Detjen: Bundesverfassungsgericht-Einfluss auf Politik nicht zu stark

Stephan Detjen im Gespräch mit Katrin Heise |
Das Bundesverfassungsgericht sei "eine kühne Konstruktion des Grundgesetzes auf einem ganz schmalen Grat zwischen Recht und Politik", sagt Stephan Detjen, Deutschlandfunk-Chefredakteur und Ex-Korrespondent in Karlsruhe. Er sei nicht der Ansicht, dass sich das Gericht zu stark in die Politik einmische.
Katrin Heise: Das Bundesverfassungsgericht gilt als einer der Eckpfeiler von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und genießt hohes Ansehen und Vertrauen bei den Bürgern. Es überprüft Entscheidungen anderer Gerichte und aller anderer Staatsorgane wie Bundesregierung, Bundestag, Bundespräsident und so weiter. Entscheidend ist: Sind die Grundsätze des Rechtsstaates eingehalten? Seit seiner Gründung 1951 hat das Gericht wichtige gesellschaftliche Veränderungen sichtbar gemacht und viele auch selber vorangetrieben. Über die Rolle des Bundesverfassungsgerichts und seine wachsende Bedeutung bei politischen Streitthemen spreche ich jetzt mit Stephan Detjen, Chefredakteur im Deutschlandfunk und ehemaliger Korrespondent in Karlsruhe. Schönen guten Tag, Herr Detjen!

Stephan Detjen: Guten Morgen, Frau Heise!

Heise: Der französische Politologe Alfred Grosser bezeichnete das Bundesverfassungsgericht ja mal als die "ohne Frage originellste Institution des deutschen Verfassungsgefüges". Was meint er damit?

Detjen: Ja, ich finde, das ist ein schönes Wort, das ist eine gute Beschreibung und sie trifft den Punkt, dass dieses Bundesverfassungsgericht eine, tja, eine kühne Konstruktion des Grundgesetzes auf einem ganz schmalen Grat zwischen Recht und Politik ist. Man muss wissen: Die Idee einer solchen Verfassungsgerichtsbarkeit, die weit mit ihrer Rechtsprechung in den Bereich von Politik und Gesellschaft hineinreicht, die ist eigentlich eine alte Idee, die in den 20er-Jahren in der Staatsrechtslehre in Deutschland schon sehr lebhaft diskutiert worden ist und dann mit der neuen Verfassung, mit der Nachkriegsverfassung, mit dem Grundgesetz dann neu belebt und in die Verfassungswirklichkeit dieses neuen Landes umgesetzt wurde.

Heise: Man musste dafür aber bestehende Ängste überwinden, das höre ich raus, also vor der Vermischung von rechtlichen und politischen Elementen?

Detjen: Ja, natürlich. Es gab eine Tradition in der deutschen Rechtslehre, in der Verfassungslehre, dass Politik und Recht streng getrennte Sphären sein sollten, dass das Recht sozusagen seine Reinheit bewahren sollte. Insofern bedurfte es wirklich eines Mutes und auch harter Auseinandersetzungen in den 50er-Jahren, die Art von Verfassungsrechtsprechung zu etablieren, wie wir sie heute kennen und wie sie ja in Deutschland – wie wenige andere Institutionen dieser Bundesrepublik – geschätzt wird. Also auch in den 50er-Jahren, im ersten Jahrzehnt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, gab es massive Widerstände, auch in Karlsruhe: Ein paar Schritte vom Bundesverfassungsgericht entfernt war der Bundesgerichtshof, da saßen viel konservativere Richter, die sich mit allem, was sie aufbieten konnten, dagegen wehrten, dass da ein so neues Gericht entsteht, das den Anspruch erhebt, Rechtssätze, Sätze der Verfassung, Grundrechte im Sinne einer – wie das Bundesverfassungsgericht in einer wegweisenden frühen Entscheidung sagte –, einer Werteordnung auszulegen, die dann nicht nur das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat, sondern auch zwischen den Bürgern untereinander prägt und damit in alle Bereiche des Rechts hineinstrahlt.

Heise: Und genau das sollte eben den Rechtsstaat garantieren?

