaisers ins Übermenschliche wird zur Systemstruktur. Gebete für den Kaiser, Gelübde, opfern für den Herrscher – und jegliches Zuwiderhandeln blutig verfolgen – offenbar sind das die immer wiederkehrenden innerpolitischen Repressions-Maßnahmen aller Weltherrscher.
Klaus Schmidt, ein Erforscher der Antike, kommentiert:
"Die Römer waren nicht die ersten und die Amerikaner werden vielleicht nicht die letzten sein, die sich als göttlich bestimmte Führungsmacht zur Durchsetzung des Weltfriedens verstanden und verstehen. Alexander der Große Philipp II., in dessen Reich die Sonne nicht unterging, Elisabeth I, die die spanische Sonne dann doch zum Sinken brachte – schließlich wir (Deutsche), an deren Wesen einmal die Welt genesen sollte. Die Reihe ist lang, der Wahn war leider selten kurz, sehr zum Leidwesen betroffener Völker."
Schließlich übernahmen die Amerikaner die weltherrschaftliche Rolle Roms, bauten das Capitol nach, um dann ihre heilspolitische Bestimmung (manifest destiny) voll zu behaupten, die Nachfolger sämtlicher Weltreiche zu sein, über das British Empire noch hinaus.
"Unsere Glaubensüberzeugungen müssen verbunden sein mit einem Kreuzzugseifer, um die Schlacht für den Frieden zu gewinnen."
So rief Richard Nixon am Ende des Vietnam-Krieges. Glaubens-Überzeugungen? Kreuzzugs-Pathos? Lange vor George Bush’s Aufruf zum Kreuzzug gegen "das Böse" also wird in Amerika die Weltpolitik auch religiös begründet, von einer Sekten-Religiösität her allerdings, die Gute und Böse sauber trennbar hält, die wähnt, der Welt das Gute bringen zu sollen, zuvor jedoch das Böse ausrotten zu müssen.
"Unsere Erfahrung ist, dass wir nicht nur uns, sondern auch die Welt retten können,"
so Walter Russel Mead, Berater George Bush’s am 7. Februar 2002. Sätze, die das alte Sendungsbewusstsein Amerikas erkennen lassen, ein Bewusstsein, das gerade heute penetrant religiös geprägt ist.
Religiöse Motive amerikanischer Weltherrschaft?
Nein, nur aus den wirtschaftlichen Profit-Zwängen eines spätkapitalistischen Systems lässt sich die Machtpolitik der USA herleiten, war die Gegenthese der deutschen Linken 1968.
Befangen im vulgärmarxistischen Schema von ökonomischer Basis und rhetorisch ideologischem Überbau, sahen die Studenten nicht, dass es noch andere, irrationale Antriebsmomente gerade der westlich atlantischen Politik gibt. Und das Öl? Sicher, es geht auch um Öl, um geostrategische Ressourcensicherung. Leitend aber sind selbst dabei die Weltbilder, die schemes of meaning der Politik, die alles fundierenden Legitimierungen.
"Macht und Selbstinteresse" hatte Hans Morgenthau und seine Chicagoer Politologie-Schule demgegenüber als primären Handlungsimpuls der USA gesehen, ein Erklärungsmuster, das bis heute hartnäckig die deutsche Diskussion dominiert.
Längst haben amerikanische Historiker wie Daniel Boorstin und Arthur Schlesinger jedoch bis ins Detail analysiert: Irrationale Beweggründe, genauer, nationaler Sendungsglauben und politisches Missionsbewusstsein formen Denken und Handeln der amerikanischen Gesellschaft bis in deren Auslegung des Völkerrechts hinein. Und nie ist von amerikanischer Machtpolitik das trans-rationale, das national-religiöse Antriebsmoment einfach abzuziehen. Wer es unterschätzt, wird gerade die heutige Politik der USA nur als kühle Machtpolitik deuten können und sie damit europäisch missverstehen.
"Wir sind wie eine Stadt, gebaut auf einem Berge, die Augen der Welt sind auf uns gerichtet, weil wir uns im Bund mit Gott wissen,"
so propagiert Pfarrer Bulkeley schon um 1640, erst zwanzig Jahre nach der Landung der ersten Puritaner drüben in Neu-England.
So und ähnlich Hunderte von Stimmen der kolonialen Frühzeit. Ihr Glaube an das anbrechende Gottesreich verbindet sich mit dem Glauben an Amerika als der erwählten Nation vor anderen.
Was den Zurückbleibenden im alten Kontinent Europa wieder und wieder nicht zuteil wurde, hier glaubt man es vor den eigenen Augen zu sehen: Die riesigen Weiten zwischen Michigan See und dem Mississippi, es ist das Gelobte Land, das dem Volk Israel verheißen worden war. Der Sklaverei aus Ägypten – dem alten Europa – entkommen, gehört man jetzt eben zu jener "Stadt auf dem Berge". Naiver Allmachtswahn?
Was europäische Völker übersehen, ist das ungeheure Errettungsgefühl der in Amerika Einwandernden: Die Neue Welt war und ist für sie vor allem ein Zufluchtsland. Es ist eben auch dieses Bewusstsein, entronnen zu sein, was zum Erwählungsglauben führt. Und ebenso zum Gefühl einer besonderen Mission, einer weltpolitischen Verantwortung.
Von Eroberung, ja Erlösung der Welt durch Amerikas Demokratie hören wir singen. Religiöses Klima auch hier, biblische Motive, aber nun imperial politisiert, ja fundamentalistisch radikalisiert.
"Amerika ist nach göttlicher Vorsehung zur Erleuchtung und Emanzipation des versklavten Teils der Menschheit" bestimmt."
