Deserteure, "Wehrkraftzersetzer" und "Kriegsverräter"

Von Otto Langels |
Die nationalsozialistischen Militärrichter waren gnadenloser als alle anderen NS-Juristen. Der Bundesgerichtshof hat 1995 die Militärjustiz als "Blutjustiz" bezeichnet, deren Richter sich eigentlich hätten verantworten müssen. Doch nicht einer wurde bestraft.
Der Deutsche Bundestag hob erst 2002 die Urteile der Wehrmachtsjustiz gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und "Wehrkraftzersetzer" auf – nicht aber gegen sogenannte "Kriegsverräter". Es genügte, während des Krieges Juden zu helfen, im Tagebuch abfällige Bemerkungen über Hitler zu machen oder Kriegsgefangene anständig zu behandeln, um hingerichtet zu werden. Die "Kriegsverräter" warten immer noch auf ihre Rehabilitierung.

"Reichskriegsgericht, zweiter Senat. Geheime Kommandosache. Im Namen des Deutschen Volkes! Das Reichskriegsgericht hat in der Sitzung vom 19. Dezember 1942 für Recht erkannt: Es werden verurteilt: Die Angeklagten Oberleutnant Harro Schulze-Boysen und der Schütze Kurt Schumacher wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Kriegsverrats, Zersetzung der Wehrkraft und Spionage zum Tode, zum Verlust der Wehrwürdigkeit und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.
Dr. Arvid Harnack, Libertas Schulze-Boysen, Elisabeth Schumacher, Hans Coppi und Kurt Schulze wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Spionage zum Tode und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte."

Die nationalsozialistischen Militärrichter waren gnadenloser als alle anderen NS-Juristen. Sie verkündeten mehr als 30.000 Todesurteile, darunter auch die eingangs zitierten Strafen gegen Mitglieder der Widerstandsgruppe "Rote Kapelle".

Der Marinegefreite Ludwig Baumann desertierte im Frühjahr 1942 in Südfrankreich, weil er kein Soldat mehr sein wollte. Aber die Flucht scheiterte. Ein Marinekriegsgericht verurteilte ihn nach 40-minütiger Verhandlung zum Tode. In der Begründung heißt es:

"Die Flucht vor der Fahne ist und bleibt das schimpflichste Verbrechen, das der deutsche Soldat begehen kann."

Ludwig Baumann hatte Glück. Dank der Beziehungen seines Vaters wurde die Todesstrafe in zwölf Jahre Zuchthaus umgewandelt. Aber erst nachdem er acht Monate in der Todeszelle gesessen und jeden Morgen seine Hinrichtung erwartet hatte, erfuhr er von der Begnadigung. Über das KZ Esterwege kam Baumann nach Torgau, in das größte Wehrmachtsgefängnis des NS-Regimes.

Baumann: "Ich war Freigänger innerhalb der Festung. Das Reichskriegsgericht urteilte da ab 43, und es gab da über 1000 Todesurteile, auch viele wegen Kriegsverrats. Ich kann mich an Johann Lukaschitz erinnern, der hatte dicke Hand- und Fußfesseln, die Gelenke bluteten. Er war verurteilt worden wegen Nichtanzeigen von Kriegsverrat. Da waren circa 15 Leute einer Kompanie, meist Wiener, die hatten einen Soldatenrat gegründet. Aus der Sicht der Nazis hat er keinen Kriegsverrat begangen, er hat einfach das nicht angezeigt. Und dafür haben sie ihn dann enthauptet."

Die Hinrichtung von Johann Lukaschitz ging auf den Paragraphen 57 des Militärstrafgesetzbuches zurück, der für Landesverrat während des Krieges nur ein Strafmaß kannte: das Todesurteil.

Wolfram Wette, langjähriger Mitarbeiter im Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Freiburg:

"Eingeführt wurde dieser Paragraph im Jahr 1872, nach dem deutsch-französischen Krieg. Der Terminus Kriegsverrat war verknüpft mit der Auflistung einer langen Reihe von spezifisch militärischen Verratshandlungen, wo jeder sich eine konkrete Vorstellung machen konnte, was damit gemeint war. Das hat den Nationalsozialisten schon früh nicht gefallen. Sie haben im Jahr 1934 durchgesetzt, dass dieser Paragraph 57 in der Weise geändert wurde, dass nun nur noch gesagt wurde, wer dem Feind einen Vorteil zufügt und dem eigenen Land einen Nachteil zufügt, wird mit dem Tode bestraft."

