Deutsch als Pflicht
Die Regierung bearbeitet ihr Integrationsproblem – nicht nur innerhalb der deutschen Grenzen, auch schon im Ausland. Seit zwei Jahren müssen in Deutschland verheiratete Einwanderer vor der Einreise einfache Deutschkenntnisse nachweisen. Erst dann erhalten sie eine Aufenthaltsgenehmigung.
Besonders Nachzügler aus der Türkei sind von dem Gesetz betroffen – Migrantenverbände sprechen von Diskriminierung und einem Angriff auf die Familie. Viele zuwanderungswillige Türken selbst haben sich mit dem Gesetz arrangiert.
Im Goethe-Institut in Istanbul zum Beispiel haben in den vergangenen zwei Jahren rund 6.000 Türken an den Sprachprüfungen teilgenommen – 60 Prozent von ihnen erfolgreich.
Deutsch als Pflicht
Von Julia Hahn
"Start Deutsch 1. Übungssatz 02. Teil 1. Was ist richtig? Kreuzen Sie an: A, B oder C."
Istanbul. Im Sommer. Zehn junge Menschen sitzen in dem kleinen Seminarraum nahe der Haupteinkaufsstraße Istiklal Caddesi, alle mit einem Ziel: Den Deutsch-Test bestehen und dann raus aus der Türkei, ein neues Leben anfangen. Elf Wochen Sprach-Kurs haben sie hinter sich, bereiten sich nun auf die alles entscheidende Prüfung vor. Die meisten sind in Deutschland verheiratet. Zum Beispiel die Krankenhausangestellte Güldane Karasahan, 28. Sie will zu ihrem Mann nach Berlin.
Berlin ist ihr vertraut, sagt sie, weil sie ja aus Istanbul kommt und das Leben in beiden Städten sehr dynamisch ist. Und weil es viele Türken in Berlin gibt, sagt Güldane, fühlt sie sich dort nicht wie eine Fremde.
Ähnlich geht es Selen Sahin, 24 Jahre alt.
Nach dem Kurs kann er die Deutschen zumindest etwas verstehen und ihnen seine Probleme erklären, sagt er. Wenn er durch die Prüfung fällt, dann will Sahin sie wiederholen – so oft, bis er besteht.
Etwa 250 Euro kostet der Kurs. Das Geld kommt oft aus Deutschland. Eine andere mit Kopftuch und langem Jeansmantel, die nur Ebru genannt werden will, klappt ihr Lehrbuch zu, stützt den Kopf in die Handflächen.
Es ist hart, aber es ist notwendig, sagt sie und dass die Deutschen wollen, dass sie viel lernt, damit sie nicht abhängig ist von ihrem Ehemann, Freunden, der Familie. Für Ebru bedeuten die 90 Tage Sprachkurs Stress, weil irgendwie ja ihre ganze Zukunft davon abhängt, sagt sie.
Deutsch lernen – keine leichte Aufgabe. Viele von ihnen sind gerade mal drei Jahre zur Schule gegangen, beherrschen die eigene Muttersprache nicht richtig. Jetzt sollen sie Vokabeln lernen, die deutsche Grammatik verstehen.
Erika Broschek leitet die Kurse am Goethe Institut in Istanbul:
"Aber sie lernen ja eben viel mehr als nur die Sprache. Wir bereiten sie ja auch vor auf das fremde Land, in das sie gehen. Das sie also nicht mehr sagen: ’Ich gehe nach Deutschland, ich gehe zu meinem Mann’ – das war ja früher immer die Einstellung. Wir bemühen uns, aus einem Gesetz, das nicht populär ist, wenigstens noch das Beste rauszuholen, so dass was Sinnvolles am Ende rumkommt."
Was genau dabei rumkommt, zeigt sich erst in Deutschland. Dann, wenn Behördengänge und Arztbesuche anstehen, die nächsten Integrations- und Sprachkurse beginnen, Kinder in die Schule kommen.
Gespräch Frauen: "Also nicht diese Woche, aber nächste. Aber die Planung könnt ihr dann... ich glaube Sylvia ist im Urlaub und kommt dann..."