Dieser moralische Anspruch "der Menschheit zu dienen", mit dem Wilson im Mai 1914 die Intervention in Mexiko rechtfertigt, führt in praxi dann wieder und wieder zu jenem "moral-imperialism", der die Doppeldeutigkeit jeder idealistisch-missionarischen Politik ausmacht: Je ungebrochener die Überzeugung von der moralischen Rechtschaffenheit der eigenen Absichten herrscht, desto eher wird die daraus folgende Politik offen imperialistisch.
Unter Wilson intervenieren die USA militärisch in Mexiko, Haiti, der Dominikanischen Republik, Kuba und Nicaragua, führen also mehr Besetzungs- und Kontrollaktionen auf fremdem Territorium durch, als je zuvor unter einem anderen Präsidenten. Obwohl Wilson ein theoretischer Gegner des frühen amerikanischen Imperialismus von Theodore Roosevelt ist, glaubt er sich doch moralisch legitimiert, ja, prädestiniert zum bewaffneten Eingriff in die Belange anderer Völker.
In dieser selbstgewählten Rolle einer monumentalen Polizeimacht, einer "Vormundschaft" (Theodore Roosevelt) über nicht-amerikanische Nationen konzentrieren sich die alten Motive des "Manifest Destiny", ein politisierter Fundamentalismus und ein imperialer Philanthropismus.
Das "traditionelle Gefühl einer universellen moralischen Sendung Amerikas" – eine Formulierung Henry Kissingers – wird aber heute erst, in der Präsidentschaft des jüngeren Bush, regelrecht radikalisiert zur religiösen Pflicht, in jedes Land der Welt einzufallen, wenn es als "finster", als terroristisch hingestellt wird.
""Neben die alten demokratischen Prinzipien ist (in den USA) etwas Neues getreten", kommentiert der französische Historiker Emmanuel Todd, "ein oligarchisches, plutokratisches, militaristisches System, das um sich schlägt, wenn es sich in Bedrängnis wähnt… Aber die Welt ist dabei, sich neu zu organisieren, an den USA vorbei". "
Das ist, scheint es, eine klassisch französisch-europäische Deutung, welche die religiös weltanschauliche Rasanz der neuen US-Weltherrschaft gehörig unterschätzt.
Die endgeschichtliche Vernichtung der dunklen Mächte wird als Politikprogramm proklamiert. Ein schicksalhaftes Geschichtsdrama wird von der letzten großen Supermacht in Gang gesetzt und soll – so will es die Washingtoner Administration – bis zum Endsieg durchgespielt werden.
Bush wörtlich:
"Der Ruf der Geschichte ist an das richtige Land gegangen. Die Freiheit, die wir so hoch schätzen, ist nicht Amerikas Gabe an die Welt, sondern Gottes Geschenk an die Menschheit – Wir opfern uns für die Freiheit von Fremden."
Hier spricht nicht der erste Diener seines Staates. Hier spricht der "Erlöser".
Viele Präsidenten der Vereinigten Staaten haben die Bibel zitiert. Ohne religiöse Legitimierung stünden sie nackt da, als bloße Welt-Machtpolitiker. George Bush aber setzt sich selbst an die Stelle des Messias der Endzeit. Und er maßt sich die weltgeschichtliche Rolle Jesus an. Denn in der Tradition der christlichen Kirchen ist es allein dieser Jesus aus Nazareth, der jugendliche Befreier, in dessen Geist Menschen ihre Ketten zerreißen und Völker aufstehen werden gegen die Diktatoren.
Fast eine Tragikkomödie der Weltgeschichte spielt sich da vor unseren Augen ab. Auch George W. Bush ist ja ein jugendlicher Heros. Wenn er dem Helicopter entsteigt, als heiter grüßender Weltherrscher, dann erscheint ein sportiver, selbst gesalbter Gegen-Messias im Türrahmen.
Aber man muss nicht viel vom Neuen Testament wissen, um zu erkennen: Diese "Befreiung", die Bush seit 2003 im Irak exekutiert, war von hinten bis vorne eine vollendet anti-jesuanische Handlung, eben das komplette Gegenstück zum gewaltfreien Veränderungsstil des jüdischen Messias aus Nazareth.
Die Lebensform Jesu? Ist das nicht eine falsche Kategorie? Ein Verwechseln der Deutungs-Ebenen? Eine theologische Über-Interpretation, wo es doch um pure Machtpolitik geht, um Großmannssucht, die sich nur religiös verkleidet? Wäre es doch so. Hätten wir es doch noch zu tun mit dem guten, alten Imperialismus, der sein "Gott mit uns" auf dem Koppelschloss trägt, und sein "In God we trust" auf der Dollarnote, aber im übrigen den lieben Gott einen guten Mann sein lässt, oberhalb der politischen Sphäre.
Die Europäer tun gut daran, die religiösen Strategie-Begründungen der Amerikaner bitter ernst zu nehmen, sie nicht länger kontinental "aufgeklärt" zu belächeln oder als rhetorische Floskeln abzutun. Die Deutschen speziell könnten beizeiten aufhören, den Verantwortungsträgern jenseits des Ozeans die gleiche stupide Religions-Inkompetenz zu unterstellen, die hier bei uns an der Tagesordnung ist.
Man möchte hoffen dürfen, dass nicht die nackte Machtlust die letzte Triebfeder der neuen US-Weltmacht-Strategie ist, sondern eben diese alte Versuchung, die Welt tatsächlich vom Bösen reinigen zu sollen und den noch nie dagewesenen Weltfrieden zu erzwingen, jetzt endlich. Aber genau das war – nach dem Neuen Testament – die große Versuchung Jesu durch "den Satan" in der Wüste. Es war das faszinierende Angebot, aus "Steinen Brot werden zu lassen", sprich, die Armut auf dem Globus endgültig zu beseitigen und "alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit" zu überbieten mit der eigenen Super-Autorität (Matthäus 4,3,8), und sei es mit Gewalt.