Je länger der Zweite Weltkrieg dauerte, umso rücksichtsloser ging die Militärjustiz gegen wachsende Kriegsmüdigkeit und Opposition in der Wehrmacht vor. Die Militärrichter bestraften mehr als eine Millionen Soldaten. 100.000 Verurteilte kamen in Zuchthäuser, Konzentrationslager und Strafbataillone. Von den 30.000 Todesurteilen wurden 20.000 vollstreckt, eine weltweit und in der Geschichte einmalig hohe Zahl. Zum Vergleich: Die westlichen Alliierten ließen im selben Zeitraum nur 200 Militärangehörige hinrichten. Und im Ersten Weltkrieg verhängte die deutsche Militärjustiz lediglich 150 Todesurteile, von denen nur ein Drittel vollstreckt wurde.

Rücksichtslos ging die NS-Justiz gegen die locker organisierte Berliner Widerstandsgruppe um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack vor. Die Gruppe, von der Gestapo als "Rote Kapelle" bezeichnet, war mit insgesamt 150 Personen eine der größten Widerstandsorganisationen im Dritten Reich.

Als Nachrichtenoffizier im Reichsluftfahrtministerium war Harro Schulze-Boysen in die Angriffsvorbereitungen der Wehrmacht eingeweiht. Um das Ausland über die deutschen Kriegspläne zu informieren, knüpfte die "Rote Kapelle" Kontakte zu amerikanischen und sowjetischen Botschaftsvertretern. Außerdem half die Gruppe Verfolgten und Zwangsarbeitern, und sie versuchte, nach Kriegsausbruch die eigene Bevölkerung durch Flugblätter aufzuklären. Der Arbeiter Hans Coppi, ein junger Kommunist, bemühte sich, einen Funkkontakt nach Moskau herzustellen. Sein Sohn, nach seinem Vater benannt, erinnert an die damalige Aktion.

Coppi: "Im Juni 1941 hat Harro Schulze-Boysen dann meinen Vater gefragt, ob er sich vorstellen könnte, als Funker tätig zu werden, da der Krieg gegen die Sowjetunion kurz bevorstand. Und so hat dann wenige Tage vor dem Überfall auf die Sowjetunion mein Vater zwei Funkgeräte gehabt, aber es kam eben zu keiner ständigen Funkverbindung."

Im Sommer 1942 gelang es der Gestapo, die Gruppe zu enttarnen und 130 Mitglieder festzunehmen, unter ihnen die hochschwangere Hilde Coppi, Ehefrau von Hans Coppi. Im Berliner Frauengefängnis brachte sie ihren Sohn zur Welt. Mehr als 60 Mitglieder der "Roten Kapelle" verurteilten der Volksgerichtshof und das Reichskriegsgericht zum Tode, darunter 19 Frauen, auch Hilde Coppi.

"Nichtanzeige eines Vorhabens des Hochverrats" lautete die Urteilsbegründung im Fall von Adolf Grimme. Der frühere preußische Kultusminister war Angeklagter in einem weiteren Verfahren des Reichskriegsgerichts gegen Mitglieder der "Roten Kapelle". Doch er hatte Glück. Statt der beantragten Todesstrafe kam er mit fünf Jahren Zuchthaus davon. Chefankläger war Reichskriegsgerichtsrat Manfred Roeder.

Nach 1945 versuchte der Sozialdemokrat Grimme den Generalrichter a.D. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor das Internationale Militärtribunal in Nürnberg zu bringen. Manfred Roeder rechtfertigte sich, Deutschland habe sich im Zweiten Weltkrieg "in einem Kampf um Leben und Tod" befunden.

Roeder: "Häufig war die Lage so, dass durch das Verhalten eines Einzelnen Hunderte und Aberhunderte gefährdet wurden. Der Gesichtspunkt war für mich und meine Kameraden: Es war der Bestand des Deutschen Reiches."

