Der Zweite Weltkrieg aus der Perspektive von Kindern
Nicholas Stargardt lehrt Europäische Geschichte in Oxford. "Maikäfer flieg!" heißt sein 600 Seiten starkes Buch, in dem er die Geschichte des Zweiten Weltkrieges unter einem besonderen Aspekt erzählt: Stargardt rückt die Erlebniswelt von Kindern in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Wie haben sie Krieg, Verfolgung und Deportation, Bombennächte und Vertreibung erlebt?
Geschichtsschreibung findet naturgemäß immer aus der Perspektive von Erwachsenen statt. Kinder schreiben keine Geschichte. Der australische Historiker Nicholas Stargardt, väterlicherseits einer deutsch-jüdischen Familie entstammend, hat sich nun vorgenommen, in seinem neuen, knapp 600 Seiten starken Werk "Maikäfer flieg!", die Geschichte des Zweiten Weltkrieges unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen nachzuerzählen.
Er untersucht ihre Erlebniswelt, schreibt über sie und lässt sie selbst zu Wort kommen. Stargardt stützt sich auf zumeist bekanntes Quellenmaterial: Tagebücher und Briefe aus der Zeit 1939 -1945, Schulaufsätze aus der Nachkriegszeit, spätere Erinnerungen und Autobiografien der Kriegskinder. Diese persönlichen und individuellen Zeugnisse bettet er ein in den Kontext vorliegender geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse. Sein Buch ist das Ergebnis der Recherche zu einer historischen Fragestellung, für die es kein Vorbild gibt: Kann man darstellen, wie es war, im Zweiten Weltkrieg Kind zu sein?
Stargardt weist gleich zu Beginn auf ein Problem seines Vorhabens hin: Die Auseinandersetzung mit der Kriegskindheit hat bei den meisten Betroffenen erst sehr spät und unter Schwierigkeiten begonnen.
"Der Krieg war nicht irgendetwas gewesen, was ihnen begegnet war. Er war auch in ihnen selbst ausgetragen worden und hatte ihre Gefühlswelt auseinandergerissen. Für viele musste die nationalsozialistische Vergangenheit verdrängt werden, um sie zu ‚bewältigen’."
Das gilt für "Täterkinder" wie für "Opferkinder". Der Historiker schildert beider Erfahrungswelten, berichtet über fanatische Hitlerjungen ebenso wie über diejenigen Kinder, die von Deutschen entrechtet, verfolgt und mit dem Tod bedroht wurden. Äußerungen von weit über hundert Kindern trägt Stargardt zusammen. Vierzehn von ihnen hebt er als "dramatis personae" besonders hervor - darunter jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto und aus Auschwitz, Flakhelfer, Volkssturmangehörige, Schülerinnen und ein "Edelweißpirat". Die Orte der Handlung sind Ghettos und Vernichtungslager, die "Heimatfront" während der alliierten Luftangriffe.
Breit auch die Darstellung der Verhältnisse in deutschen Heilanstalten und Erziehungsheimen - was im Verhältnis zum übrigen Text zu spezifisch anmutet.
Der Autor stellt Fakten zusammen, zieht aber keine wirklich originellen Schlüsse. Formuliert allzu offensichtliche Einsichten: "Die Kinder und Jugendlichen waren die Generation, die am tiefsten vom Dritten Reich geprägt worden war."
Das heißt, dass sie als normal empfanden, was uns heute unnormal erscheint. Dass sie früh mit Tod und Lebensbedrohung konfrontiert waren, mit Scham und Verantwortung. Dass sie anders aufwuchsen als Kinder in friedlichen, demokratischen Verhältnissen. Überraschend ist das nicht.
Stargardts Sprache - das mag vielleicht auch der Übersetzung geschuldet sein - ist mitunter recht salopp: "Aber die Medienkampagne hatte auch ihre Fallstricke", heißt es da zu den Bemühungen der deutschen Propaganda, die Angst vor sowjetischen Gräueltaten zu schüren. Die Deportation europäischer Juden in die Vernichtungslager im Osten nennt Stargardt auch mal "demographischen Umbau". Und dass die Wissenschaft, auch zunehmend die Öffentlichkeit, den Begriff "Reichspogromnacht" statt "Reichskristallnacht" etabliert, scheint den Autor ebenfalls nicht zu kümmern.
Am Ende bleibt es bei dem ehrgeizigen Versuch, einen spannenden Aspekt zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges hinzuzufügen. Spannend vor allem deswegen, weil die Transparenz von Erlebnissen und Erfahrungswelt der Kriegskindergeneration wiederum einen direkten Einfluss hat auf deren Kinder. Also all jene, die heute in ihrer Lebensmitte stehen und daraus handeln. Diese Verbindung stellt Stargardt allerdings nicht her. Seine Geschichte zu Kindern im Krieg bleibt ein riesiges, unvollständiges Mosaik.
