Eine Steinwüste mit bunten Oasen
Im vergangenen Sommer meldete die amerikanische Autostadt Detroit Insolvenz an. Über 18 Milliarden Dollar Schulden hatte die Stadt angehäuft. Daneben gab es Korruption im Rathaus, Armut, Drogen und Gewalt. Aber jetzt leuchten zumindest ein paar Ecken der Stadt wieder.
Als ich in der Stadt ankomme, treffe ich in Downtown an der Woodward Avenue, der alten Hauptstraße, entlang der wieder ein wenig Leben in die Stadt zurückgekehrt ist, wo in einigen der Hochhäuser wieder Bürolichter brennen, wo es ein paar Restaurants, Kneipen, Banken, ein Stadion und ein Spielkasino gibt, George Hanson. Wie 80 Prozent der Menschen in der Stadt ist er Afroamerikaner, hat in der Autoindustrie gearbeitet, wurde entlassen. Er war ein paar Mal verheiratet, landete auf der Straße. Tiefe Furchen hat dieses Leben in seinem Gesicht hinterlassen:
"Das ist ein Leben. Das Leben eines Penners. Aber ich bin kein Penner, auch wenn die Leute das glauben. Ich habe in meiner Vergangenheit ein paar Probleme gehabt, ich habe heute Probleme. Das ist allein meine Angelegenheit. Ich muss das überwinden. Aber ich bin….ein Mann, wie jeder andere auch."
Brightmoor ist ein gefährlicher Stadtteil. 411 Menschen wurden im vergangenen Jahr in Detroit ermordet, viele hier, wo Drogengangs und Hausbesetzer wie Hanson Quartier bezogen haben. George hat sich in einer Ruine eingerichtet. Den Strom zapft er vom nächstgelegenen Masten, Brennholz holt er sich in den Nachbarruinen.
Ob er stolz darauf ist, ein Detroiter zu sein, will ich wissen, trotz allem Fernweh, trotz der Vorstellung einer Flucht aus diesem Leben. Klar, sagt er. Weil es sein zu Hause ist? Ja, das ist meine Heimat. Ist er stolz. Ja! Warum? Weil es die Motor City ist, die "Motor City". Das bietet nur Detroit.
Der beste Kaffee in den USA
In Brightmoor fällt ein Mietwagen jüngeren Baujahres sofort auf. Eine Traube junger Leute, die in einer Crackbude schräg gegenüber hausen, lungert in Kapuzenjacken und verdreckten, weiten Jeans auf der Straßenmitte herum. Ihre Attacke gegen den weißen Besucher bleibt verbal. Ein Schimpfwort-Schwall, wie ich ihn noch nie gehört habe in einer Gegend, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ich verabschiede mich so höflich wie möglich und verschwinde so unauffällig wie möglich.
Redford ist gleich nebenan. Kein Stadtteil, nur zwei Straßenblocks, aber eine andere Welt. Das Motor City Java House ist die zentrale Anlaufstation der "Motor City Blight Busters", die seit fast 3 Jahrzehnten der Verschandelung in ihrem Viertel auf den Pelz rücken. Janet hinterm Tresen bietet mir den Kaffee des Monats mit Mandelaroma an, ich entscheide mich für Kaffee pur aus fairen Bohnen. Es ist der beste, den ich bisher in den USA getrunken habe.
Ich komme mit Ian P. Smith ins Gespräch, dem weißen Künstler mit dünnem Bart und Pferdeschwanz, der in Deutschland wegen seiner Erscheinung vielleicht in die Schublade Alt-68er gesteckt würde. Ian ist aus der Vorstadt in die Stadt gezogen, zum Malen, um Häuser hier in der Gegend mit seinen grellbunten gegenständlichen Detroit-Szenen gegen das ewige Ruinengrau abzusetzen. Draußen auf der Straße presst ein Polizist einen Dealer gegen seinen Dienstwagen und durchsucht ihn.
Als ich das sehe und mich an die Crackheads nebenan in Brightmoor erinnere, möchte ich wissen, wie sich der Künstler in der Stadt der Gewalt behauptet. Smith hat ein verblüffendes Konzept:
"Halt den Kopf hoch, sieh nicht aus wie ein Opfer. Ich habe 48 Jahre lang mit der Stadt zu tun. Ich wurde nur ein einziges Mal von Skinheads bedroht, das war in den 80er-Jahren, die dachten wegen meiner langen Haare, ich wäre ein Hippie."