Roeder charakterisierte Adolf Grimme, in der Nachkriegszeit erster Kultusminister Niedersachsens und Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks, als bezahlten Landesverräter. 1951 stellte die zuständige Staatsanwaltschaft Lüneburg das Verfahren ein und begründete den Beschluss auf 1190 Seiten:

"Das Verfahren gegen die Rote Kapelle während des Nationalsozialismus wurde mit aller Korrektheit und Unvoreingenommenheit durchgeführt. Die Beratungen erfolgten mit großem Ernst und ehrlichem Wollen und durchaus nicht ohne menschliches Verständnis. Landesverrat – gleich, ob bezahlt oder nicht – hat immer und zu allen Zeiten als das schimpflichste Verbrechen gegolten."

Generalrichter a.D. Manfred Roeder wurde - wie alle "furchtbaren NS-Juristen" - in der Bundesrepublik nie zur Verantwortung gezogen. Noch jahrzehntelang hielt sich hartnäckig die ursprünglich von der Gestapo verbreitete Legende, die "Rote Kapelle" sei eine kommunistische Spionageorganisation gewesen.

Einen weiteren Fall entschied 1952 der Bundesgerichtshof. Kurz vor Kriegsende, am 16. April 1945, hatte ein Polizeioffizier versucht, in militärisch aussichtsloser Lage die Stadt Düsseldorf den amerikanischen Truppen kampflos zu übergeben. Er wurde verhaftet, wenige Stunden später von einem militärischen Standgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Den deswegen in der Bundesrepublik angeklagten Vorsitzenden des Standgerichts sprach der Bundesgerichtshof frei:

"Zwar war die militärische Lage Düsseldorfs damals aussichtslos und mit der Eroberung der Stadt durch den Gegner über kurz oder lang zu rechnen. Die Strafwürdigkeit des Kriegsverrats war aber nicht davon abhängig, ob eine weitere Verteidigung sinnvoll oder sinnlos war. Die Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung konnte trotz unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs wichtig, vielleicht sogar von besonderer Bedeutung sein."

Eine haarsträubende Begründung. Erst 1995 konstatierte der Bundesgerichtshof selbstkritisch, dass die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Justiz in der Bundesrepublik fehlgeschlagen sei.

Wette: "Unser Bundesgerichtshof hat diese einmalige Blutschuld der NS-Militärjustiz in der Weise anerkannt, dass sie diese Justiz als Terrorjustiz bezeichnet hat, die nach 1945 eigentlich wegen Rechtsbeugung hätte gerichtlich verfolgt werden müssen, was jedoch in der Praxis nicht geschehen ist."

Im Mai 1997, mehr als 50 Jahre nach dem Untergang des Nationalsozialismus, stellte der Deutsche Bundestag in einer Entschließung fest:

"Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen."

Ein Jahr später hob das Parlament eine Vielzahl nationalsozialistischer Unrechtsurteile auf, insbesondere alle Entscheidungen des berüchtigten Volksgerichtshofes und der seit Februar 1945 gebildeten Standgerichte.

2002 erweiterte der Gesetzgeber den Katalog der NS-Urteile, die pauschal aufgehoben wurden. Dazu zählten Delikte wie Desertion, Feigheit vor dem Feind, Kriegsdienstverweigerung und Wehrkraftzersetzung. Ausgenommen blieb der Kriegsverrat.
Ludwig Baumann, Vorsitzender der Vereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz:

"Da steht drin, die wegen Kriegsverrat Verurteilten können nicht aufgehoben werden, die Urteile, und zusammen mit Leichenfledderern und Plünderern; in diesem Kontext also diese Verhöhnung dieser Opfer, die so gelitten haben."

Zu den Politikern, die die Rehabilitierung ablehnten, gehörte der CSU-Abgeordnete Norbert Geis, seinerzeit rechtspolitischer Sprecher seiner Partei:

"Wir haben damals die Kriegsverbrecher oder Kriegsverräter nicht rehabilitiert, weil wir meinten, dass auch Fälle nachweisbar sind, in denen solche Kriegsverräter schwersten Schaden den eigenen Kameraden zugefügt haben, und wir wollten dies nicht sanktionieren."