Detjen: Nun, das Bundesverfassungsgericht hütet die Verfassung, aber hinter dieser Idee einer Verfassungsrechtsprechung steht natürlich ein Verständnis von Verfassung: Was ist eine Verfassung? Auch das wurde in den 20er-Jahren lebhaft diskutiert. Ist das sozusagen eine reine Geschäftsordnung für Staatsorgane, die Regeln und Verfahren festlegt, in denen Staatsorgane miteinander umgehen, in denen Gesetze entstehen? Oder enthält eine Verfassung eben doch weitergehende, grundlegende Bestimmungen über das Zusammenleben der Menschen, über die Werte, über die Ideen, die das Gemeinwesen prägen? Und das Bundesverfassungsgericht hat das Grundgesetz, insbesondere den Grundrechteteil, eben in diesem Sinne einer weitreichenden Werteordnung interpretiert und durchgesetzt.

Heise: Woher kommt das hohe Ansehen, das Vertrauen aber auch vor allem, das das Bundesverfassungsgericht genießt?

Detjen: Ganz wesentlich dafür war natürlich die Einführung der Verfassungsbeschwerde, also der Möglichkeit, dass tatsächlich jedermann sich an dieses Gericht wenden kann und hier das einklagen kann, was er aus dem Grundgesetz als sein gutes Recht abliest. Und das Bundesverfassungsgericht hat das ja eingelöst, dieses Versprechen, dass hier tatsächlich jeder Recht finden kann, wenn man sich anschaut: Die großen Urteile, viele der ganz wichtigen, wegweisenden Entscheidungen dieses Bundesverfassungsgerichts wurden von Bürgern erstritten, erkämpft, teilweise von Leuten, die wir vielleicht im normalen Umgang als Querulanten bezeichnen würden – die haben da einen ganz wesentlichen Teil zur Rechts- und Verfassungsentwicklung geleistet, Leute, die aus welchen Motiven auch immer die Energie aufgebracht haben, eben auf dem langen Weg, Rechtsweg bis nach Karlsruhe für ihre Sache zu streiten und dann eben Dinge durchzusetzen, die am Ende für viele andere Menschen prägend geworden sind. Das waren Strafgefangene, das waren Mütter, das waren Frauen, das waren Leute aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, die hier einen ganz wesentlichen Beitrag zur Rechtsentwicklung beigetragen haben aber eben auch dazu, dass dieses Gericht als ein Gericht der Bürger, nicht nur für Staatsorgane, sondern ein Gericht der Menschen in diesem Land wahrgenommen wurde. Und das ist eine Ursache dafür, dass dieses Bundesverfassungsgericht in allen Umfragen, wenn nach dem Ansehen von Staatsorganen gefragt wird, immer unangefochten an der Spitze liegt.

Heise: 60 Jahre Bundesverfassungsgericht – unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit Stephan Detjen. Inzwischen, Herr Detjen, werden ja immer mehr politische Streitfragen vor das Bundesverfassungsgericht gebracht. Spricht das eigentlich für ein verändertes Selbstverständnis jetzt als politischer Schlichter, oder ist das eher ein Armutszeugnis für die Politik?

Detjen: Ach, ich glaube, das wird etwas übertrieben wahrgenommen. Das ist so ein Topos, das ist so ein Argument, das tauchte von Anfang an immer wieder auf. Ich habe das ja erzählt: Es gab immer Menschen, es gab immer Juristen, es gab natürlich auch immer Politiker, die fanden, diese Richter in Karlsruhe sollen sich raushalten und sollen uns nicht ins Geschäft hineinreden. Es hat in den 80er-, 90er-Jahren Fälle gegeben, wo der Eindruck entstanden war, da wird das Gericht wirklich eindeutig missbraucht, es werden Entscheidungen nach Karlsruhe abgewälzt. Ich finde, das ist nach meinem Eindruck in letzter Zeit nicht mehr der Fall. Das Wesentliche ist: Dieses Gericht war immer ein stark auch in politischem Raum agierendes Gericht, schauen Sie sich die frühen Fälle an, Sie haben das erwähnt, die KPD-Entscheidung, wichtige Entscheidungen zur Rolle des Bundestages, zur Mitsprache von Staat zum Verhältnis der Staatsorgane untereinander. Von daher kann man nicht sagen, dass sich dieses Gericht im Augenblick zu weit in die Politik einmischt.

Heise: Wie unabhängig ist es eigentlich von der Politik und wodurch wird das garantiert?