Es steht zu befürchten, dass die gläubige Crew im heutigen Washington dieser Versuchung "Satans" weiterhin nachgeben wird. Mit Feuer und Schwert.
"Ich bin der Sieg.
Mein Vater ist der Krieg.
Der Friede ist mein lieber Sohn,
der gleicht meinem Vater schon."
( Erich Fried)
Diese Logik, und das ist das Beunruhigende, versteht die nicht endenden (infinite) Überfälle in fremde Länder als den aufopfernden Kampf für die Freiheit. Und das bedeutet, die Freiheit existiert letztlich nur im Kampf gegen die Unfreiheit. Die heutige Welt rutscht auf diese Weise in den Zustand einer atemlosen Mobilmachung. Der Ausnahmezustand herrscht. Auf unabsehbare Zeit.
Europa muss daher begreifen: Die nächsten Kriege sind vorprogrammiert. Ja, die kommenden Differenzen zwischen den politischen Kulturen hüben und drüben werden ungleich deutlicher zutage treten als die gewesenen. Da nützt kein joviales shake hands auf Weltgipfeln. Keine Flucht mehr in die wohlige Beherrschung durch den großen Bruder. Europa muss die befreiende Wahrheit endlich akzeptieren: Es gibt für unsere Völker kein Zurück mehr in eine Weltordnung, die mit Blut erkauft wird. Jürgen Habermas:
"Es ist nach allem, was geschehen ist, prinzipiell auch keine politische Theorie mehr akzeptabel, die die potentiellen Opfer von vornherein einer weltgeschichtlichen Mission versichert."
Die Weltherren kommen und gehen. Alexander der Große, die Herren in Rom, dann die deutschen Kaiser vom Mittelalter bis zu unserem Kaiser Wilhelm von 1918. Vom großdeutschen Führer einmal zu schweigen. Sie kommen und gehen nicht, wie der Winter - auf den Sommer folgt -. Sie müssen gestürzt werden, von unten. Oder selber stürzen, blind vor Größenwahn.
Gegen Alexander erhob sich noch keine Gegenkraft. Erst die römischen Kaiser stießen auf die kleinen Widerstandsgruppen junger Christen. Während Kaiser Augustus im fernen Rom noch ahnungslos schlief, wird in Nazareth, am Ostrand seines Weltreiches ein Kind geboren, das die antike Staatsdiktatur von unten her auffliegen lässt, ohne jede Militärgewalt. Das Frühchristentum eroberte die Herzen, und motivierte die Ohnmächtigen, die Randgruppen zu einer unblutigen Herrschaftskritik neuer Art. Der Berliner Philosoph Michael Theunissen dazu:
"Das aufsässige herrschaftskritische Christentum hat die antike Sklavengesellschaft in die Feudalgesellschaft vorangetrieben und diese in die bürgerliche. "
Entweder, man stand auf gegen die Macht oder man unterwarf sich. Ein Entweder Oder – bis heute. Mit Ernst Blochs berühmter Alternative:
"Aut Christus aut Cäsar."
Entweder die Befreiung ohne Blut und Tränen oder die Diktatur von oben, die zuschlagende Herrschaft.
Die Weltherrschaften brachen aber in der Neuzeit noch ganz anders zusammen. Nämlich an der totalen Unterschätzung des Gegners. Dazu Karl Deutsch, der als erster diese Gesetzmäßigkeit in der Neuzeit entdeckt hat. Der Harvard-Professor stellt fest:
"Von allen staatlichen Entscheidungen, die den Ausbruch großer Kriege seit 1910 zur Folge hatten, erwiesen sich etwa drei Fünftel als falsch… Die Entscheidung der Deutschen, 1939 Polen und 1941 Russland anzugreifen… die Entscheidung der Japaner, die Vereinigten Staaten 1941 anzugreifen…"
Warum falsch? Nun, Hitler unterschätzte das Militärpotential der Sowjetunion komplett. Er fiel ein und kam schon am 5. Dezember 1941 zum Stillstand vor Moskau. Das war das Ende. Die Gegenwehr der Russen, ihre wachsende Bereitschaft, ihre Heimat zu verteidigen, war dann das Zweite. Auch das hatte Hitler total unterschätzt. Warum?
Die Hitler-Deutschen verachteten eben die Polen und die Russen zutiefst, trauten ihnen nichts Siegreiches zu. Das Dritte ist dann die natürliche Folge: Diejenigen, die man zutiefst verachtete, kommen über einen, besiegen die Arroganten.
Auch in Vietnam: die Weltherrschaft der USA kam nicht zum Ziel, zur Vernichtung der Vietnamesen. Wir sahen am 2. Mai 1975 abends, im Fernsehen – ich zitiere einen Reporter:
"Die letzten Amerikaner, in Helicopter absetzend vom Dach der US-Botschaft in Saigon. Die Kamera schwenkt über auf vietnamesische Hilfskräfte, um Hilfe schreiend, an Riesenhubschrauber gehängt, hochgezogen – und abstürzend ins Chinesische Meer. Nur die geschlagenen Militärberater, CIA-Agenten und Sonderkommandos retten sich auf ein Bergungsschiff weit, weit draußen. "
Im Frühjahr 2003 fielen die westlichen Großmächte USA und Großbritannien mit einer hochkomplexen Streitmacht im Irak ein. Präzisionsbomben mit zentimetergenauer Zielsicherheit durchschlugen die Lehmdächer alter Wüstenstädte. Am 1. Mai 2003 erklärte der Weltherrscher aus Washington in triumphaler Pose einen Sieg. Schon im Spätsommer 2003 jedoch der komplette Kulissenwechsel.