Rezensent von Carsten Hueck
Nicholas Stargardt Maikäfer flieg! Hitlers Krieg und die Kinder
Aus dem Englischen übersetzt von Gennaro Ghirardelli
München, Deutsche Verlags-Anstalt
608 Seiten, 34,90 Euro
Er untersucht ihre Erlebniswelt, schreibt über sie und lässt sie selbst zu Wort kommen. Stargardt stützt sich auf zumeist bekanntes Quellenmaterial: Tagebücher und Briefe aus der Zeit 1939 -1945, Schulaufsätze aus der Nachkriegszeit, spätere Erinnerungen und Autobiografien der Kriegskinder. Diese persönlichen und individuellen Zeugnisse bettet er ein in den Kontext vorliegender geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse. Sein Buch ist das Ergebnis der Recherche zu einer historischen Fragestellung, für die es kein Vorbild gibt: Kann man darstellen, wie es war, im Zweiten Weltkrieg Kind zu sein?
Stargardt weist gleich zu Beginn auf ein Problem seines Vorhabens hin: Die Auseinandersetzung mit der Kriegskindheit hat bei den meisten Betroffenen erst sehr spät und unter Schwierigkeiten begonnen.
"Der Krieg war nicht irgendetwas gewesen, was ihnen begegnet war. Er war auch in ihnen selbst ausgetragen worden und hatte ihre Gefühlswelt auseinandergerissen. Für viele musste die nationalsozialistische Vergangenheit verdrängt werden, um sie zu ‚bewältigen’."
Das gilt für "Täterkinder" wie für "Opferkinder". Der Historiker schildert beider Erfahrungswelten, berichtet über fanatische Hitlerjungen ebenso wie über diejenigen Kinder, die von Deutschen entrechtet, verfolgt und mit dem Tod bedroht wurden. Äußerungen von weit über hundert Kindern trägt Stargardt zusammen. Vierzehn von ihnen hebt er als "dramatis personae" besonders hervor - darunter jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto und aus Auschwitz, Flakhelfer, Volkssturmangehörige, Schülerinnen und ein "Edelweißpirat". Die Orte der Handlung sind Ghettos und Vernichtungslager, die "Heimatfront" während der alliierten Luftangriffe.
Breit auch die Darstellung der Verhältnisse in deutschen Heilanstalten und Erziehungsheimen - was im Verhältnis zum übrigen Text zu spezifisch anmutet.
Der Autor stellt Fakten zusammen, zieht aber keine wirklich originellen Schlüsse. Formuliert allzu offensichtliche Einsichten: "Die Kinder und Jugendlichen waren die Generation, die am tiefsten vom Dritten Reich geprägt worden war."
Das heißt, dass sie als normal empfanden, was uns heute unnormal erscheint. Dass sie früh mit Tod und Lebensbedrohung konfrontiert waren, mit Scham und Verantwortung. Dass sie anders aufwuchsen als Kinder in friedlichen, demokratischen Verhältnissen. Überraschend ist das nicht.
Stargardts Sprache - das mag vielleicht auch der Übersetzung geschuldet sein - ist mitunter recht salopp: "Aber die Medienkampagne hatte auch ihre Fallstricke", heißt es da zu den Bemühungen der deutschen Propaganda, die Angst vor sowjetischen Gräueltaten zu schüren. Die Deportation europäischer Juden in die Vernichtungslager im Osten nennt Stargardt auch mal "demographischen Umbau". Und dass die Wissenschaft, auch zunehmend die Öffentlichkeit, den Begriff "Reichspogromnacht" statt "Reichskristallnacht" etabliert, scheint den Autor ebenfalls nicht zu kümmern.
Am Ende bleibt es bei dem ehrgeizigen Versuch, einen spannenden Aspekt zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges hinzuzufügen. Spannend vor allem deswegen, weil die Transparenz von Erlebnissen und Erfahrungswelt der Kriegskindergeneration wiederum einen direkten Einfluss hat auf deren Kinder. Also all jene, die heute in ihrer Lebensmitte stehen und daraus handeln. Diese Verbindung stellt Stargardt allerdings nicht her. Seine Geschichte zu Kindern im Krieg bleibt ein riesiges, unvollständiges Mosaik.
Rezensent von Carsten Hueck
Nicholas Stargardt Maikäfer flieg! Hitlers Krieg und die Kinder
Aus dem Englischen übersetzt von Gennaro Ghirardelli
München, Deutsche Verlags-Anstalt
608 Seiten, 34,90 Euro