Der Bundestag ließ allerdings die Möglichkeit einer individuellen Rehabilitierung zu. Auf Antrag sollte die zuständige Staatsanwaltschaft prüfen, ob Gründe gegen eine Aufhebung des NS-Urteils vorlagen.
Hans Coppi lehnte dieses Verfahren im Fall seiner Eltern ab:

"Ich wurde auch gefragt, ob ich nicht auch einen Antrag stelle bei der Staatsanwaltschaft. Ich hab mich da nicht weiter drum gekümmert, weil ich denke, entweder die Bundesrepublik steht in der Verantwortung, dazu etwas zu machen und aus ihren Worten auch Taten werden zu lassen oder nicht, dann ist das so, dass sie nicht rehabilitiert sind."

Dagegen wandte Hartmut Schulze-Boysen sich an die Staatsanwaltschaft Berlin, um seinen von den Nazis hingerichteten Bruder Harro zu rehabilitieren. Im Februar 2006 wurde das NS-Urteil gegen das führende Mitglied der "Roten Kapelle" aufgehoben. In der Begründung heißt es:

"Die nationalsozialistische Herrschaftsform war ein politisches Terrorsystem der uneingeschränkten Willkür, das durch keinerlei rechtliche Garantie eingeschränkt wurde. Die massenhafte Verhängung der Todesurteile durch die Wehrmachtsgerichte zielte ab auf eine allgemeine Abschreckung und sollte um jeden Preis von allen Soldaten auch gegenüber sinnlosen Befehlen unbedingten Gehorsam erzwingen."

Eine eigentlich unmissverständliche Stellungnahme. Dennoch weigert sich der wissenschaftliche Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr in Potsdam, Rolf-Dieter Müller, die NS-Militärjustiz pauschal als Terrorinstrument zu kennzeichnen:

"Dass die Justiz, auch die Wehrmachtsjustiz ein Teil des NS-Unrechtsregimes gewesen ist, steht ja außer Frage. Dennoch heißt das ja nicht, dass automatisch alle Bereiche des Rechtswesens oder alle Urteile von vornherein unter diesen Verdacht der Nazifizierung zu stellen wären. Die Frage ist also, wo sortieren wir den Fall des Kriegsverrats hin, ist das Teil einer "ordentlichen" Militärjustiz, die durch Nazifizierung in ein braunes, in ein schiefes Licht geraten ist, oder gehört das eindeutig und ausschließlich und absolut in den Bereich der politischen Justiz wie beim Volksgerichtshof?"
Die Frage sei längst beantwortet und mithin überflüssig, meint der Freiburger Militärhistoriker Manfred Messerschmidt, Autor zahlreicher Standardwerke zur Militärgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts:

"Es ist ja doch unglaublich, dass Urteile, die vom Volksgerichtshof gefällt worden sind, aufgehoben sind, von der Militärjustiz, die viel mehr Todesurteile verhängt hat als der Volksgerichtshof, nicht. Und die Einstellung der Richter war praktisch identisch."
Die meisten Fälle von "Kriegsverrat", so hat der Freiburger Historiker Wolfram Wette in einer jüngst veröffentlichten Studie festgestellt, waren politisch oder moralisch/ethisch motiviert. Oft wussten die Soldaten nicht einmal, dass ihr Verhalten als "Kriegsverrat" geahndet wurde.

"An der rumänisch-ungarischen Grenze haben zwei Obergefreite der Wehrmacht Bitten von jüdischen Familien erfüllt, sie auf ihrem Wehrmachts-LKW über die Grenze von Ungarn nach Rumänien zu bringen, weil sie davon Wind bekommen hatten, dass die ungarischen Juden deportiert werden sollten. An der Grenze wurden sie erwischt, die Juden mussten absteigen und sind mit einiger Sicherheit in Auschwitz gelandet. Und die zwei Soldaten wurden wegen sogenannten Judenschmuggels, ein Begriff, den es im Militärstrafgesetzbuch überhaupt nicht gibt, der mit Kriegsverrat identifiziert wurde, ebenfalls zum Tode verurteilt."