Das eroberte Land wehrt sich, will gar nicht von den Eindringlingen befreit werden. Der US-Zivilverwalter Paul Bremer stolpert von einer Fehleinschätzung in die Nächste. Paul Bremer – wo ist dieser Versager heute?
Kurz, selten wurde ein großtechnologischer Angriff ähnlich stümperhaft kalkuliert und logistisch buchstäblich in den Sand gesetzt. Die weiteren Folgen sehen wir Abend für Abend im Fernsehen. Und die Alternative ?
"Es gibt beides in den letzten sechzig Jahren: die Kriege und die Herrschaftsgewalt auf der einen Seite. Aber es gibt zum ersten Mal auch das andere … weite soziale Friedensbewegungen, die Kriege beenden helfen. Viele Menschen ahnen, dass in solchen Friedensinitiativen heute eine Kraft der Vernunft lebt, die hellsichtiger ist als das angstvolle Setzen auf Stärke. (Viele Bürger sehen: Rüstungspolitik und Angriffslust sind übermächtig auf dem Plan. Aber ebenso wirklich sind sie, die friedenswilligen Bürger, da. Mit ihrer größeren Vernunft.)"
"Hoch gewachsen war er nicht. Im Gegenteil: Er war klein, aber stämmig. Seinen Soldaten reichte er gerade mal bis zur Schulter, also ein Meter fünfzig, wenn’s hoch kommt. "
Dennoch, dieser muskulöse klein geratene Mann wurde "der Große" schlechthin. Alexander, ein Napoleon der Antike, ein militärischer Führer, wie ihn die Alte Welt noch nicht erlebt hatte. Kaum neunzehnjährig brach der junge König aus Makedonien auf, um die Griechen im Süden niederzuwerfen. Plutarch reportiert die folgende Begebenheit:
"Als Alexander stolz und froh zurückgeritten kam, jubelten ihm alle zu. Sein Vater aber soll Freudentränen vergossen haben. Beim Absitzen küsste er seinen Sohn und sagte zu ihm: "Mein Sohn, such dir ein Reich, das deiner würdig ist, denn Makedonien ist zu klein für dich"."
Das Interessante aber ist: Der junge Alexander ist begierig auf die Bildung, auf die Religion seiner Zeit. Er kannte seinen Homer mit all den martialischen Männer-Ritualen. Er saß zu Füßen des Aristoteles; drei Jahre lang lernte er vom großen Praxis-Philosophen Aristoteles Wetterkunde, Militärstrategie und die schicksalhaften Beziehungskämpfe der Götter. Vor allem aber war und blieb er ein hervorragender Reiter und ein absolut wagemutiger Kämpfer. Kein lange abwägender tausendmal vorausdenkender Taktiker – nein, eher ein Abenteurer, gerade im Krieg.
"Der Abenteurer ist ein Fantast in der Konzeption, ein Intrigant in der Methode, ein Held in der Aktion."
Eine Umschreibung von Jean Paul Sartre, auf die kleinen Helden des zwanzigsten Jahrhunderts gemünzt. Abenteuerlich war in jedem Fall der Entschluss Alexanders, das persische Weltreich anzugreifen, er, ein David gegen Goliath. Am Fluss Granikos preschte der kleine König mit seiner Elitekavallerie in die Reihen der Perser, machte die Gegner nieder, gnadenlos. Diese erste Schlacht mit den übermächtigen Persern wies ihn schon als genialen Blitzkriegsstrategen, als Genie im Taktischen aus.
Die Siege aber machten den ehrgeizigen jungen Herrscher größenwahnsinnig. Er entschied, von Anatolien aus nach Süden zu marschieren, die gesamte Mittelmeerküste des Perserreichs zu besitzen. Ein Sturm, von der heutigen Türkei über den Libanon, Israel bis nach Ägypten. Den Seestreitkräften der Perser wurden die Basis-Stationen in den Städten genommen. Das Mittelmeer fiel an Alexander.
Der jugendliche König lenkt die Kämpfe vom Streitwagen aus, oder vom Pferd, tollkühn. Weiter stürmt er, nach Ägypten, nach Babylon.
Christoph Koch, Alexanderforscher, erläutert:
"Das war revolutionär – noch nie war ein Europäer Pharao in Ägypten, seit Jahrtausenden nicht. Alexander aber wurde … zu jenem halbgöttlichen Wesen, ohne dessen Handeln die fruchtbringende Frucht des Nil ausbleiben würde … Der oberste Priester des (ägyptischen) Tempels (in der Oase Siwa) begrüßte Alexander als Göttersohn.
Und der war sich nun gewiss, dass ihn tatsächlich niemand aufhalten würde. Jetzt ging es ihm um alles, um die Weltherrschaft."
Er brach auf, um bis ans Ende der Welt zu ziehen, weit in den Osten, bis nach Indien. Er zieht in Babylon ein, der damals größten Metropole. Die Invasionstruppen werden nicht bekämpft. Im Gegenteil, man begrüßt den Fremdling als neuen Herrscher. Und Alexander übernimmt geschickt das orientalische Verständnis von Herrschaft, wonach der König hoch über allen Sterblichen zu verehren ist, wie ein Gott.
Erfolgsversessen, und von Allmachtswahn getrieben besetzt er 331 vor Christus schließlich auch Persepolis, das spirituelle Zentrum des persischen Reiches. Doch hier widerstehen die Einwohner. Alexander geht brutal vor, brennt den Herrscherpalast nieder, schändet die heiligen Stätten, überlässt die alte Stadt seinen Söldnern zur Plünderung. Und die Anpassung an die fremde Staatsreligion geht weiter.
