Eine Autostadt erfindet sich neu
Detroit geht gerade durch einen schmerzhaften Insolvenzprozess: Kreditgeber mussten auf Geld verzichten, Gebühren steigen, Häuser werden abgerissen. Auf der anderen Seite entstehen in leeren Läden neue Geschäftsmodelle - und auch Künstler fühlen sich angezogen.
Wer auf die Idee kommt, mitten in Detroit eine Uhrenfabrik zu eröffnen, muss vielleicht nicht ganz richtig ticken, oder schon sehr an diese Stadt glauben. Die Gründer von Shinola haben diesen Schritt gewagt. Sie sind in das ehemalige Design-Zentrum von General Motors gezogen, mitten in die Stadt. Dort, wo früher Designer Armaturenbretter und Außenspiegel entwarfen, werden heute Uhren, Taschen und Fahrräder zusammengebaut.
Mayra hat diese Wende der Autoindustrie mit vollzogen. Früher stand sie bei Chrysler am Band, seit einem Jahr klebt sie Uhrenarmbänder bei Shinola zusammen.
"Das ist mein Job acht Stunden am Tag, es ist ein schöner Job, die Zeit vergeht so", sagt sie und schnippt mit den Fingern. "Dieser Job ist viel besser, meine Füße und meine Beine tun nicht mehr so weh. Ich liebe es hier."
Man kann gut verstehen, dass sie die laute Autohalle gerne mit der coolen Shinola-Fabrik getauscht hat. Bridget Russo ist Marketingmanagerin bei Shinola. Sie tauschte New York mit der Pleitestadt. Jeden Tag kann sie die Fortschritte sehen, erzählt sie.
"Ich denke, es gibt hier mehr bezahlbare Mieten und mehr Platz als in New York oder Los Angeles. Das zieht Fotografen, Designer und Filmemacher an. Oder wenn Du ein Schuhgeschäft oder ein Restaurant eröffnen willst, es gibt noch nicht hunderte an jeder Straßenecke. Alle diese Geschäfte sind höchst Willkommen und es ist günstiger alles umzusetzen und Du hast eine höhere Wahrscheinlichkeit, erfolgreich zu sein."
Auch für eine Designmarke Made in Detroit, sei jetzt der richtige Zeitpunkt, meint Russo. Die Menschen würden wieder mehr Wert auf Qualität legen und seien bereit, für "Made in USA" mehr zu bezahlen. Ex-Präsident Bill Clinton hat 15 Uhren aus Detroit gekauft. Jede kostet mehrere hundert Dollar.
Knapp 500 neue Jobs hat der Uhrenhersteller in Detroit geschaffen. Die Mitarbeiter haben früher Pizzas ausgefahren, Gebäude bewacht oder Nägel gefeilt. Mitarbeiterinnen aus Nagelstudios sind besonders für die feine Uhrenarbeit geeignet.
"Für uns ist es aus zwei Gründen bedeutend in Detroit zu sein. Detroit hat eine große Geschichte im Handwerk für Autos aber noch nicht für Uhren. Detroit hatte früher zwei Millionen Einwohner. Heute sind es noch 700.000. Die Stadt hat ein Jobproblem und wir können etwas ändern. Für Menschen, die Sachen herstellen können, scheint das der richtige Ort zu sein."
2013 verkauft Shinola seine erste Uhr und im selben Jahr meldete Detroit Insolvenz an. Was lief schief in der ehemals viertgrößten Stadt der USA, dem Motor der Autoindustrie, der Heimat der Plattenfirma Motown, deren Name sich aus den Worten Motor und Town zusammensetzt?
Der Niedergang der Stadt begann in den 50er-Jahren. Die wohlhabenden Autoarbeiter zogen in die Vororte. Die Autostadt verpasste es, öffentliche Verkehrsmittel wie eine U-Bahn zu entwickeln. Die Einwohner von Detroit sollten Auto fahren. Die Innenstadt verödete. In den 60er-Jahren gab es schwere Zusammenstöße zwischen der Polizei und schwarzen Jugendlichen, Geschäfte gaben auf, die Menschen entfernten sich immer weiter von ihrer Stadt.
55 Einwohner auf einen Verwaltungsmitarbeiter
Die Stadt schrumpfte – aber die Verwaltung blieb. Auf einen Mitarbeiter kamen 55 Einwohner. In anderen Städten betreut er dreimal so viele Bürger. Die Stadt ächzte unter Renten und Löhnen und die Steuereinnahmen schrumpften immer weiter. Kein Bürgermeister traute sich, unpopuläre Sparmaßnahmen durchzusetzen. Stattdessen wurden immer weiter Schulden gemacht und teure Bauprojekte durchgesetzt.
Detroit verteidigt seit Jahren den Titel "Gefährlichste Stadt der USA". Das Verbrechen wucherte bis unter die Rathausspitze. Nur die Hälfte der Straßenbeleuchtung brannte. Wer sterben wollte, sollte in Detroit einen Herzinfarkt bekommen. Es dauerte 51 Minuten, bis ein Krankenwagen kam – fünfmal solange, wie in anderen Städten. Die Finanzkrise, die Pleite von General Motors und Chrysler gaben der Stadt den Rest.