"Entweder Wegziehen oder zum Baumarkt fahren"
John George betritt das Java House. Er ist DER "Blight Buster", einer, der den Dreck beseitigt, ein in der ganzen Stadt bekannter Mann, ein Macher und Organisator, klein, kräftig, mit immer mehr als einer Idee im Kopf. Und er hat es eilig. Immer.
Ich steige in seinen Pickup Truck, beladen mit Holzpaneelen und Zementsäcken, als gleich danach eine Oberleitung auf das Auto kracht.
Als wir uns wieder beruhigt haben, zeigt er mir renovierte Häuser, ein Ladengeschäft, ein Nachbarschaftszentrum, das gerade entsteht. Sein Motiv war gar nicht so uneigennützig, grinst George durch unter der Baseballmütze.
"Du möchtest natürlich nicht, dass deine Kinder im Dreck aufwachsen, unter Crackdealern und Prostituierten. Also konnte ich entweder Wegziehen oder zum Baumarkt fahren, Holz, Nägel und Farbe kaufen und das Haus renovieren. Genau das habe ich gemacht. Ich bin an einem Samstagmorgen dort hingegangen und habe angefangen, dieses verlassene Haus wieder herzurichten. Ich hatte so in etwa vier Stunden gearbeitet, als dieses Auto ankommt und zwei Nachbarn aussteigen. Und sie fragen: Was machst Du da? Und ich: Ich will nicht neben so etwas wohnen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, ihr könnt jetzt entweder mitmachen oder verschwinden. Und sie: Nein, nein, wir wollen helfen. Und ich: Super, auf geht’s."
Heute helfen bei den Blight Busters 1500 Menschen mit. George ist so eine Art Nachbarschaftsmanager, der keinen 8-Stunden-Tag kennt. Sie reißen Häuser ab. Immer, wenn Detroit eine von 80.000 Ruinen verliert, ist das in Rockford eine Party wert.
Wenn die Menschen die Grundstücke von Schutt und Müll befreit haben, kommt Whole Wards. Der spindeldürre Ex-Grundschullehrer ist Urban-Farmer, ein Kleinbauer mitten in der Stadt. Tomaten, Kartoffeln und da hinten Knoblauch, den sie hier nicht sehen können. "Die Stadt ändert ihr Gesicht", sagt er. "Die Bürger sorgen dafür."
Im Kleinen funktioniert, was Stadtplaner in großem Stil mit Detroit vorhaben. Der Stadtraum umfunktionieren, aus Ruinen und Brache Ackerflächen machen.
"Wir werden das alles renovieren"
Eine verlassene alte Kirche mit Gemeindezentrum:
"Das hier wird die Lobby, das der Kochbereich und das wird ein Nachbarschaftstheater mit 350 Plätzen. Wir werden das alles renovieren. Da kommen wieder die Parkettböden hinein. Das wird alles mit Flachbildschirmen aufgemotzt, mit Laserlicht und Nebelkanonen. Das wird total verrückt."
John George ist ein verrückter, ein Workaholic, der auf sich aufmerksam gemacht hat, der Spenden erhält, der Sponsoren hat. Er liebt, was er tut, oft ohne Bezahlung. Die Arbeit, die Anstrengung gehen halt weiter: "Ich denke: anders kann man eine solche Aufgabe in einer solchen Stadt nicht erledigen."
Zukunft. Für die meisten hier heißt das morgen, nächste Woche, nur selten nächstes Jahr.
Unten am Detroit River, im Schatten des prächtigen GM- Hochhauses, dem einzigen Ort in den USA, an dem man nach Süden Richtung Kanada, nach Windsor schauen kann, treffe ich die Sozialarbeiterin Hanna Polincki mit, die mit ihrem Hund geblieben ist. Das blond gefärbte Haar ist vom Wind zerzaust. Da drüben in Windsor, Kanada, deutet sie mit den lila lackierten Fingernägeln, das ist die erste Welt, hier die Dritte.