Einer der wenigen prominenten sogenannten "Kriegsverräter" war General Walther von Seydlitz-Kurzbach. Nach der Niederlage von Stalingrad war er in sowjetische Gefangenschaft geraten, dem Nationalkomitee Freies Deutschland und dem Bund Deutscher Offiziere beigetreten. Die im Osten kämpfenden Wehrmachtstruppen hatte er in Flugblättern aufgefordert, sich gegen das Hitler-Regime zu erheben. Die ranghöchsten Generäle formulierten als Gegenreaktion eine Ergebenheitsadresse an Hitler, in der sie Seydlitz‘ Verhalten als "schnöden Verrat an unserer heiligsten Sache" und "Dolchstoß in den Rücken der kämpfenden Front" brandmarkten. Im April 1944 verurteilte das Reichskriegsgericht von Seydlitz in Abwesenheit wegen Hoch- und Kriegsverrats zum Tode.

Wette: "Diese Geschichte ist auch deswegen interessant, weil Seydlitz nach dem Kriege ein Verfahren anstrengte, dass diese Strafe wieder aufgehoben wurde, und das Gericht in Verden an der Aller ist dem gefolgt, hat Seydlitz widerständiges Verhalten zugebilligt und hat das Urteil aufgehoben."

Freisler: "Im Namen des Deutschen Volkes. Ehrgeizzerfressene, ehrlose, feige Verräter sind Carl Goerdeler, Wilhelm Leuschner, Josef Wirmer und Ulrich von Hassell."

Der Vorsitzende des Volksgerichtshofes Roland Freisler verkündet am 8. September 1944 das Urteil gegen Verschwörer des 20. Juli.

Freisler: "Sie verschworen sich, Goerdeler sogar als politischer Kriegsspion für unsere Feinde, mit einer Gruppe eidbrüchiger Offiziere, die unseren Führer ermorden wollte, als Minister einer feindhörigen Verräterregierung unser Volk in dunkler Reaktion zu knechten und unseren Feinden auf Gnade und Ungnade auszuliefern. Statt mannhaft wie das ganze deutsche Volk dem Führer folgend unseren Sieg zu erkämpfen, verrieten sie das Opfer unserer Krieger, Volk, Führer und Reich. Sie werden mit dem Tode bestraft."

Für die Mehrzahl der Verschwörer des 20. Juli wäre eigentlich das Reichskriegsgericht zuständig gewesen. Aber angesichts der Brisanz des Falls mussten sie sich vor dem Volksgerichtshof verantworten, wenn sie nicht bereits direkt nach dem Attentat erschossen worden waren.
Der Militärhistoriker Manfred Messerschmidt:

"Wenn z.B. Stauffenberg nicht standgerichtlich umgebracht worden wäre, dann hätte er eigentlich vor das Reichskriegsgericht gehört. Diese Urteile sind aber nicht aufgehoben, der würde also heute noch als zum Tode verurteilter Hoch- und Landesverräter gelten, und die feinen Richter, die das veranstaltet haben, denen ist gar nichts passiert."

Nicht nur wer Hitler nach dem Leben trachtete, riskierte den eigenen Tod. Auch wer lediglich abfällige Bemerkungen über den Führer gegenüber Kameraden machte, Kriegsgefangene anständig behandelte oder ein Flugblatt eingesteckt hatte, das zur Fahnenflucht aufforderte, den behandelte die NS-Justiz als "Kriegsverräter".

Wette: "Man geht wohl nicht fehl, wenn man sagt, dieser Kriegsverratsparagraph wurde von den Militärrichtern als ein Disziplinierungsmittel von Mannschaften und Unteroffizieren begriffen, und gar nicht so sehr – was man eigentlich vermuten könnte – als ein Mittel zur Verfolgung jeglichen Landesverrats. Die alten Eliten haben sich gegenseitig gedeckt, aber ein kleiner Mann wurde mit diesem Schlagstock verfolgt."

Während Wolfram Wette den "kleinen Leuten" durchweg ehrenhafte Motive zubilligt, will Rolf-Dieter Müller nicht ausschließen, dass "Kriegsverräter" sich von niedrigen Beweggründen wie Rache gegenüber missliebigen Vorgesetzten oder persönlicher Vorteilnahme leiten ließen.

Müller: "Derjenige, der desertiert und dann dem Gegner eigene Stellungen zu Lasten der eigenen Kameraden, die ihm bisher vertraut haben, verrät, damit Verluste unter der Truppe verursacht, die über das normale Kriegsrisiko sozusagen hinausgehen, das ist ein Akt von einer gewissen Hinterhältigkeit, der sich nicht legitimiert."