Detjen: Ja, auch das ist eine Frage, die immer wieder im Zusammenhang mit der Wahl von Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts auftaucht: Wie weit kann, darf der politische Einfluss auf die Bestimmung von Richterinnen und Richtern gehen? Aber in seiner Geschichte, in dieser nun 60-jährigen Geschichte hat sich dieses Bundesverfassungsgericht auch in seinen unterschiedlichen personellen Zusammensetzungen immer wieder als unabhängig erwiesen. Man hat das immer wieder erlebt, dass Menschen Richterinnen oder Richter wurden, die aus der politischen Sphäre kamen, auch unter den Präsidenten: Jutta Limbach war Justizsenatorin in Hamburg gewesen, Roman Herzog war Innenminister in Baden-Württemberg gewesen, Ernst Benda war Innenminister und lange CDU-Bundestagsabgeordneter gewesen, also das hat es immer wieder gegeben. Und auch diese Richter haben dann immer wieder bewiesen, dass mit diesem Rollenwechsel, mit diesem Wechsel auf die Richterbank auch ein Perspektivwechsel stattfindet, dass man Dinge auf einmal anders sieht, dass man auf einmal in einer ganz anderen Diskussionssituation ist. Und ich glaube, auch deswegen war es ganz klug, dass sich das Bundesverfassungsgericht auch Anfang der 90er-Jahre, als der Bundestag dann entschied, nach Berlin zu gehen, als sich das Bundesverfassungsgericht nach internen Diskussionen ganz bewusst entschieden hat, in Karlsruhe zu bleiben, in dieser westdeutschen Distanz zum heißen, brodelnden Geschäft der Politik in Berlin.

Heise: Umgekehrt zu dem, oder vielleicht noch eins draufgesetzt zu dem, was Sie eben gerade gesagt haben, wünscht sich der Staatsrechtler Christoph Möller ja, dass mehr Politiker, die eben auch die andere Seite des Verfassungsrechts kennen, nach Karlsruhe berufen würden.

Detjen: Das Bundesverfassungsgericht hat immer aus einer Balance gelebt von unterschiedlichen Typen auch, die an diesem Gericht vertreten sind. Es gibt eine Quotierung: Ein Teil der Richter muss von den obersten Gerichten des Bundes kommen, also vom Bundesgerichtshof oder vom Bundesverwaltungsgericht. Und dann gibt es die Möglichkeit, dass auch Politiker der Staatsrechtslehre an dieses Gericht kommen können – da hat es immer extrovertiertere Menschen gegeben, die in der Öffentlichkeit geglänzt haben, die stark wahrgenommen sind, oft viel stärker wahrgenommen sind als ihr tatsächlicher Einfluss dann im Gericht gewesen ist. Und ich glaube jedenfalls nicht, dass es schadet, wenn Politiker da sind. Ich würde mir eher wünschen, dass noch eine andere Berufsgruppe vertreten ist, die seit Längerem im Bundestag nicht mehr vertreten ist, nämlich die der Rechtsanwälte.

Heise: Wie verändert sich eigentlich die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts jetzt durch den europäischen Integrationsprozess? Also immer mehr nationale Kompetenzen wechseln ja in den EU-Bereich.

Detjen: Ja, das ist natürlich die ganz interessante und offene Zukunftsfrage, die sich dem Gericht ja auch in diesem Jubiläumsjahr ja in ganz markanter Weise stellt. Das Bundesverfassungsgericht ist immer wieder und zunehmend involviert mit der Frage, wie sich eigentlich Grundgesetz, wie sich die nationale deutsche Verfassungsordnung mit dem vereinbaren lässt, was sich da als eine europäische Rechts- und Verfassungsordnung über nationale Verfassungen hinwegwölbt. Wir wissen ja noch gar nicht richtig, wie wir das eigentlich nennen sollen. Sollen wir von einer europäischen Verfassung sprechen, von einem Staatenbund, von einem Staatenverbund, wie das Bundesverfassungsgericht das sagt? Und das betrifft natürlich auch die eigene Rolle: Das Bundesverfassungsgericht ist einem offenen Konflikt mit seinem europäischen Pendant, mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, immer wieder aus dem Weg gegangen. Das Verhältnis ist aber in Teilen klärungsbedürftig. Jedenfalls auch nach dem eigenen Selbstverständnis wächst dieses Gericht auch immer mehr selbst in eine europäische Ordnung herein, der jetzige Präsident Andreas Voßkuhle spricht von einem europäischen Gerichtsverbund, der sich da so ganz informell auf Gesprächsebenen gebildet hat. Aber da ist sicherlich noch einiges klärungsbedürftig.

Heise: Stephan Detjen, Chefredakteur im Deutschlandfunk und ehemaliger Korrespondent in Karlsruhe, zu 60 Jahre Bundesverfassungsgericht. Schönen Dank!

Detjen: Gerne!

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