Alexander-Forscher Koch beschreibt:
"Alexander begann, persische Rituale einzuführen: Kniefälle vor dem Großkönig und Handküsse … "
Um das Perserreich in den Griff zu bekommen, erfand er eine Verschmelzungspolitik:
"Perser werden für sein Heer rekrutiert, opportunistische Eliten in hohe Ämter berufen."
Wer nicht pariert, wird exekutiert. Bessos, der letzte persische Gegenkönig wird schließlich gefangen und nackt seinen Truppen zur Schau gestellt. Dann lässt der große Alexander seinen Gegner auspeitschen, Nase und Ohren abschneiden.
Alexander ist auf dem Weg zur Weltmacht zum kleinen, niederträchtigen Angsthasen geworden, der niemanden neben sich zu dulden vermag, der ihn auch nur leise zu kritisieren wagt.
4.300 Kilometer ist sein Heer nun entfernt von Makedonien, angetrieben vom Herrschaftswahn des 32-Jährigen. Alexander aber treibt die Soldaten an, durch Wüsten, Treibsand und ein Spalier von Hass der unterjochten Landesbewohner. Geiseltötungen, Rache-Aktionen werden zur letzten, verzweifelten Selbstbehauptungstaktik.
Michael Wood, einer der kompetentesten Kenner, urteilt:
"Von nun an begannen die Makedonen ihr wahres Gesicht zu zeigen: Sie wüteten in einem alten Kulturkreis wie die Conquistadores der Alten Welt. "
Alexander plant den Rückzug. Verfällt aber körperlich mehr und mehr. Am 10. Juni 323 stirbt er an schwerem Fieber, nur 32 Jahre alt.
Ein Weltherrscher? Die Urteile differieren. Oliver Stone, der Regisseur des Alexander-Films aus Hollywood, kommentiert gut amerikanisch:
"Alexander war wie ein Rockstar, ein junger Mensch, der seine Vision hatte und sie weiter-, weiter-, weitertrieb. … Er schaffte es bis ans Ende der Welt, es war ein Leben on the run… Natürlich hatte er auch ein hässliches Gesicht, war ein brutaler Killer. Aber nur gegenüber denen, die ihn verraten hatten."
So Oliver Stone, Kriegsfilme-Macher aus Hollywood über einen der ersten weltpolitischen Gewaltherrscher. Ganz anders Maximilian Schell, der in seiner Jugend den großen Alexander bewunderte. Der aber heute urteilt:
"Ich habe Alexander den Großen … bewundert… Aber was er tat, war genauso schlimm wie das, was jetzt im Irak passiert.
Er war ein imponierender Feldherr, aber sein Charakter war ruhelos. Warum musste er Persien unterwerfen? … Muss man die Welt durch Krieg ändern? Sollte man nicht schauen, dass die Menschen in Frieden leben?"
Das Weltreich Roms ging auf die tiefe Friedens-Sehnsucht der Menschen ein, anders als Alexander. Auch Rom baute sein Weltreich: In einem riesigen Gebiet – von der Mündung des Rheins bis zum Schwarzen Meer, von der Bretagne bis nach Tunesien, von der Straße von Gibraltar bis nach Konstantinopel, ja bis zum Euphrat im heutigen Irak.
Die Kaiser Roms, Augustus vor allen anderen, stellen sich betont dar als Friedensbringer. Frieden? Die Pax Romana ist eine von oben diktierte Ordnung im riesigen Reich, ein durch Siege gefestigter Friede. Sehr beredt ist hier die Sprache der römischen Münzen.
"Kaiser Commodus zu Pferde, hinter ihm Victoria, die Göttin, die ihn bekränzt, … darunter am Boden sitzend ein gefesselter Gefangener, auf dessen Kopf das Pferd des Kaisers den linken Vorderhuf setzt … Der Kaiser, über einen waffenlos am Boden liegenden Gegner hinweggaloppierend, der einen Arm flehentlich erhebt. "
Entscheidend aber ist die religiöse Begründung dieser Gewaltherrschaft. Horaz preist den Kaiser Augustus – wörtlich – als "Gott auf Erden". Die Überhöhung des Kaisers ins Übermenschliche wird zur Systemstruktur. Gebete für den Kaiser, Gelübde, opfern für den Herrscher – und jegliches Zuwiderhandeln blutig verfolgen – offenbar sind das die immer wiederkehrenden innerpolitischen Repressions-Maßnahmen aller Weltherrscher.
Klaus Schmidt, ein Erforscher der Antike, kommentiert:
"Die Römer waren nicht die ersten und die Amerikaner werden vielleicht nicht die letzten sein, die sich als göttlich bestimmte Führungsmacht zur Durchsetzung des Weltfriedens verstanden und verstehen. Alexander der Große Philipp II., in dessen Reich die Sonne nicht unterging, Elisabeth I, die die spanische Sonne dann doch zum Sinken brachte – schließlich wir (Deutsche), an deren Wesen einmal die Welt genesen sollte. Die Reihe ist lang, der Wahn war leider selten kurz, sehr zum Leidwesen betroffener Völker."
Schließlich übernahmen die Amerikaner die weltherrschaftliche Rolle Roms, bauten das Capitol nach, um dann ihre heilspolitische Bestimmung (manifest destiny) voll zu behaupten, die Nachfolger sämtlicher Weltreiche zu sein, über das British Empire noch hinaus.
"Unsere Glaubensüberzeugungen müssen verbunden sein mit einem Kreuzzugseifer, um die Schlacht für den Frieden zu gewinnen."
