Deutlicher Drall zum Okkulten
Der Erzähler und Theatermann Dževad Karahasan beschreibt in seiner Essay-Sammlung die düstere Reise durch ein Bosnien, das für ihn "sichtbares Abbild des unsichtbaren Herzens der Welt" ist. Er ist in einer dunklen Welt unterwegs. Manchmal scheint es, er habe sich verirrt.
Er hat sein Lebensthema gefunden, seit dem ersten Buch, einem Werk mit dem sprechenden Titel "Tagebuch der Aussiedlung" (deutsch 1993); das Thema wurde zur Obsession. Der Erzähler und Theatermann Dževad Karahasan, Jahrgang 1953, schreibt über Bosnien – ein lautes, balkanisch-buntes Bosnien, das seit dem Bruderkrieg der frühen Neunziger nicht mehr existiert.
Karahasan kam in einem geschichtsvergessenen Nest im Südwesten Bosniens zur Welt, nahe dem kroatischen Landstreifen an der Adria. Der Vater war Kommunist, ein leidenschaftlicher Tito-Anhänger, die Mutter gläubige Muslimin; zum Freundeskreis der Eltern gehörte ein Franziskaner.
Wohl wegen dieser Prägung versteht sich der Autor heute als Mittler zwischen den Kulturen. Und wegen jener prototypisch jugoslawischen Stadt, in der er zum Mann reifte – Sarajevo. Aus Sarajevo, seinem Garten Eden, fühlte er sich vertrieben, als die Stadt ab 1992 belagert wurde. Gestrandet ist er in Graz.
Karahasans jüngster Prosaband vereint fünf Texte, vier Erzählungen angeblich und ein Nachwort, in Wirklichkeit eine Handvoll Essays. Von einsamen Menschen berichtet der Verfasser, Menschen, die reisen, ohne je anzukommen, ganz wie er selbst.
Bedrückende Gegenden passiert unser fahrender Autor (und mit ihm der Leser) – das Osmanische Reich (hier: ein Reich der Willkür und Gewalt), Jugoslawien in seiner Vielfalt, natürlich Sarajevo und dann plötzlich Theresienstadt. In Italien begegnet der Erzähler einem durch den Zerfall Süd-Slawiens entwurzelten Landsmann (Sohn einer Kommunistin und eines Partisanen), er sieht sich selbst in Graz vor einem Bündel verstörender Briefe aus dem umkämpften Sarajevo und stößt in Tschechien auf die Spuren des Sarajevo-Attentäters Gavrilo Princip, dessen Bluttat 1914 den Ersten Weltkrieg auslöste. In einer vierten Geschichte erfahren wir vom Schicksal eines Elefanten, den Harun al-Raschid an Karl den Großen gesandt haben soll. Vier historisch-literarische Fragmente sind dies, ohne fassbare Fabel, ohne benennbare Aussage, Texte mit ineinander verknäulten Erzählsträngen und verschachtelten Ebenen.
Im Epilog sucht Dževad Karahasan die Bruchstücke seiner Kosmologie aneinander zu kitten, mit einem Exkurs über ein mythisches Zwischenreich, angeblich das unerwartete Ziel von rastlos Suchenden aller Zeiten und Kulturen. "Lange, sehr lange gingen die Reisenden [...], bis sie an einen dunklen Ort kamen, [...] in dem es nichts Diesseitiges zu geben scheint." Karahasan, der Dichter, ist auch ein Philosoph mit Jugo-Nostalgie und deutlichem Drall zum Mystisch-Okkulten. Seine "dunkle Welt" skizziert er als Ort, "an dem alle Möglichkeiten [...] gleichzeitig anwesend sind, selbst wenn sie sich gegenseitig ausschließen".
Diese "dunkle Welt" sei das heimliche Zentrum unseres Universums und – noch eine Behauptung – zugleich die am häufigsten gebrauchte Metapher für Bosnien. Wundersamer Zufall. Ist das geschundene Heimatland demnach jener "Nicht-Ort"? (...eine Landschaft im Dämmerlicht, "die zwischen Gegensätzlichem ein Gleichgewicht herstellen kann"...) Ist Bosnien Erdenmittelpunkt?
Tatsächlich, im "Nachwort"-Essay präsentiert sich der Kosmopolit als trauernder Patriot: "Wo zeigt und entwickelt sich die Geschichte schon so stürmisch, verdichtet und grausam wie in Bosnien?" Das 20. Jahrhundert, orakelt Karahasan, habe nicht mit dem "so genannten Zusammenbruch des Kommunismus" geendet, nein, es endete just mit dem bosnischen Krieg. "Ist Bosnien diesem ganzen Leid ausgesetzt, weil es sichtbares Abbild des unsichtbaren Herzens der Welt ist?"
Dževad Karahasan reißt den Schorf von einer europäischen Wunde, immer wieder; er mag nicht zulassen, dass die Wunde vernarbt, dass wir vergessen, und das ist gut und wichtig in einer vergesslichen Zeit. Aber, um über Literatur zu reden: Dramaturgie, Stil und esoterisches Blendwerk im neuen Buch erschweren den Zugang zur Gedankenwelt des Bosniers. Ein anderer hat die balkanischen Zustände mit gültiger Klarheit beschrieben, vor Jahrzehnten schon – Nobelpreisträger Ivo Andrić (1892-1975).
Der Jüngere, das ist bekannt, bewundert den Älteren; für seine "Berichte" bediente sich Karahasan nun im Archiv des Kollegen. Absatzweise referiert er einen berühmten Andrić-Text über Vielfalt und Hass ("Brief aus dem Jahre 1920"), sätzelang zitiert er wörtlich, er benutzt die Hauptfigur jenes "Briefes", und das alles ohne Verweis auf die Herkunft, auf Quelle und Verfasser.