"1970 habe ich gedacht, dass es in zehn Jahren viel besser sein wird. Dann habe ich immer noch einmal zehn Jahre aufgeschlagen, noch einmal zehn Jahre. Jetzt habe ich meine Zweifel, ob es die Stadt noch einmal schaffen wird. Das ist mir aber auch egal, denn ich weiß: Ich werde es schaffen."
Die Haltung in Detroit ist individualistisch, amerikanisch. Der private Raum überlebt, der öffentliche siecht seit Jahrzehnten dahin. Downtown Detroit wird schon für sich selbst sorgen, glauben heute viele Einwohner. Das liegt unter anderem am Engagement von Dan Gilbert, einem Detroiter Milliardär, unter anderem Besitzer des Immobilienfinanzierers Quicken Loans, der viel Geld in die Innenstadt gesteckt hat.
"Für manche dieser Gebäude haben wir weniger bezahlt, als die Miete für einen Quadratmeter pro Jahr in New York kostet. Mir ist schon klar, dass Hollywood-Filme einen auf Profit ausgerichteten Investor gern als gierig darstellen, aber in unserem Fall ist es einfach so, dass wir das machen, was wir gut können und das passt gut zusammen."
Weniger Menschen produzieren mehr Fahrzeuge
Gilbert hat einige Dienstleistungsunternehmen in die Stadt locken können. Im Schaufenster leuchtet ein Schild "Nothing stops Detroit".
Ein Ersatz für die Autoindustrie ist all das nicht, findet Kenny James, der sein Leben lang bei Ford gearbeitet hat und über die leeren Mitarbeiterparkplätze der Autofirmen erschüttert ist. Aber heute produzieren weniger Menschen mehr Fahrzeuge.
"Wenn sie zehn Leute nebeneinanderstellen und sie fragen, wo sie gearbeitet haben, garantiere ich, dass sie sagen werden: Ford, Chrysler, GM. Und deshalb nennen sie uns ja die Motor City, weil wir nichts anderes als die Autoindustrie kennen."
Amerikanische Autos verkaufen sich wieder etwas besser als vor der Finanzkrise, auch einige tausend neue Mitarbeiter sind nach dem großen Abbau eingestellt worden. Detroit hat das nicht aus der Pleite geholfen. Wo kein Steueraufkommen, da keine öffentliche Infrastruktur.
An der Henry Ford High School, einem ungepflegten, braunen Plattenbau, erzählt die ehemalige Schulamtsdirektorin Dr. Connie Galloway von der Schulkarriere eines Jahrgangs, der mit etwa 900 Schülern beginnt.
"Wenn sie in die 10. Klasse kommen, sind noch 545 Schüler übrig, in der 11. Klasse sind es 345, wenn diese Gruppe in die 12. Klasse kommt, sind noch 245 Schüler übrig. Den Abschlusstest bestehen 11 Schüler, 11!"
Die Schüler werden gewalttätig, nehmen Drogen, statt zur Schule zu gehen. Keiner kontrolliert das. Im Schulbezirk machte sich Galloway mit ihrer Kritik unbeliebt und wurde entlassen.
Wie mit den Schulen und der Feuerwehr geht es auch mit der Polizei, der Straßenbeleuchtung, der Müllabfuhr. Wer sich nicht selbst hilft, dem hilft niemand.
"In den letzten 60 Jahren San Francisco abgerissen"
"Es waren einmal zwei Millionen Menschen in der Stadt, nach dem letzten Zensus sind es noch 714.000. Manhattan, Boston und San Francisco würden in die Stadtgrenzen passen. Wenn man bei diesem Bild bleibt, haben wir in den letzten 60 Jahren San Francisco abgerissen. Nicht an einem Ort, sondern verteilt über die ganze Stadt. Es gibt sehr wenige Gegenden, die komplett abgerissen wurden, und das ist das moderne Problem: Wie unterhalten wir eine Stadt mit geringer Bevölkerungsdichte, wie erhalten wir die Straßen, die Kanalisierung, Polizei, Feuerwehr, Straßenbeleuchtung, Müllabfuhr. Und das für eine Gegend mit sehr geringem Steueraufkommen, in der einmal zwei Millionen Menschen zu Hause waren. "
Die Autobarone haben sich Paläste errichtet, die längst verfallen sind. Die Detroiter werden beharrlich dort bleiben, wo sie sind und versuchen, zu überleben.