Wolfgang Bernhard war Chef von Chrysler, als der amerikanische Autokonzern noch zum deutschen Daimlerkonzern gehörte. Bernhard lebte Anfang der Jahrtausendwende in der Stadt, über die heutige Entwicklung sagt er:
"Jetzt bin ich mal hier in Downtown. Gestern Abend war ich in einer Hockeybar, das wäre früher nicht möglich gewesen, dass man nachts in eine Bar geht, das wäre unmöglich gewesen. Ich stelle auch fest, dass die Geschäfte wieder aufmachen, dass junge Leute sich in der Innenstadt einmieten und wieder dort zu leben beginnen. All das sind hoffungsvolle Anzeichen und man kann nur hoffen, dass sie nicht wieder in die alten Gewohnheiten zurückfallen, sondern neue Wege in eine gute Zukunft finden."
Vom Autositz hat Bernhard ins Brummi-Cockpit gewechselt. Heute ist er Chef der LKW-Sparte. Ein Teil der Lastwagen für den amerikanischen Markt werden in Detroit gebaut. Daimler investierte in diese Motorenfabrik im vergangenen Jahr mehrere hundert Millionen Dollar. 400 zusätzliche Arbeitsplätze sollen entstehen.
Als die neue Investition verkündet wurde, steht wieder die Stadt im Mittelpunkt. Made in Detroit ist heute kein Schimpfwort mehr, sondern ein Markenzeichen. Der Gouverneur des zuständigen Bundesstaates Michigan, Rick Snyder, ist zum Ausbau in die Daimler-Fabrik gekommen und er sagt:
"Der Grund, warum ich heute hierher gekommen bin: Ich bin stolz auf all das, was ihr hier geleistet habt. Es ist etwas Besonderes für ganz Michigan. Wir haben in den letzten Jahren ein großes Comeback erlebt. Aber es gibt noch eine ganze Menge zu tun."
Als Detroit Insolvenz anmelden musste, sagte Gouverneur Snyder: "60 Jahre haben wir zugeschaut, wie es mit der Stadt bergab ging." Und man möchte ihn fragen: Warum habt ihr solange weggeschaut und nicht geholfen.
Der Mann, der die Stadt vor dem Untergang bewahrte, heißt Kevin Orr. Er war der Insolvenzverwalter, der es geschafft hat, dass das Insolvenzverfahren in einer Rekordzeit von anderthalb Jahren abgewickelt wurde. Vor gut einem Jahr hat der Richter den gewaltigen Sparplan genehmigt, der jedem in der Stadt einen Beitrag abverlangte. Bis auf die Anwälte und Berater, sie bekamen 150 Millionen Dollar Honorar, was einige Bürger deutlich zu viel fanden.
Insgesamt wurde der Stadt eine Schuldenlast von sieben Milliarden Dollar von den Schultern genommen. Rentner verzichten auf einen Teil ihrer Altersversorgung, Geldgeber bekamen von jedem Dollar, den sie der Stadt geliehen hatten, teilweise nur noch 14 Cent zurück. Gleichzeitig bekam die Stadt aber auch finanzielle Mittel, um ihre Infrastruktur zu reparieren. So wurden tausende neuer Glühbirnen für die Straßenbeleuchtung angeschafft, was die Stadt schon ein bisschen sicherer machte. Kurz und mittelfristig, für die nächsten zehn Jahre seien die Aussichten für die Stadt gut, sagt Insolvenzverwalter Orr. Langfristig warnt er, wieder die alten Fehler zum machen: Geld auszugeben, das man nicht hat.
"Es gibt immer ein Risiko. Wenn die Stadt wächst und wieder Steuereinnahmen hat, werden die Menschen die Lektion vergessen, die sie gelernt haben", sagte er im amerikanischen Fernsehen.
Detroit schrumpft sich gesund
Das einzige Tabu war die Kunstausstellung. Sie hätte viel Geld gebracht, wurde nach heftigem Streit dann doch verschont. Denn das macht Detroit für Zugereiste attraktiv. Es ist eben nicht nur eine Industriestadt. Sie hat ein großes Museum, eine Oper und seit neustem ein Blumenhaus. Floristen aus dem ganzen Land haben ein verlassenes Haus einfach bepflanzt. Aus Ritzen und Fernstern sprießen Blumen. Blätter ranken sich entlang der Wände. Der alte Holzboden verwandelte sich in ein Blumenbeet. Es ist eines von vielen Kunstprojekten, für die Detroit inzwischen berühmt geworden ist.
