Der zweite Michelangelo

Eine bislang weitgehend unbekannte Seite des Physikers Galileo Galilei stellt Horst Bredekamp in seinem Werk "Galilei der Künstler" vor. Ausgestattet mit einer Doppelbegabung, die im Buch anhand von vielen Abbildungen belegt wird, war Galilei in der Lage, künstlerisches Darstellungsvermögen mit naturwissenschaftlichem Verstand in der Zeichnung zusammenzuführen.
Am Anfang der beeindruckenden Studie Horst Bredekamps über Galilei als Künstler steht eine auf den ersten Blick eher unscheinbar anmutende Federzeichnung des berühmten Mathematikers und Astrologen von 1610/11. Sehr genau lässt sich Bredekamp in der Einleitung seines Buches auf diese Skizze ein.

Er stellt die Stadtansicht, bei der Galilei mit den Effekten von Licht und Schatten arbeitet, in Beziehung zu dessen Zeichnungen von der Mondoberfläche und zeigt einen Naturwissenschaftler mit erstaunlichen künstlerischen Fähigkeiten. Galilei war ein visueller Denker. Er verfügte - so Bredekamp - über eine "motorische Intelligenz", wobei er sich durchs Zeichnen Dinge vergegenständlichte. Seine Skizzen vom Mond und von der Sonne können als Abbilder eines in den "Händen ablaufenden Denkens" verstanden werden.

Galilei ist nun der dritte im Bunde der Denker, denen Bredekamp nach Hobbes und Leibniz wissenschaftliche Studien gewidmet hat. Alle drei Wissenschaftler erkannten im Bild einen "fundamentalen Beitrag für die gestaltende Reflexion". Sie waren nicht allein genial im abstrakten Denken, sondern auch exzellent in der bildnerischen Umsetzung ihrer Anschauungen. Als Naturwissenschaftler haben sie das "Denken in Bildern" als unverzichtbarer Bestandteil ihrer Forschungen favorisiert.

Bredekamps neues Buch entwickelt aus der Deutung von Galileis "Stadtansicht" das methodische Verfahren, dem sich der an der Humboldt-Universität lehrende Kulturwissenschaftler verpflichtet fühlt: Aufmerksam verfolgt er mit detektivischem Gespür kleinste Details, die er zu einem beeindruckenden Ganzen zusammenführt. Akribisch geht Bredekamp vor, wenn er deutet und Beziehungen herstellt - keine These steht ungeschützt im Raum. Was der Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin behauptet, belegt er materialreich.

Nach einem die Sinne schärfenden Einleitungskapitel folgt ein Paukenschlag, wenn Bredekamp Galilei mit Michelangelo vergleicht. Galilei, der ursprünglich Maler werden wollte, hat seine Neigungen zur bildenden Kunst nie aufgegeben. Besonders die Kunsturteile des "zweiten Michelangelo" haben die Zeitgenossen verblüfft. Ausgestattet mit einer Doppelbegabung, die im Buch anhand von zahlreichen Abbildungen belegt wird, war Galilei in der Lage, künstlerisches Darstellungsvermögen mit naturwissenschaftlichem Verstand in der Zeichnung zusammenzuführen.

Galilei wird durchs Zeichnen bewusst, was er bei seinen Beobachtungen der Himmelskörper gesehen hat. Der Mond ist keine glatte Scheibe - wie man zu Galileis Zeit annahm -, sondern seine Oberfläche zeichnet sich durch Berge von gigantischer Größe aus, woraus sich die Schatten auf dem Mond erklären. Die Zeichnung wird somit für den Naturwissenschaftler zum "Medium der Erkenntnis".

Doch gerade das zeichnerische Werk des 1564 in Pisa geborenen Wissenschaftlers ist bisher kaum untersucht worden. Die Entdeckungen, die er bei seinen Betrachtungen des Mondes und der Sonne durch das von ihm weiterentwickelte Fernrohr macht, notiert Galilei in Form von Protokollen und illustriert seine Beobachtungen durch Zeichnungen und Stiche.

Ihr wissenschaftlicher Neuwert ergibt sich aus der genialen Kombination von schriftlich fixierter Aussage und Bild. Der Naturwissenschaftler Galilei kann nur als Künstler, der Künstler nur als in der Geometrie und den Naturwissenschaften Ausgebildeter verstanden werden.

In seinen kunstkritischen Urteilen und als Wissenschaftler und Künstler legte Galilei Wert auf "verschliffene Klarheit". Es ist jene Klarheit, die er sehen konnte, wenn er durch sein aus geschliffenen Linsen bestehendes Fernrohr blickte.

Bredekamps Buch ist eine spannende Lektüre. Er versteht es, Wissenschaft verständlich für den Laien wie für den Fachmann zu schreiben.


Rezensiert von Michael Opitz


Horst Bredekamp: Galilei der Künstler. Der Mond. Die Sonne. Die Hand
Akademie Verlag, Berlin 2007, 517 Seiten, 44,80 Euro
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