So rief Richard Nixon am Ende des Vietnam-Krieges. Glaubens-Überzeugungen? Kreuzzugs-Pathos? Lange vor George Bush’s Aufruf zum Kreuzzug gegen "das Böse" also wird in Amerika die Weltpolitik auch religiös begründet, von einer Sekten-Religiösität her allerdings, die Gute und Böse sauber trennbar hält, die wähnt, der Welt das Gute bringen zu sollen, zuvor jedoch das Böse ausrotten zu müssen.
"Unsere Erfahrung ist, dass wir nicht nur uns, sondern auch die Welt retten können,"
so Walter Russel Mead, Berater George Bush’s am 7. Februar 2002. Sätze, die das alte Sendungsbewusstsein Amerikas erkennen lassen, ein Bewusstsein, das gerade heute penetrant religiös geprägt ist.
Religiöse Motive amerikanischer Weltherrschaft?
Nein, nur aus den wirtschaftlichen Profit-Zwängen eines spätkapitalistischen Systems lässt sich die Machtpolitik der USA herleiten, war die Gegenthese der deutschen Linken 1968.
Befangen im vulgärmarxistischen Schema von ökonomischer Basis und rhetorisch ideologischem Überbau, sahen die Studenten nicht, dass es noch andere, irrationale Antriebsmomente gerade der westlich atlantischen Politik gibt. Und das Öl? Sicher, es geht auch um Öl, um geostrategische Ressourcensicherung. Leitend aber sind selbst dabei die Weltbilder, die schemes of meaning der Politik, die alles fundierenden Legitimierungen.
"Macht und Selbstinteresse" hatte Hans Morgenthau und seine Chicagoer Politologie-Schule demgegenüber als primären Handlungsimpuls der USA gesehen, ein Erklärungsmuster, das bis heute hartnäckig die deutsche Diskussion dominiert.
Längst haben amerikanische Historiker wie Daniel Boorstin und Arthur Schlesinger jedoch bis ins Detail analysiert: Irrationale Beweggründe, genauer, nationaler Sendungsglauben und politisches Missionsbewusstsein formen Denken und Handeln der amerikanischen Gesellschaft bis in deren Auslegung des Völkerrechts hinein. Und nie ist von amerikanischer Machtpolitik das trans-rationale, das national-religiöse Antriebsmoment einfach abzuziehen. Wer es unterschätzt, wird gerade die heutige Politik der USA nur als kühle Machtpolitik deuten können und sie damit europäisch missverstehen.
"Wir sind wie eine Stadt, gebaut auf einem Berge, die Augen der Welt sind auf uns gerichtet, weil wir uns im Bund mit Gott wissen,"
so propagiert Pfarrer Bulkeley schon um 1640, erst zwanzig Jahre nach der Landung der ersten Puritaner drüben in Neu-England.
So und ähnlich Hunderte von Stimmen der kolonialen Frühzeit. Ihr Glaube an das anbrechende Gottesreich verbindet sich mit dem Glauben an Amerika als der erwählten Nation vor anderen.
Was den Zurückbleibenden im alten Kontinent Europa wieder und wieder nicht zuteil wurde, hier glaubt man es vor den eigenen Augen zu sehen: Die riesigen Weiten zwischen Michigan See und dem Mississippi, es ist das Gelobte Land, das dem Volk Israel verheißen worden war. Der Sklaverei aus Ägypten – dem alten Europa – entkommen, gehört man jetzt eben zu jener "Stadt auf dem Berge". Naiver Allmachtswahn?
Was europäische Völker übersehen, ist das ungeheure Errettungsgefühl der in Amerika Einwandernden: Die Neue Welt war und ist für sie vor allem ein Zufluchtsland. Es ist eben auch dieses Bewusstsein, entronnen zu sein, was zum Erwählungsglauben führt. Und ebenso zum Gefühl einer besonderen Mission, einer weltpolitischen Verantwortung.
Von Eroberung, ja Erlösung der Welt durch Amerikas Demokratie hören wir singen. Religiöses Klima auch hier, biblische Motive, aber nun imperial politisiert, ja fundamentalistisch radikalisiert.
"Amerika ist nach göttlicher Vorsehung zur Erleuchtung und Emanzipation des versklavten Teils der Menschheit" bestimmt."
Dieser moralische Anspruch "der Menschheit zu dienen", mit dem Wilson im Mai 1914 die Intervention in Mexiko rechtfertigt, führt in praxi dann wieder und wieder zu jenem "moral-imperialism", der die Doppeldeutigkeit jeder idealistisch-missionarischen Politik ausmacht: Je ungebrochener die Überzeugung von der moralischen Rechtschaffenheit der eigenen Absichten herrscht, desto eher wird die daraus folgende Politik offen imperialistisch.
Unter Wilson intervenieren die USA militärisch in Mexiko, Haiti, der Dominikanischen Republik, Kuba und Nicaragua, führen also mehr Besetzungs- und Kontrollaktionen auf fremdem Territorium durch, als je zuvor unter einem anderen Präsidenten. Obwohl Wilson ein theoretischer Gegner des frühen amerikanischen Imperialismus von Theodore Roosevelt ist, glaubt er sich doch moralisch legitimiert, ja, prädestiniert zum bewaffneten Eingriff in die Belange anderer Völker.
In dieser selbstgewählten Rolle einer monumentalen Polizeimacht, einer "Vormundschaft" (Theodore Roosevelt) über nicht-amerikanische Nationen konzentrieren sich die alten Motive des "Manifest Destiny", ein politisierter Fundamentalismus und ein imperialer Philanthropismus.