Konkrete Fälle kann Rolf-Dieter Müller allerdings nicht nennen und reklamiert weiteren Forschungsbedarf. Der aber sei gar nicht nötig, meint sein Kollege Wolfram Wette.

Wette: "Wir haben ganz konkret geschaut, welche Urteile hat das dafür zuständige Reichskriegsgericht eigentlich gesprochen. Und den Urteilsbegründungen konnte man ja die Sachverhalte entnehmen. In keinem dieser Urteile hat sich der Verdacht bestätigt, dass von Kriegsverrätern eine unmittelbare Gefährdung für die eigene Truppe ausgegangen ist."

Nachdem der Bundestag es 2002 abgelehnt hatte, die "Kriegsverräter" zu rehabilitieren, liegt jetzt ein neuer Gesetzentwurf der Linken vor. Initiiert hat den Vorschlag u.a. der Abgeordnete Jan Korte.

Korte: "Es ist in der Tat das letzte Tabu aus dem NS-Recht, was bis heute offensichtlich Fortbestand hat. Diese Leute sind verurteilt, und unser Anliegen ist es, jetzt hier eine pauschale Rehabilitierung zu machen, die vor allem natürlich auch ein politisches Zeichen ist, ein vergangenheitspolitisches Zeichen, was diese Menschen würdigen und vor allem sie rehabilitieren soll, denn sie sind bis heute vorbestraft."

Im Herbst wird der Bundestag über die Aufhebung der letzten "nationalsozialistischen Unrechtsurteile" entscheiden. Der Ausgang der Abstimmung ist offen.

Die Abgeordneten werden dann die Grundsatzfrage beantworten müssen, ob sie die "Kriegsverräter" zum Kreis der NS-Opfer und -gegner zählen?
Die deutsche Nachkriegsgeschichte durchzieht ein langes und mühsames Ringen von Opfern wie Gegnern des Nationalsozialismus um Anerkennung. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis z.B. Zwangsarbeiter, Homosexuelle oder Sinti und Roma als NS-Opfer gewürdigt wurden. Ebenso war es ein schwieriger Prozess, in West und Ost Verständnis dafür zu gewinnen, dass Widerstand im Dritten Reich sich nicht auf den 20. Juli und die Weiße Rose bzw. den Kampf der Kommunisten beschränkte. Der Hitler-Attentäter Georg Elser, die Mitglieder der "Roten Kapelle" oder der Unternehmer Oskar Schindler fanden, wenn überhaupt, erst sehr spät Wertschätzung.

Heute sind die Experten sich weitgehend einig, dass widerständiges Verhalten sich nicht allein an hochstehenden ethischen Motiven und vorbildlichen Lebensläufen ablesen lässt. Ein Graf Stauffenberg z.B. war lange Zeit ein überzeugter Anhänger der Nazis gewesen, der den Eroberungskrieg der Wehrmacht befürwortete, bevor er sich von Hitler abwandte.
Der CSU-Rechtspolitiker Norbert Geis weigert sich jedoch, die "Helden" des 20. Juli mit "Kriegsverbrechern", wie er sie nennt, auch nur entfernt zu vergleichen.
Geis: "Ich glaube auch, dass es falsch ist, die Überläufer und die auch Kriegsverrat auf Grund dieser Tatsache getan haben, nämlich um sich lieb Kind zu machen, nämlich um die eigene Haut zu retten, gleichgesetzt werden dürfen mit den Widerstandskämpfern. Da würden wir den Widerstandskämpfern entscheidendes Unrecht antun. Diese Leute können wir nicht generell rehabilitieren, die haben auch nichts mit den Heldentaten zu tun, die alle Widerständler geleistet haben, die müssen wir ganz anders sehen als solche Verbrecher."

Baumann: "Nun waren ja nicht alle Soldaten Täter, aber alle Soldaten dienten in den Armeen, die den Vernichtungskrieg geführt haben. Und es hätten ja Millionen Menschen nicht mehr zu sterben brauchen, wenn es mehr Kriegsverrat gegeben hätte. Also diese Lebensgefährdung für deutsche Soldaten höher zu stellen als die Rettung von Millionen Zivilisten, KZ-Insassen und andern Verfolgten, das ist unglaublich."

