Der Wert des Menschen
Der spanische Künstler Santiago Sierra bringt mit seinen Arbeiten die strukturelle Gewalt politischer und wirtschaftlicher Systeme drastisch zur Anschauung. Die Kunsthalle Tübingen versammelt erstmals Fotos, Filme und Aktionsrelikte zu einer Retrospektive
Es müffelt ein wenig in der Schau, und die Quelle des Geruchs ist auch rasch ausgemacht: im großen Ausstellungssaal der Tübinger Kunsthalle lagern zwanzig kastenförmige Tröge auf hölzernen Paletten. Sie bestehen aus, nun ja, menschlichen Exkrementen, schwarzbraun und hart wie Stein.
Kein Grund sich zu ekeln eigentlich, denn der Kot wurde jahrelang getrocknet und mit einem plastischen Klebstoff versetzt. Vom hygienischen Standpunkt ist das Substrat so einwandfrei wie Humus. Der spanische Künstler Santiago Sierra hat die Objekte von indischen Latrinenreinigern herstellen lassen, erklärt uns Zita Hartel, die die Ausstellung betreut.
"In der Tat waren es Latrinenreiniger, welche die Toiletten – also oftmals gibt es kein Spülungssystem in Indien und teilweise müssen Menschen die Toiletten manuell reinigen, Fäkalien manuell entfernen. Und gerade von diesen Menschen wurden diese Stelen hergestellt."
Sierra wollte damit auf das Schicksal der Latrinenreiniger hinweisen, einer verachteten Kaste von so genannten "Unberührbaren" am untersten Rand der indischen Gesellschaft, die von Geburt an unentrinnbar dazu verpflichtet sind, menschliche Fäkalien zu entfernen, um damit die Sünden aus einem früheren Leben abzubüßen.
Was Menschen für Geld alles tun und mit sich machen lassen, nur um zu überleben, wie ihnen Gewalt angetan und ihre Würde verletzt wird vor allem durch das kapitalistische System der Ausbeutung von Arbeitskraft, das ist eines der Themen des Spaniers.
Man kann dabei ziemlich weit gehen als Künstler, und Santiago Sierra hat das immer wieder getan. Er ließ Männer öffentlich masturbieren, Paare vor Publikum kopulieren, er ließ kubanischen Drogensüchtigen gegen Bezahlung eine waagrechte Linie auf den Rücken tätowieren und bezahlte afrikanische Einwanderer dafür, dass sie an der spanischen Südküste reihenweise Gräber aushoben.
Nur einmal ging er zu weit. Als er 2006 die ehemalige Synagoge in Stommeln bei Köln in eine Gaskammer verwandelte, die nur mit Schutzmaske zu betreten war, wurde die Aktion vorzeitig abgebrochen. Selbst Christoph Schlingensief, sonst auch nicht zimperlich, nannte die Aktion "banal" und "blöd" – ein Urteil, das man nicht teilen muss, denn es ging dem Künstler nicht um den geschmacklosen Tabubruch, sondern um ein Memento Mori, um die Begegnung mit dem Tod.
Zynismus jedenfalls ist Teil von Sierras künstlerischer Strategie, die in der minimalistischen Prozesskunst seines Lehrers Franz Erhard Walther wurzelt, bei dem er in Hamburg studiert hatte.
"Diese prozesshafte Kunst, diese konzeptionelle Kunstauffassung war einflussreich für seine Aktionen, die jetzt natürlich in den sozialen Raum tatsächlich eingreifen."
Die Schau zeigt minimalistische Zeichnungen für prozesshafte Handlungen aus dieser Zeit und muss sich dann mit Fotos, Filmen und Aktionsrelikten begnügen – und das ist ihr Problem, denn Aktionen lassen sich schlecht ausstellen.
Jeden Sonntag immerhin sollen zwei Männer für je zehn Euro Stundenlohn vor gaffendem Publikum einen schweren Balken auf den Schultern tragen – eine schweißtreibende Schufterei ohne jeden Sinn, eine Lektion über den Wert des Menschen und die Entfremdung von seiner Arbeit.
Sierra ist der Mann fürs Grobe, der uns aus der Gleichgültigkeit rütteln will, notfalls mit Gewalt. Aus einer riesigen Lautsprecherwand werden wir mit einer ohrenbetäubenden Lärmkulisse regelrecht beschossen.
Was klingt wie im Krieg, ist die Silvesternacht 2002 in der mexikanischen Drogenstadt Culiacán, wo sich die Schüsse von Pistolen und Sturmgewehren mit dem Feuerwerk und den Sirenen der Polizei- und Rettungswagen mischen zu einem infernalischen Getöse. Eine Stadt im Drogenkrieg.
Einen anderen Ausstellungsraum hat man mit einer schlammigen Masse aus Torf und Erde angefüllt. Es ist die Rekonstruktion einer 2005 in Hannover durchgeführten Aktion, bei der Sierra das ganze Ausstellungshaus in Schlamm getaucht hatte, um an die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Aushebung des Maschsees in den 1930er Jahren durch hunderte erwerbslose Hannoveraner zu erinnern. Der braune Morast als Metapher für eine braune Epoche.
Das war in Hannover eindrucksvoll, doch hier, in Tübingen, funktioniert das nicht. Nicht nur, weil es der falsche Ort dafür ist. Der Dreck wird zum Dekor, zur ästhetisch inszenierten Westentaschen-Version einer Aktion, die einmalig bleiben muss, um ihre Wirkung zu behalten.
Das ist schade um den Aufwand und um diese gut gemeinte Schau. Doch Sierras Stärke ist nun einmal die Aktion und nicht die Ausstellung.
