Was Sportdokus von Streaming-Plattformen wirklich sind
06:11 Minuten
Es gibt kaum einen Sport, über den Netflix nicht schon eine Serie gedreht hat. In Hochglanz, perfekt ausgeleuchtet, mit aufwendigem Sounddesign. Doch nicht immer nehmen es diese Serien mit der Wahrheit ganz genau –zum Teil auch ganz bewusst.
Es war vielleicht eine der größten Überraschungen der Leichtathletik bei den Olympischen Spielen in Paris: Keine Sprinterin aus den USA oder aus Jamaika gewinnt Gold über 100 Meter, sondern Julien Alfred von der Karibik-Insel St. Lucia.
Ein Triumph, der auf Netflix statt 10,72 Sekunden mehr als drei Mal so lang dauert: Bis Julien Alfred über die Ziellinie läuft, werden in der Netflix-Folge immer wieder die Trainer zwischengeschnitten, die auf dem Aufwärmplatz das Rennen verfolgen. Oder Zuschauer, die den Läuferinnen zujubeln.
Die Sprintfinals über 100 und 200 Meter stehen im Mittelpunkt der zweiten Staffel der Serie "Sprint" auf Netflix. "Who are the fastest men and women on the planet, we don’t really know them." Wer sind eigentlich diese Sprinter, die da an der Startlinie stehen? Das ist die Grundidee hinter der Serie, erklärt Produzent Warren Smith im hauseigenen Netflix-Podcast: Es gehe um Egos, um Psychospiele – und der Beste zu sein, und das auch so zu sagen.
"It’s all about ego, it’s all about mind Games. And it’s all about being the best. And not being scared of saying that."
"It’s all about ego, it’s all about mind Games. And it’s all about being the best. And not being scared of saying that."
Hintergründige Geschichten
"Ich glaube, es geht immer um die Menschen", sagt auch Nepomuk Fischer. Der Filmemacher hat mit seiner Produktionsfirma "oinkfilm"“ unter anderem den FC Bayern begleitet – in seiner Fabelsaison mit sechs Titeln. "Ich glaube gar nicht, dass es unbedingt wichtig ist, dass es eine erfolgreiche Mannschaft ist, oder ein erfolgreicher Athlet, sondern ich glaube, dass eine Geschichte erzählt wird."
Geschichten, die man nicht erfährt, wenn man nur als Zuschauer bei den Wettkämpfen ist – das macht diese Dokus aus, sagt auch Jörg-Uwe Nieland, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Klagenfurt. Denn das sportliche Ergebnis sei ja schon bekannt: "Wir wissen, wie der Boxkampf ausgegangen ist, zwischen Foreman und Muhammad Ali. Aber was uns dann daran interessiert, sind die Hintergründe. Wie kam es dazu? Und wie bewerten das im Nachgang die Protagonisten selber oder deren direktes Umfeld?"
Exklusive Zugänge
Um zu zeigen, wie Julien Alfred nach dem 100m-Finale durch die Katakomben tigert und vor Freude weint, hat sich Netflix sogar die Erlaubnis vom IOC geholt – und bekam exklusiven Zugang in die Tunnel des Stade de France, des Leichtathletikstadions in Paris. Und so werden die Dokus zu Marketing-Botschaftern der Sportarten: "Sie sind als Teil des Geschäftsmodells dafür da, Aufmerksamkeit für Sportereignisse, Rennserien, Wettkampfserien zu generieren", sagt Kommunikationsforscher Nieland.
Bestes Beispiel sei dafür: "Drive to Survive". Seit 2018 verfolgt Netflix die Fahrer der Formel 1 mit Kameras – und erzählt so anhand von realen Szenen und Momenten aus dem Fahrerfeld Geschichten, die zwischen den Fahrern passieren sollen, abseits der Rennstrecken. Dass die Serie für den Sport einen wirtschaflichen Mehrwert hatte, gilt mittlerweile als unstrittig. In den USA sollen ganz neue Zielgruppen erreicht worden und das Durchschnittsalter der Zuschauer der Rennen um vier Jahre gesunken sein. War die Formel 1 Anfang der 2010er Jahre noch eine Pleiteserie, verdient sie mittlerweile wieder Geld.
Ein Erfolg, der sich so leicht aber nicht replizieren lasse, schränkt Nieland ein: "Der Erfolg hängt davon ab, wie bekannt ist die Sportart: Natürlich ist Golf auch spannend, natürlich findet Golf auch weltweit statt. Aber da ist natürlich im Gegensatz zu Formel 1 das Interesse deutlich kleiner." Das hält die Sender und Streamingplattformen nicht davon ab, immer neue Formate zu entwickeln: Ob Tennis, wo Novak Djokovic in Wimbledon gewinnt, den Abschlag vom Golf, die Tour de France mit Stürzen im Fahrerfeld oder Turnstar Simone Biles beim Training auf dem Schwebebalken.
Kaum ein Sport, in dem es heute keine Serie gibt – und es werden immer mehr. Nicht nur Netflix setzt auf Sport, auch Amazon schaut hinter die Kulissen von Vereinen – und im ZDF läuft derzeit eine Doku über die Wagner-Brüder im Basketball.
Nicht alle Formate nehmen es dabei mit der Wahrheit allzu genau, immer wieder heißt es, gerade die amerikanischen Hochglanz-Produktionen konstruierten Konflikte, bauschten Kleinigkeiten auf, um eine spannende Geschichte mit Cliffhangern erzählen zu können. Da werden reale Szenen künstlich aneinandergefügt, gekürzt, Zitate aus dem Kontext gerissen.
Für Filmemacher Nepomuk Fischer ist das eigentlich ein No-Go: "Man sollte natürlich Aussagen nicht da hinschneiden, wo sie nicht hingehören, man sollte nicht faken. Aber eine gewisse Dramaturgie im Schnitt ist, glaube ich, schon erlaubt. Nur der Sachverhalt muss natürlich schon so dargestellt werden, wie er war."
Mehr PR als Doku
Ein vollkommen authentischer Blick hinter die Kulissen sei aber meist eh nicht möglich, sagt Forscher Nieland, schließlich sei den Sportlerinnen und Sportlern ja bewusst, dass sie gefilmt werden: "Es ist nicht mehr das rein dokumentarische, aber das wissen die Zuschauer. Und vor allem wissen die Protagonisten, die da gefilmt werden, wie die Medien wirken, und wie sie sich darzustellen haben."
Solche Dokumentationen seien also weniger ein Abbild der Realität – sondern viel eher mit Social Media-Auftritten der Sportler zu vergleichen: "Der Mehrzahl ist klar, dass das von Medienprofis gemacht ist, die wissen, wie die Medien wirken", so Nieland.
Vor allem, wenn die Dokus von den Teams, den Sportlern, den Verbänden selbst in Auftrag gegeben werden, seien sie eben vor allem Marketing, ergänzt Filmemacher Fischer: "Natürlich sprechen zum Teil auch Marketingvorstände am Ende mit im Schnitt und sagen: Hier, die Szene raus, das können wir nicht bringen." So wundert es dann auch nicht, dass Sprinter Noah Lyles während der Interviews in "Sprint" einen Pulli trägt, auf dem dick der Name seines Sponsors steht. Am Ende dreht sich im Sport, und auch in den gerade populären Sportdokus, alles ums Geld.