Seit langem ist Dževad Karahasan in der dunklen Welt unterwegs; manchmal scheint es, er habe sich verirrt.
Rezensensiert von Uwe Stolzmann
Dževad Karahasan: Berichte aus der dunklen Welt
Aus dem Bosnischen von Brigitte Döbert
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007
216 Seiten, 19,80 Euro
Karahasan kam in einem geschichtsvergessenen Nest im Südwesten Bosniens zur Welt, nahe dem kroatischen Landstreifen an der Adria. Der Vater war Kommunist, ein leidenschaftlicher Tito-Anhänger, die Mutter gläubige Muslimin; zum Freundeskreis der Eltern gehörte ein Franziskaner.
Wohl wegen dieser Prägung versteht sich der Autor heute als Mittler zwischen den Kulturen. Und wegen jener prototypisch jugoslawischen Stadt, in der er zum Mann reifte – Sarajevo. Aus Sarajevo, seinem Garten Eden, fühlte er sich vertrieben, als die Stadt ab 1992 belagert wurde. Gestrandet ist er in Graz.
Karahasans jüngster Prosaband vereint fünf Texte, vier Erzählungen angeblich und ein Nachwort, in Wirklichkeit eine Handvoll Essays. Von einsamen Menschen berichtet der Verfasser, Menschen, die reisen, ohne je anzukommen, ganz wie er selbst.
Bedrückende Gegenden passiert unser fahrender Autor (und mit ihm der Leser) – das Osmanische Reich (hier: ein Reich der Willkür und Gewalt), Jugoslawien in seiner Vielfalt, natürlich Sarajevo und dann plötzlich Theresienstadt. In Italien begegnet der Erzähler einem durch den Zerfall Süd-Slawiens entwurzelten Landsmann (Sohn einer Kommunistin und eines Partisanen), er sieht sich selbst in Graz vor einem Bündel verstörender Briefe aus dem umkämpften Sarajevo und stößt in Tschechien auf die Spuren des Sarajevo-Attentäters Gavrilo Princip, dessen Bluttat 1914 den Ersten Weltkrieg auslöste. In einer vierten Geschichte erfahren wir vom Schicksal eines Elefanten, den Harun al-Raschid an Karl den Großen gesandt haben soll. Vier historisch-literarische Fragmente sind dies, ohne fassbare Fabel, ohne benennbare Aussage, Texte mit ineinander verknäulten Erzählsträngen und verschachtelten Ebenen.
Im Epilog sucht Dževad Karahasan die Bruchstücke seiner Kosmologie aneinander zu kitten, mit einem Exkurs über ein mythisches Zwischenreich, angeblich das unerwartete Ziel von rastlos Suchenden aller Zeiten und Kulturen. "Lange, sehr lange gingen die Reisenden [...], bis sie an einen dunklen Ort kamen, [...] in dem es nichts Diesseitiges zu geben scheint." Karahasan, der Dichter, ist auch ein Philosoph mit Jugo-Nostalgie und deutlichem Drall zum Mystisch-Okkulten. Seine "dunkle Welt" skizziert er als Ort, "an dem alle Möglichkeiten [...] gleichzeitig anwesend sind, selbst wenn sie sich gegenseitig ausschließen".
Diese "dunkle Welt" sei das heimliche Zentrum unseres Universums und – noch eine Behauptung – zugleich die am häufigsten gebrauchte Metapher für Bosnien. Wundersamer Zufall. Ist das geschundene Heimatland demnach jener "Nicht-Ort"? (...eine Landschaft im Dämmerlicht, "die zwischen Gegensätzlichem ein Gleichgewicht herstellen kann"...) Ist Bosnien Erdenmittelpunkt?
Tatsächlich, im "Nachwort"-Essay präsentiert sich der Kosmopolit als trauernder Patriot: "Wo zeigt und entwickelt sich die Geschichte schon so stürmisch, verdichtet und grausam wie in Bosnien?" Das 20. Jahrhundert, orakelt Karahasan, habe nicht mit dem "so genannten Zusammenbruch des Kommunismus" geendet, nein, es endete just mit dem bosnischen Krieg. "Ist Bosnien diesem ganzen Leid ausgesetzt, weil es sichtbares Abbild des unsichtbaren Herzens der Welt ist?"
Dževad Karahasan reißt den Schorf von einer europäischen Wunde, immer wieder; er mag nicht zulassen, dass die Wunde vernarbt, dass wir vergessen, und das ist gut und wichtig in einer vergesslichen Zeit. Aber, um über Literatur zu reden: Dramaturgie, Stil und esoterisches Blendwerk im neuen Buch erschweren den Zugang zur Gedankenwelt des Bosniers. Ein anderer hat die balkanischen Zustände mit gültiger Klarheit beschrieben, vor Jahrzehnten schon – Nobelpreisträger Ivo Andrić (1892-1975).
Der Jüngere, das ist bekannt, bewundert den Älteren; für seine "Berichte" bediente sich Karahasan nun im Archiv des Kollegen. Absatzweise referiert er einen berühmten Andrić-Text über Vielfalt und Hass ("Brief aus dem Jahre 1920"), sätzelang zitiert er wörtlich, er benutzt die Hauptfigur jenes "Briefes", und das alles ohne Verweis auf die Herkunft, auf Quelle und Verfasser.
Seit langem ist Dževad Karahasan in der dunklen Welt unterwegs; manchmal scheint es, er habe sich verirrt.
Rezensensiert von Uwe Stolzmann
Dževad Karahasan: Berichte aus der dunklen Welt
Aus dem Bosnischen von Brigitte Döbert
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007
216 Seiten, 19,80 Euro