Der Zweifel hört niemals auf
Fünf Texte von Imre Kertész, geschrieben in den vergangenen 50 Jahren: Liest man die drei Erzählungen und zwei Zeitungsartikel in "Opfer und Henker" nacheinander, dann verblüfft, mit welcher Ausschließlichkeit sie um dieselben Fragen kreisen. Von Anfang an gehen bei Kertész Selbsterforschung und ästhetische Formung Hand in Hand.
Auf dem Umschlag dieses schmalen und schönen Buches ist ein verwegen drein blickender älterer Herr mit Hut abgebildet, innen in "Opfer und Henker" blickt einem derselbe Mann entgegen, diesmal fünfzig Jahre jünger und recht zuversichtlich.
Dann folgen fünf Texte von Imre Kertész aus jenen Jahren, die zwischen den beiden Fotografien liegen. Keiner von ihnen ist neu, und zudem verdanken sie sich unterschiedlichen Anlässen: "Ich, der Henker", geschrieben in den späten fünfziger Jahren nach dem Vorbild von Rechtfertigungsschriften der Nazi-Verbrecher, ist einer der frühesten Versuche von Kertész, den Verlust der Persönlichkeit im Nationalsozialismus und im ungarischen Stalinismus literarisch zu erfassen; "Budapest, ein überflüssiges Bekenntnis" dagegen entstand 1998, als der Ungar bereits berühmt war, im Auftrag einer deutschen Wochenzeitung. Anfangswerk und Auftragswerk –homogenere Zusammenstellungen sind mühelos denkbar.
Liest man die drei Erzählungen und zwei Zeitungsartikel in "Opfer und Henker" jedoch nacheinander, dann verblüfft, mit welcher Ausschließlichkeit sie um dieselben Fragen kreisen. "Budapest, ein überflüssiges Bekenntnis" beginnt mit der Beteuerung, es sei "wahrhaftig an der Zeit, meine Beziehung zu der Stadt zu klären, in der ich seit achtundsechzig Jahren lebe und die ich immer weniger kenne." Und in "Ich, der Henker" offenbart der schreibende Massenmörder gleich im ersten Satz seinen "eigenartigen und unerklärlichen Drang, den Ereignissen unseres Lebens Form und Ausdruck zu verleihen". Beide Male und von Anfang an gehen bei Imre Kertész Selbsterforschung und ästhetische Formung Hand in Hand.
Nichts ist der Literatur fremd – dieser Satz hat nie anmaßender geklungen als im mörderischen 20. Jahrhundert. Imre Kertész aber, der mit 15 Jahren nach Auschwitz deportiert wurde, hat ihn in seinem Werk auf immer neue, stets unerschrockene Weise bewahrheitet. Im "Roman eines Schicksallosen" erzählt er von Auschwitz wie keiner vor ihm: mit den Augen eines 14-jährigen KZ-Häftlings und seiner rückhaltlosen Bewunderung für das Funktionieren eines Lagersystems, das nichts als seine Vernichtung vorsieht.
Der epochale, ob der Naivität seines Erzählers schaudern machende Roman ist ein Versuch, die freiwillige Selbstauslöschung des Menschen zu verstehen. Und er ist zugleich ein Versuch, ihr zu widerstehen. Mit solcher Literatur, die anfangs niemand lesen wollte, rettete sich Kertész durch die Zeit nicht nur des Stalinismus. "Meine einzige Identität", heißt es in seinen Aufzeichnungen "Ich – ein anderer" 1998, "ist die des Schreibens". Und Schreiben sei, so Ibsen, "soviel wie über sich richten".
Der freundliche Schriftsteller hat darüber nicht seinen Sinn für Ironie verloren. Es ist allerdings eine recht abgründige Ironie, wie sich in der eigens für diesen Band verfassten anderthalbseitigen Vorbemerkung zu "Ich, der Henker" zeigt. Kertész schreibt dort, wie sehr er überrascht gewesen sei, dass sich die in den späten fünfziger Jahren geschriebene Selbstrechtfertigung eines "mit nicht mehr steigerbarem Unglück geschlagenen Menschen" Jahrzehnte später "organisch" in seinen Roman "Fiasko" (1988) eingefügt habe.
"Das war eine interessante Erkenntnis, und ich brauchte ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, um daraus nicht auf eine irgendwie geartete Planmäßigkeit zu schließen, die mein Leben lenkt …" Eine Planmäßigkeit, die ihn zu einer – so heißt es in "Ich – ein anderer" – "60jährigen Isolation und Häftlingsexistenz" verurteilt haben sollte?
Der Zweifel hört niemals auf, ebenso wenig wie die Notwendigkeit der Wahl. Diese kleinen Schriften bewahren beides: die ästhetische Bearbeitung der Selbstbefragung, in der für Kertész allein die menschliche Freiheit zu finden ist, und die Verführung zur Aufgabe eben dieser Freiheit.