Vielleicht gibt die Kultur eine Antwort. Hiphop-Star Eminem sagt einfach: Detroit ist meine Heimat. Eine raue, brutale, verfallene Heimat. Auch das Haus, in dem Eminem aufwuchs und seine Inspiration fand, ist unter die Räder gekommen, genauso wie der Häuserblock, in dem Motown-Sängerin Diana Ross einmal wohnte.
Mitten im East End, in einem besonders unsicheren Quartier, hat Tyree Guyton for 27 Jahren das Heidelberg Project gegründet. Eine Kunststraße, in der alles grellbunt ist, die Häuser, der Bürgersteig, ausgemusterte Autoreifen.
Leman Gibson, der sich Link nennt, ist der Mann für alles. Er steht vor einem Aschehaufen, der einmal ein Haus war und schon wieder bunt dekoriert ist. Brandstiftung, zuckt er mit den Schultern. Ist die Heidelberg Street eine Oase?
"1000 Prozent. Unbedingt, besonders für die Kinder, ich liebe es, die Gesichter der Kinder zu sehen. Die sind so glücklich. Sie sagen mir. Das fühlt sich wie Disneyland an. Und das Haus hier. Da fangen wir jetzt mit der Arbeit an. Das wird die Zukunft sein. Wir machen einfach immer weiter, wir bauen immer weiter."
Ein paar Blocks entfernt ist der Eastern Market. Ein Gebäudequadrat mit Metzgereien, Obstläden, Restaurants, umgeben von Abrissbaggern und grauem Stein. Bei Rockys Historic Supermarket gibt es Nüsse, Mandeln, Gewürze. Josh Rebenhan steht hinter dem Tresen. Weiße Schürze, weiße Mütze, ein paar rote Haarsträhnen. Detroit ist nicht nur eine Stadt mit leerstehenden Häusern, sondern auch ein "Food Desert", eine Nahrungswüste. Frische Nahrungsmittel gibt es nur hier.
"Amerika ist einfach ein großartiges Land"
"Der Eastern Market ist der zentrale Platz für Lebensmittel. Es gibt keine Supermärkte in Detroit. Wer etwas zu essen kaufen will, muss zum Markt kommen. Das liegt daran, dass der Markt wirklich das Kernstück ist, wo es Gewürze oder Fleisch und so weiter gibt."
Wer also zum Beispiel draußen in Redford lebt, muss eine gute Stunde reisen, um einen Blumenkohl kaufen zu können, der vielleicht von einem der neuen Stadtfarmer angebaut worden ist.
Die afroamerikanische Stadtverordnete Renee Little, die für den Weißen Bürgermeister Mike Duggan Wahlkampf gemacht hat, sagt mit ihrer kratzigen Stimme, nein, sie ist nicht erkältet. Als ich ihr gute Besserung wünsche, das ist ihre natürliche Stimme. Renee Little hat einen persönlichen Grund für ihre trotzige Haltung. Ein Grund, den sie mit etlichen Detroitern teilt.
"Meine Großeltern haben das Haus gebaut, in dem ich heute wohne. Sie haben das Haus zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut und stammten von Sklaven ab. Meine Großmutter nannte mich Nee, weil ich Renee heiße. Meine Großmutter also sagte: Nee, du hast eine Menge mehr als ich in deinem Alter besaß. Das habe ich nicht verstanden, bis sie starb. Dann aber wurde mir klar, dass sie ohne Schuhe an den Füßen aufgewachsen war. Da wurde mir klar, wenn meine Vorfahren es von Baumwollpflückern im Süden so weit bringen konnten, das sie ein Haus bauen konnten: Amerika ist einfach ein großartiges Land."
Die Chancen, dass die Stadt wieder auf die Beine kommt, sind bescheiden. In 100 Jahren von 500.000 auf zwei Millionen und wieder zurück auf 700.000 Einwohner.
Und doch entsteht in kleinen Wasserstellen in einer Wüste vermoderter Steine und morschen Holzes etwas Neues, Wagemutiges, Besonderes.
"'Speramus meliora; resurget cineribus“' Wir hoffen darauf, dass sich bessere Dinge aus der Asche erheben werden. Das ist das Motto unserer Stadt und immer noch sehr aktuell."