Die Ausstellung "Santiago Sierra – Skulptur, Fotografie, Film" ist in der Kunsthalle Tübingen bis zum 16. Juni 2013 zu sehen und in erweitertem Umfang vom 7.9.2013 bis 12.1.2014 in den Deichtorhallen Hamburg – Sammlung Falckenberg.
Kein Grund sich zu ekeln eigentlich, denn der Kot wurde jahrelang getrocknet und mit einem plastischen Klebstoff versetzt. Vom hygienischen Standpunkt ist das Substrat so einwandfrei wie Humus. Der spanische Künstler Santiago Sierra hat die Objekte von indischen Latrinenreinigern herstellen lassen, erklärt uns Zita Hartel, die die Ausstellung betreut.
"In der Tat waren es Latrinenreiniger, welche die Toiletten – also oftmals gibt es kein Spülungssystem in Indien und teilweise müssen Menschen die Toiletten manuell reinigen, Fäkalien manuell entfernen. Und gerade von diesen Menschen wurden diese Stelen hergestellt."
Sierra wollte damit auf das Schicksal der Latrinenreiniger hinweisen, einer verachteten Kaste von so genannten "Unberührbaren" am untersten Rand der indischen Gesellschaft, die von Geburt an unentrinnbar dazu verpflichtet sind, menschliche Fäkalien zu entfernen, um damit die Sünden aus einem früheren Leben abzubüßen.
Was Menschen für Geld alles tun und mit sich machen lassen, nur um zu überleben, wie ihnen Gewalt angetan und ihre Würde verletzt wird vor allem durch das kapitalistische System der Ausbeutung von Arbeitskraft, das ist eines der Themen des Spaniers.
Man kann dabei ziemlich weit gehen als Künstler, und Santiago Sierra hat das immer wieder getan. Er ließ Männer öffentlich masturbieren, Paare vor Publikum kopulieren, er ließ kubanischen Drogensüchtigen gegen Bezahlung eine waagrechte Linie auf den Rücken tätowieren und bezahlte afrikanische Einwanderer dafür, dass sie an der spanischen Südküste reihenweise Gräber aushoben.
Nur einmal ging er zu weit. Als er 2006 die ehemalige Synagoge in Stommeln bei Köln in eine Gaskammer verwandelte, die nur mit Schutzmaske zu betreten war, wurde die Aktion vorzeitig abgebrochen. Selbst Christoph Schlingensief, sonst auch nicht zimperlich, nannte die Aktion "banal" und "blöd" – ein Urteil, das man nicht teilen muss, denn es ging dem Künstler nicht um den geschmacklosen Tabubruch, sondern um ein Memento Mori, um die Begegnung mit dem Tod.
Zynismus jedenfalls ist Teil von Sierras künstlerischer Strategie, die in der minimalistischen Prozesskunst seines Lehrers Franz Erhard Walther wurzelt, bei dem er in Hamburg studiert hatte.
"Diese prozesshafte Kunst, diese konzeptionelle Kunstauffassung war einflussreich für seine Aktionen, die jetzt natürlich in den sozialen Raum tatsächlich eingreifen."
Die Schau zeigt minimalistische Zeichnungen für prozesshafte Handlungen aus dieser Zeit und muss sich dann mit Fotos, Filmen und Aktionsrelikten begnügen – und das ist ihr Problem, denn Aktionen lassen sich schlecht ausstellen.
Jeden Sonntag immerhin sollen zwei Männer für je zehn Euro Stundenlohn vor gaffendem Publikum einen schweren Balken auf den Schultern tragen – eine schweißtreibende Schufterei ohne jeden Sinn, eine Lektion über den Wert des Menschen und die Entfremdung von seiner Arbeit.
Sierra ist der Mann fürs Grobe, der uns aus der Gleichgültigkeit rütteln will, notfalls mit Gewalt. Aus einer riesigen Lautsprecherwand werden wir mit einer ohrenbetäubenden Lärmkulisse regelrecht beschossen.
Was klingt wie im Krieg, ist die Silvesternacht 2002 in der mexikanischen Drogenstadt Culiacán, wo sich die Schüsse von Pistolen und Sturmgewehren mit dem Feuerwerk und den Sirenen der Polizei- und Rettungswagen mischen zu einem infernalischen Getöse. Eine Stadt im Drogenkrieg.
Einen anderen Ausstellungsraum hat man mit einer schlammigen Masse aus Torf und Erde angefüllt. Es ist die Rekonstruktion einer 2005 in Hannover durchgeführten Aktion, bei der Sierra das ganze Ausstellungshaus in Schlamm getaucht hatte, um an die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Aushebung des Maschsees in den 1930er Jahren durch hunderte erwerbslose Hannoveraner zu erinnern. Der braune Morast als Metapher für eine braune Epoche.
Das war in Hannover eindrucksvoll, doch hier, in Tübingen, funktioniert das nicht. Nicht nur, weil es der falsche Ort dafür ist. Der Dreck wird zum Dekor, zur ästhetisch inszenierten Westentaschen-Version einer Aktion, die einmalig bleiben muss, um ihre Wirkung zu behalten.
Das ist schade um den Aufwand und um diese gut gemeinte Schau. Doch Sierras Stärke ist nun einmal die Aktion und nicht die Ausstellung.
Die Ausstellung "Santiago Sierra – Skulptur, Fotografie, Film" ist in der Kunsthalle Tübingen bis zum 16. Juni 2013 zu sehen und in erweitertem Umfang vom 7.9.2013 bis 12.1.2014 in den Deichtorhallen Hamburg – Sammlung Falckenberg.