Das "traditionelle Gefühl einer universellen moralischen Sendung Amerikas" – eine Formulierung Henry Kissingers – wird aber heute erst, in der Präsidentschaft des jüngeren Bush, regelrecht radikalisiert zur religiösen Pflicht, in jedes Land der Welt einzufallen, wenn es als "finster", als terroristisch hingestellt wird.
""Neben die alten demokratischen Prinzipien ist (in den USA) etwas Neues getreten", kommentiert der französische Historiker Emmanuel Todd, "ein oligarchisches, plutokratisches, militaristisches System, das um sich schlägt, wenn es sich in Bedrängnis wähnt… Aber die Welt ist dabei, sich neu zu organisieren, an den USA vorbei". "
Das ist, scheint es, eine klassisch französisch-europäische Deutung, welche die religiös weltanschauliche Rasanz der neuen US-Weltherrschaft gehörig unterschätzt.
Die endgeschichtliche Vernichtung der dunklen Mächte wird als Politikprogramm proklamiert. Ein schicksalhaftes Geschichtsdrama wird von der letzten großen Supermacht in Gang gesetzt und soll – so will es die Washingtoner Administration – bis zum Endsieg durchgespielt werden.
Bush wörtlich:
"Der Ruf der Geschichte ist an das richtige Land gegangen. Die Freiheit, die wir so hoch schätzen, ist nicht Amerikas Gabe an die Welt, sondern Gottes Geschenk an die Menschheit – Wir opfern uns für die Freiheit von Fremden."
Hier spricht nicht der erste Diener seines Staates. Hier spricht der "Erlöser".
Viele Präsidenten der Vereinigten Staaten haben die Bibel zitiert. Ohne religiöse Legitimierung stünden sie nackt da, als bloße Welt-Machtpolitiker. George Bush aber setzt sich selbst an die Stelle des Messias der Endzeit. Und er maßt sich die weltgeschichtliche Rolle Jesus an. Denn in der Tradition der christlichen Kirchen ist es allein dieser Jesus aus Nazareth, der jugendliche Befreier, in dessen Geist Menschen ihre Ketten zerreißen und Völker aufstehen werden gegen die Diktatoren.
Fast eine Tragikkomödie der Weltgeschichte spielt sich da vor unseren Augen ab. Auch George W. Bush ist ja ein jugendlicher Heros. Wenn er dem Helicopter entsteigt, als heiter grüßender Weltherrscher, dann erscheint ein sportiver, selbst gesalbter Gegen-Messias im Türrahmen.
Aber man muss nicht viel vom Neuen Testament wissen, um zu erkennen: Diese "Befreiung", die Bush seit 2003 im Irak exekutiert, war von hinten bis vorne eine vollendet anti-jesuanische Handlung, eben das komplette Gegenstück zum gewaltfreien Veränderungsstil des jüdischen Messias aus Nazareth.
Die Lebensform Jesu? Ist das nicht eine falsche Kategorie? Ein Verwechseln der Deutungs-Ebenen? Eine theologische Über-Interpretation, wo es doch um pure Machtpolitik geht, um Großmannssucht, die sich nur religiös verkleidet? Wäre es doch so. Hätten wir es doch noch zu tun mit dem guten, alten Imperialismus, der sein "Gott mit uns" auf dem Koppelschloss trägt, und sein "In God we trust" auf der Dollarnote, aber im übrigen den lieben Gott einen guten Mann sein lässt, oberhalb der politischen Sphäre.
Die Europäer tun gut daran, die religiösen Strategie-Begründungen der Amerikaner bitter ernst zu nehmen, sie nicht länger kontinental "aufgeklärt" zu belächeln oder als rhetorische Floskeln abzutun. Die Deutschen speziell könnten beizeiten aufhören, den Verantwortungsträgern jenseits des Ozeans die gleiche stupide Religions-Inkompetenz zu unterstellen, die hier bei uns an der Tagesordnung ist.
Man möchte hoffen dürfen, dass nicht die nackte Machtlust die letzte Triebfeder der neuen US-Weltmacht-Strategie ist, sondern eben diese alte Versuchung, die Welt tatsächlich vom Bösen reinigen zu sollen und den noch nie dagewesenen Weltfrieden zu erzwingen, jetzt endlich. Aber genau das war – nach dem Neuen Testament – die große Versuchung Jesu durch "den Satan" in der Wüste. Es war das faszinierende Angebot, aus "Steinen Brot werden zu lassen", sprich, die Armut auf dem Globus endgültig zu beseitigen und "alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit" zu überbieten mit der eigenen Super-Autorität (Matthäus 4,3,8), und sei es mit Gewalt.
Es steht zu befürchten, dass die gläubige Crew im heutigen Washington dieser Versuchung "Satans" weiterhin nachgeben wird. Mit Feuer und Schwert.
"Ich bin der Sieg.
Mein Vater ist der Krieg.
Der Friede ist mein lieber Sohn,
der gleicht meinem Vater schon."
( Erich Fried)
Diese Logik, und das ist das Beunruhigende, versteht die nicht endenden (infinite) Überfälle in fremde Länder als den aufopfernden Kampf für die Freiheit. Und das bedeutet, die Freiheit existiert letztlich nur im Kampf gegen die Unfreiheit. Die heutige Welt rutscht auf diese Weise in den Zustand einer atemlosen Mobilmachung. Der Ausnahmezustand herrscht. Auf unabsehbare Zeit.