Rezensiert von Jörg Plath
Imre Kertész, Opfer und Henker
Aus dem Ungarischen von Christian Polzin, Ilma Rakusa, Agnes Relle und Kristin Schwamm.
Transit Verlag, Berlin 2007
88 Seiten, 14,80 Euro
Dann folgen fünf Texte von Imre Kertész aus jenen Jahren, die zwischen den beiden Fotografien liegen. Keiner von ihnen ist neu, und zudem verdanken sie sich unterschiedlichen Anlässen: "Ich, der Henker", geschrieben in den späten fünfziger Jahren nach dem Vorbild von Rechtfertigungsschriften der Nazi-Verbrecher, ist einer der frühesten Versuche von Kertész, den Verlust der Persönlichkeit im Nationalsozialismus und im ungarischen Stalinismus literarisch zu erfassen; "Budapest, ein überflüssiges Bekenntnis" dagegen entstand 1998, als der Ungar bereits berühmt war, im Auftrag einer deutschen Wochenzeitung. Anfangswerk und Auftragswerk –homogenere Zusammenstellungen sind mühelos denkbar.
Liest man die drei Erzählungen und zwei Zeitungsartikel in "Opfer und Henker" jedoch nacheinander, dann verblüfft, mit welcher Ausschließlichkeit sie um dieselben Fragen kreisen. "Budapest, ein überflüssiges Bekenntnis" beginnt mit der Beteuerung, es sei "wahrhaftig an der Zeit, meine Beziehung zu der Stadt zu klären, in der ich seit achtundsechzig Jahren lebe und die ich immer weniger kenne." Und in "Ich, der Henker" offenbart der schreibende Massenmörder gleich im ersten Satz seinen "eigenartigen und unerklärlichen Drang, den Ereignissen unseres Lebens Form und Ausdruck zu verleihen". Beide Male und von Anfang an gehen bei Imre Kertész Selbsterforschung und ästhetische Formung Hand in Hand.
Nichts ist der Literatur fremd – dieser Satz hat nie anmaßender geklungen als im mörderischen 20. Jahrhundert. Imre Kertész aber, der mit 15 Jahren nach Auschwitz deportiert wurde, hat ihn in seinem Werk auf immer neue, stets unerschrockene Weise bewahrheitet. Im "Roman eines Schicksallosen" erzählt er von Auschwitz wie keiner vor ihm: mit den Augen eines 14-jährigen KZ-Häftlings und seiner rückhaltlosen Bewunderung für das Funktionieren eines Lagersystems, das nichts als seine Vernichtung vorsieht.
Der epochale, ob der Naivität seines Erzählers schaudern machende Roman ist ein Versuch, die freiwillige Selbstauslöschung des Menschen zu verstehen. Und er ist zugleich ein Versuch, ihr zu widerstehen. Mit solcher Literatur, die anfangs niemand lesen wollte, rettete sich Kertész durch die Zeit nicht nur des Stalinismus. "Meine einzige Identität", heißt es in seinen Aufzeichnungen "Ich – ein anderer" 1998, "ist die des Schreibens". Und Schreiben sei, so Ibsen, "soviel wie über sich richten".
Der freundliche Schriftsteller hat darüber nicht seinen Sinn für Ironie verloren. Es ist allerdings eine recht abgründige Ironie, wie sich in der eigens für diesen Band verfassten anderthalbseitigen Vorbemerkung zu "Ich, der Henker" zeigt. Kertész schreibt dort, wie sehr er überrascht gewesen sei, dass sich die in den späten fünfziger Jahren geschriebene Selbstrechtfertigung eines "mit nicht mehr steigerbarem Unglück geschlagenen Menschen" Jahrzehnte später "organisch" in seinen Roman "Fiasko" (1988) eingefügt habe.
"Das war eine interessante Erkenntnis, und ich brauchte ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, um daraus nicht auf eine irgendwie geartete Planmäßigkeit zu schließen, die mein Leben lenkt …" Eine Planmäßigkeit, die ihn zu einer – so heißt es in "Ich – ein anderer" – "60jährigen Isolation und Häftlingsexistenz" verurteilt haben sollte?
Der Zweifel hört niemals auf, ebenso wenig wie die Notwendigkeit der Wahl. Diese kleinen Schriften bewahren beides: die ästhetische Bearbeitung der Selbstbefragung, in der für Kertész allein die menschliche Freiheit zu finden ist, und die Verführung zur Aufgabe eben dieser Freiheit.
Rezensiert von Jörg Plath
Imre Kertész, Opfer und Henker
Aus dem Ungarischen von Christian Polzin, Ilma Rakusa, Agnes Relle und Kristin Schwamm.
Transit Verlag, Berlin 2007
88 Seiten, 14,80 Euro