Empört sich der Deserteur Ludwig Baumann. Vermutlich würde Norbert Geis sich hüten, den deutschen General Hans Oster, eine der treibenden Kräfte des militärischen Widerstandes, einen "Kriegsverbrecher" zu nennen. Dabei hatte der Berufsoffizier in den Jahren 1939/40 west- und nordeuropäische Länder von dem geplanten deutschen Angriff in Kenntnis gesetzt, um einen militärischen Rückschlag herbeizuführen. Oster sollte übrigens nach dem Umsturz vom 20. Juli Präsident des Reichskriegsgerichts werden. Ein "Kriegsverräter" als oberster Vertreter der Wehrmachtsjustiz – eine wundersame Wendung der Militärgeschichte hätte dies werden können. Hans Oster wurde im April 1945 im KZ Flossenbürg ermordet.

Nun tragen gut sechs Jahrzehnte später Politiker und Geschichtswissenschaftler ein letztes Gefecht um die Ehre der Wehrmacht und der Militärjustiz aus.
Die Historiker Rolf-Dieter Müller und Wolfram Wette:

Müller: "Nicht alle, die desertiert sind oder Kriegsverrat begangen haben, sind ja von vornherein unter Unschuldsverdacht zu stellen, zumal man bedenken muss, dass die meisten dieser Fälle nach der Wende von Stalingrad aufgetreten sind und hier doch in den meisten Fällen aus blankem Opportunismus Kameraden verraten haben, denunziert haben gegenüber der Gewahrsamsmacht, also ich denke, da muss man differenziert urteilen und eine pauschale Rehabilitierung wird jedenfalls dem Anliegen des Historikers nicht gerecht."

Wette. "Wir haben es ja im Falle der Wehrmachtssoldaten, die den Kriegsdienst verweigert haben, die desertiert sind, die dann als Wehrkraftzersetzer belangt worden sind, weil sie sich kritisch über das Regime geäußert haben mit einer ganz spezifischen historischen Situation zu tun, und das gilt eben auch für die wegen Kriegsverrats verurteilten Soldaten. Sie wandten in der Weise, wie das kleine Leute in Uniform tun können, also in anderer Weise als etwa der Graf Stauffenberg getan hat, sie wandten sich gegen das Regime, wollten dazu beitragen, die Kriegsdauer zu verkürzen."

Die aktuelle Debatte hat nicht nur eine zeitgeschichtliche Dimension, es geht grundsätzlich um ein geschichtspolitisches Signal, um das politisch und moralisch Verwerfliche des militärischen Verrats. Die letzten bis heute vorbestraften Opfer der Wehrmachtsjustiz, von denen vermutlich niemand mehr lebt, spielen in dieser Kontroverse nur am Rande eine Rolle.
Mancher Kontrahent verliert dabei im Eifer des Gefechts die historischen Zusammenhänge aus dem Blick. Ob jemand in einer Diktatur oder in einer Demokratie "Kriegsverrat" begeht, erscheint nebensächlich.
Müller: "Man stelle sich vor, ein Bundeswehrfeldwebel, der bei einem Einmarsch im Kosovo der Meinung gewesen sei, dass sei ein völkerrechtswidriger Akt und nehme sich das Recht, mit den Serben zu kooperieren und eine deutsche Truppe da in einen Hinterhalt zu locken. Also das muß auch mit bedacht werden.
Es geht nicht nur um die Vergangenheit, um die Aufarbeitung der Geschichte des NS-Systems, sondern es geht auch um die Frage, was sind sozusagen Bastionen unseres Rechts, und da gehört eben der militärische Geheimnisverrat in der Tat auch in Zukunft wie in allen demokratischen Staaten zu den Delikten, die strafwürdig sind."

Wette: "Wer Widerstand gegen das verbrecherische NS-System und die von ihm angezettelten Kriege für legitim hält, und hierüber herrscht ja ein großer Konsens in unserem Lande, der darf auch die wegen Kriegsverrats verurteilten Soldaten nicht ausklammern, sondern sollte sie in die langjährige Rehabilitierungspolitik, die der Deutsche Bundestag betrieben hat, einbeziehen."