Europa muss daher begreifen: Die nächsten Kriege sind vorprogrammiert. Ja, die kommenden Differenzen zwischen den politischen Kulturen hüben und drüben werden ungleich deutlicher zutage treten als die gewesenen. Da nützt kein joviales shake hands auf Weltgipfeln. Keine Flucht mehr in die wohlige Beherrschung durch den großen Bruder. Europa muss die befreiende Wahrheit endlich akzeptieren: Es gibt für unsere Völker kein Zurück mehr in eine Weltordnung, die mit Blut erkauft wird. Jürgen Habermas:
"Es ist nach allem, was geschehen ist, prinzipiell auch keine politische Theorie mehr akzeptabel, die die potentiellen Opfer von vornherein einer weltgeschichtlichen Mission versichert."
Die Weltherren kommen und gehen. Alexander der Große, die Herren in Rom, dann die deutschen Kaiser vom Mittelalter bis zu unserem Kaiser Wilhelm von 1918. Vom großdeutschen Führer einmal zu schweigen. Sie kommen und gehen nicht, wie der Winter - auf den Sommer folgt -. Sie müssen gestürzt werden, von unten. Oder selber stürzen, blind vor Größenwahn.
Gegen Alexander erhob sich noch keine Gegenkraft. Erst die römischen Kaiser stießen auf die kleinen Widerstandsgruppen junger Christen. Während Kaiser Augustus im fernen Rom noch ahnungslos schlief, wird in Nazareth, am Ostrand seines Weltreiches ein Kind geboren, das die antike Staatsdiktatur von unten her auffliegen lässt, ohne jede Militärgewalt. Das Frühchristentum eroberte die Herzen, und motivierte die Ohnmächtigen, die Randgruppen zu einer unblutigen Herrschaftskritik neuer Art. Der Berliner Philosoph Michael Theunissen dazu:
"Das aufsässige herrschaftskritische Christentum hat die antike Sklavengesellschaft in die Feudalgesellschaft vorangetrieben und diese in die bürgerliche. "
Entweder, man stand auf gegen die Macht oder man unterwarf sich. Ein Entweder Oder – bis heute. Mit Ernst Blochs berühmter Alternative:
"Aut Christus aut Cäsar."
Entweder die Befreiung ohne Blut und Tränen oder die Diktatur von oben, die zuschlagende Herrschaft.
Die Weltherrschaften brachen aber in der Neuzeit noch ganz anders zusammen. Nämlich an der totalen Unterschätzung des Gegners. Dazu Karl Deutsch, der als erster diese Gesetzmäßigkeit in der Neuzeit entdeckt hat. Der Harvard-Professor stellt fest:
"Von allen staatlichen Entscheidungen, die den Ausbruch großer Kriege seit 1910 zur Folge hatten, erwiesen sich etwa drei Fünftel als falsch… Die Entscheidung der Deutschen, 1939 Polen und 1941 Russland anzugreifen… die Entscheidung der Japaner, die Vereinigten Staaten 1941 anzugreifen…"
Warum falsch? Nun, Hitler unterschätzte das Militärpotential der Sowjetunion komplett. Er fiel ein und kam schon am 5. Dezember 1941 zum Stillstand vor Moskau. Das war das Ende. Die Gegenwehr der Russen, ihre wachsende Bereitschaft, ihre Heimat zu verteidigen, war dann das Zweite. Auch das hatte Hitler total unterschätzt. Warum?
Die Hitler-Deutschen verachteten eben die Polen und die Russen zutiefst, trauten ihnen nichts Siegreiches zu. Das Dritte ist dann die natürliche Folge: Diejenigen, die man zutiefst verachtete, kommen über einen, besiegen die Arroganten.
Auch in Vietnam: die Weltherrschaft der USA kam nicht zum Ziel, zur Vernichtung der Vietnamesen. Wir sahen am 2. Mai 1975 abends, im Fernsehen – ich zitiere einen Reporter:
"Die letzten Amerikaner, in Helicopter absetzend vom Dach der US-Botschaft in Saigon. Die Kamera schwenkt über auf vietnamesische Hilfskräfte, um Hilfe schreiend, an Riesenhubschrauber gehängt, hochgezogen – und abstürzend ins Chinesische Meer. Nur die geschlagenen Militärberater, CIA-Agenten und Sonderkommandos retten sich auf ein Bergungsschiff weit, weit draußen. "
Im Frühjahr 2003 fielen die westlichen Großmächte USA und Großbritannien mit einer hochkomplexen Streitmacht im Irak ein. Präzisionsbomben mit zentimetergenauer Zielsicherheit durchschlugen die Lehmdächer alter Wüstenstädte. Am 1. Mai 2003 erklärte der Weltherrscher aus Washington in triumphaler Pose einen Sieg. Schon im Spätsommer 2003 jedoch der komplette Kulissenwechsel.
Das eroberte Land wehrt sich, will gar nicht von den Eindringlingen befreit werden. Der US-Zivilverwalter Paul Bremer stolpert von einer Fehleinschätzung in die Nächste. Paul Bremer – wo ist dieser Versager heute?
Kurz, selten wurde ein großtechnologischer Angriff ähnlich stümperhaft kalkuliert und logistisch buchstäblich in den Sand gesetzt. Die weiteren Folgen sehen wir Abend für Abend im Fernsehen. Und die Alternative ?
"Es gibt beides in den letzten sechzig Jahren: die Kriege und die Herrschaftsgewalt auf der einen Seite. Aber es gibt zum ersten Mal auch das andere … weite soziale Friedensbewegungen, die Kriege beenden helfen. Viele Menschen ahnen, dass in solchen Friedensinitiativen heute eine Kraft der Vernunft lebt, die hellsichtiger ist als das angstvolle Setzen auf Stärke. (Viele Bürger sehen: Rüstungspolitik und Angriffslust sind übermächtig auf dem Plan. Aber ebenso wirklich sind sie, die friedenswilligen Bürger, da. Mit ihrer größeren Vernunft.)"