Angst essen Gehirn auf
Angst mache blind und dumm, meint der Hamburger Journalist Martin Tschechne − und der informierte Bürger sei längst Opfer immer neuer hysterischer Erregung geworden, die Ereignisse nicht angemessen einzuordnen verstehe.
Wieder so ein Fernsehabend. Das Programm plätschert dahin, da entrollt sich unten im Bild eine Textzeile: Eilmeldung. Ein Anschlag, diesmal in Istanbul. Sondersendung folgt.
Es war dann Nizza, nicht Istanbul; der kleine Fehler wurde rasch korrigiert. Die Eile … Ein zufällig anwesender Reporter hatte wenige Minuten zuvor die Bilder festgehalten, die keiner so bald wieder loswird: den Lastwagen, der in eine Menschenmenge rast, die Opfer auf der Strandpromenade. Achtzig Tote? Hundert? Keiner weiß etwas.
Der "IS" habe sich noch nicht zu der Tat bekannt, heißt es. Aber das Wort ist in der Welt. Die Großmeister der Einschüchterung haben uns im Griff. Alle sind sich einig. Der seit November herrschende Ausnahmezustand wird gleich mal verlängert.
Eilmeldungen haben Fernsehabend im Griff
Am nächsten Tag dann, welche Ironie: wirklich Istanbul; Nizza rückt schon wieder an den Rand des Weltgeschehens. Ein Putschversuch, tausende von Verhaftungen, hunderte von Toten. Und bald auch hier: ein Ausnahmezustand. Die Regierung lässt sich als Sieger feiern und darf ihre Gegner nun unter dem Applaus der Bürger aus den Ämtern jagen. So wird es wohl lange bleiben.
Die Ähnlichkeit der Vorfälle beschränkt sich selbstverständlich allein auf den Zeitpunkt – und auf den Menschen im Fernsehsessel. Schon wieder die Türkei, denkt sich der, schon wieder Frankreich.
50 Tote waren es vor wenigen Wochen erst auf dem Flughafen in Istanbul, 130 im November in Paris, dazu Dhaka, Orlando, Bagdad, Brüssel. In Texas werden fünf Polizisten erschossen, wenig später in Louisiana drei. Die Kameras stehen immer direkt daneben.
Schwer bewaffnete Armeen bereiten sich auf die Olympischen Spiele vor. Und der tägliche Terrorismusexperte aus London bestätigt, dass bald auch Köln oder Koblenz dran sind. Wer sollte bei alledem nicht vor Angst verrückt werden?
Informierter Bürger würde Opfer von Bildern und Geschrei
Irgendwann ahnt es der stets bestens informierte Bürger: Er ist längst selbst ein Opfer geworden. Angst ist die natürliche Reaktion auf ungewisse Herausforderung. Aber wie viel davon erträgt ein normaler Mensch, ohne Schaden zu nehmen?
Welcher Anteil des allgegenwärtigen Schreckens ist tatsächlich ein Abbild der Wirklichkeit? Welcher ist einer Konkurrenz geschuldet, auf die sich seriöse Medien einlassen, nur um sich gegen die hysterische Flut von Bildern und Geschrei aus dem Internet zu behaupten?
So viele kochen ihr Süppchen auf dieser ständig mit Eilmeldungen befeuerten Erregung. "Ein ängstlicher Mensch ist immer ein Untertan", sagte der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz. "Einer, den man ausnutzen kann." Maaz hatte vor allem die Menschen in der DDR beobachtet. Aber natürlich gilt sein Befund auch hier und heute. Desinformation ist eine bewährte Waffe der psychologischen Propaganda. Information kann es ebenso sein.
Angst macht blind und dumm, wie die Schlauen wissen
Denn durch Angst lässt das Denken sich fernsteuern. Angst beherrscht die Wahrnehmung und überlagert jede andere Emotion. Sie sucht sich Bestätigung und widersetzt sich besserem Wissen. Sie ignoriert Entwicklung und schleichende Prozesse, die zunehmende Neigung zur Gewalt, den Klimawandel und das Auseinanderbrechen der Gesellschaft. Dafür löst sie Panik aus, wo weitaus geringere Gefahr droht.
Angst ist eine Reaktion auf Nicht-Wissen und oft genug die paradoxe Ursache, diesen Zustand grimmig zu verteidigen. Etwa, wenn Pegidisten und AfD'ler Angst haben vor der Überfremdung der Sächsischen Schweiz, die Brexit-Befürworter im strukturschwachen Norden von England vor dem Brexit – nun plötzlich doch! – und Kleinanleger vor Finanzjongleuren, denen sie ihr Erspartes anvertraut haben.
Angst macht blind und dumm. Und gefährlich ist: Die Schlauen wissen das.
Dr. Martin Tschechne lebt als Journalist und Psychologe in Hamburg. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie DGPs zeichnete ihn mit ihrem Preis für Wissenschaftspublizistik aus.