Detroit schrumpft sich gesund und Monica Ponce de Leon möchte dabei helfen. Sie ist Architekturprofessorin an der Universität von Michigan und kommt ursprünglich aus Venezuela. Ihre Teams arbeiten an zwölf Vorschlägen, was man aus der Stadt machen kann. Diese werden dann in Venedig ausgestellt. De Leon findet Detroit deshalb so beispielhaft, weil es Probleme hat, die Städte auf der ganzen Welt treffen. Auch sie müssen sich gesund schrumpfen.
"Städte wurden immer so geplant, dass sie wachsen. Aber viele Orte auf der ganzen Welt schrumpfen, weil sich zum Beispiel Industrien ändern. Aber dafür haben wir keine guten Modelle: Wie können Städte kleiner werden und trotzdem lebendig bleiben? Detroit hat darin eine Menge Erfahrung."
Die Plätze, die sich die Architekten vorgenommen haben, sind die verfallenen Häuser am Eastern Market, das alte Postgebäude am Detroit River und die alte Packard- Fabrik. In der riesigen Autofabrik wurden bis Ende der 50er-Jahre die luxuriösen Packard Wagen hergestellt. Vor fünf Jahren zogen die letzten Mieter aus. Jetzt ist es eine gigantische Bruchbude. Die Kabel hängen von der Decke. Schutt liegt auf dem Boden. Die Wände sind mit Graffiti bemalt. Obdachlose fanden hier ab und zu ein Dach über dem Kopf.
Man darf sehr gespannt sein, was sich die Architekten dafür einfallen lassen. Verraten werden soll noch nichts. Aber die Frage ist: Wird der alte Geist der Autostadt auch durch die Zukunft wehen?
"Jeder Architekt muss das entscheiden. Aber ich denke, die Beziehung zur Industrie, etwas herzustellen und zu designen, ist sehr, sehr wichtig."
Alle müssen in der Stadt abspecken, selbst die Polizisten. Sie haben vor Weihnachten einen Wettbewerb gestartet: Wer nimmt in drei Monaten am meisten ab und wird fitter. Denn bis jetzt gab es für die Polizei keine Fitnessvorschriften und viele sind zu dick. Aber Verbrecher jagen müssen sie immer noch. Detroit ist zwar sicherer geworden. Aber auch im vergangenen Jahr hat die Stadt den Titel "Gefährlichste Stadt in den USA" verteidigt.
Der Aufschwung hat für die Ärmsten der Stadt auch Nachteile. Die Mieten steigen. Tausenden von Familien wurde das Wasser abgestellt, weil sie ihre Rechnung nicht bezahlen konnten. Vor der Pleite hat die Verwaltung die Schulden einfach weiter laufen lassen.
Der Kampf ums Wasser wurde zum "Water-War". Die Vereinten Nationen wurden eingeschaltet, Wasser sei schließlich ein humanitäres Grundrecht, das könne man nicht einfach abstellen, wie Luft. Freiwillige lieferten tausende Flaschen Trinkwasser, damit Familien kochen und waschen konnten.
"Ich denke eines der empörendsten Dinge, die sich dieses Land erlaubt, ist, den Menschen einfach das Wasser abzustellen", sagte eine freiwillige Helferin.
Wasserrechnungen haben sich verdreifacht
In vielen Haushalten haben sich die Wasserrechnungen plötzlich verdreifacht. Warum? Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Eine: In vielen Häusern brechen die Leitungen und das Wasser läuft einfach in den Boden – Geld, das versickert. Inzwischen werden Ratenzahlungen vereinbart. Spender haben Familien die Wasserrechnung bezahlt.
Doch trotz aller Schwierigkeiten, die die Einwohner von Detroit zu meistern haben - wenn sich die Stadt in den nächsten Jahren weiter so gut entwickelt, könnte sie zum Vorbild werden, wie man seine Schulden reduziert und trotzdem wächst.
Es ist eine Mischung aus Verzicht von Geldgebern; von Steuern und Gebühren eintreiben, sparen bei Löhnen und Gehältern und gleichzeitig Investoren anlocken. Es scheint, als könne sich die Stadt vor Geldgeber kaum retten. Die Bank J.P. Morgen will in den nächsten Jahren Millionen investieren, Google nannte sie das Drehkreuz für Technologie. Noch lebt die Stadt von ihren günstigen Preisen - aber wer auf ein echtes Schnäppchen hofft, ist vielleicht schon zu spät.
"Detroit gegen alle", heißt heute das trotzige Motto. Es scheint, als ob die Stadt aus diesem Kampf angeschlagen, mit blauem Auge, gebrochener Nase und geschwollener Lippe wieder aufgestanden ist. Zur Pleite einer der größten Städte der USA haben viel Faktoren beigetragen, doch es passt zu Amerika, dass die Menschen nicht aufgeben und sich selbst helfen, so gut sie es können.
Detroit hat noch einen weiten Weg vor sich, einen Teil davon wird es mit dem Auto zurück legen, aber die Stadt ist nicht mehr alleine von dieser Industrie abhängig und wer Abends in der Zigarrenbar ein Glas trinkt, hört die Menschen anstoßen: "Auf Detroit."