Von Istanbul nach Berlin-Kreuzberg. Einsatzbesprechung bei den Stadtteilmüttern – selbst Frauen mit Migrationshintergrund, die zugewanderten Familien bei Alltagsproblemen helfen. Songül Süsem-Kessel leitet das Projekt. Der Sprachkurs in der Türkei ändert nichts am Integrationswillen, sagt sie:
"Das ist ne Illusion, sich vorzustellen, wenn dieser Kurs absolviert ist, dass es dann hier im Land wunderbar weitergeht und dass sie definitiv zwei Jahre Kurse belegen, um dann die Sprache wunderbar zu beherrschen. Dieses Gesetz ändert an dieser persönlichen Einstellung nicht das, was man sich vielleicht erhofft oder erwünscht."
Süsem-Kessel hat eine Freundin mitgebracht, mit langen schwarzen Haaren, engen Jeans und Plateauschuhen. Hülya Süsem hat den Sprachtest in Izmir bestanden, ist vor etwa einem Jahr zu ihrem Mann nach Berlin gekommen. Sie besucht jetzt die nächsten Integrationskurse. Wichtige Fragen beantwortet sie trotzdem lieber auf Türkisch.
Natürlich war der Kurs eine gute Vorbereitung, sagt Hülya. Sie kam ja in eine neue Kultur, über die sie nichts wusste. Während der zwei Monate hat sie zumindest ein paar Dinge gelernt, hat es jetzt beim Integrationskurs in Deutschland einfacher als andere.
Frauen wie Hülya Süsem sind Vorzeige-Beispiele: emanzipiert, bildungsbewusst, dabei in Deutschland anzukommen. Doch sie sind keine Lösung für das Tauziehen in der Integrationspolitik – zwischen gesetzlichem Zwang einerseits und ehrlichem Integrationsbedürfnis andererseits.
100 neue Deutsche in Spandau
Von Dorothea Jung
Auf You-Tube, im Internet, wird es noch gepflegt, das Image von den harten Spandauer Asphalt-Boys, die stolz darauf sind, Gangster zu sein. Zum Beispiel der kurdisch-stämmige Berliner Rapper Lymace. Er besingt seinen Kiez, die Lynarstraße in Spandau so:
Lynar-Rap: "Ich bin einer dieser Jungs, die im Leben nicht viel erreicht haben, jeder hier im Viertel weiß, dass viele seiner Träume scheitern. Das ist die Lynarstraße. Komm her und werf' einen Blick. Die Zeit verändert dich. Kriminell? Na sicherlich!"
Die Lynarstraße in Berlin Spandau: Eine enge Wohnstraße mit türkischen Tee-Stuben, Gemüseläden und Supermärkten, mit türkischen Rechtsanwaltskanzleien und türkischen Spielsalons. Es ist die Heimat von Sedat Kirtan.
"Ich bin Sedat Kirtan, bin 28 Jahre alt. Bin hier Lynar-Krankenhaus, Spandau, geboren, Lynar-Grundschule in Spandau, Oberschule in Spandau, ich seh mich als Spandauer. Also, ich bin eher Deutscher als Türke. Also denk ich mal, dass deutsche Pass wär das Richtige für mich."
Vor einem türkischen Backshop der Lynarstraße. Eine Männergruppe schlürft an einem Stehtisch aus kleinen Gläsern süßen Tee: Spandauer Türken ohne Arbeit. Sie haben von der Einwanderungsaktion gehört und sind skeptisch. Hier, in Spandau einen deutschen Pass bekommen? "Unmöglich", lautet ihr Urteil.
"Wenn ich zum Beispiel deutsch werde, da muss ich Arbeit haben und das haben und das haben. Wie sollen sie machen? Die Leute alles hier Hartz-IV-Empfänger. Wie sollen sie das schaffen hier?"
Sedat Kirtan schließt die Tür zu einem kleinen Wettbüro in der Lynarstraße auf. An Spieltagen nimmt er hier Wettscheine an. "Kein sicherer Arbeitsplatz", bekennt der junge Mann. "Aber ein legaler Job und besser als Hartz IV", sagt er. Das Wettbüro besteht aus einem Tresen vor ein paar Bildschirmen, fünf schlichten Holztischen, einer Kasse und einem Samowar. Sedat Kirtan hängt seine Jeansjacke über eine Stuhllehne, nimmt an einem der Tische Platz und erzählt, wie er nach seinem Hauptschulabschluss aus eigenem Antrieb in Abendkursen seine mittlere Reife gemacht hat. Kein Lehrer hätte ihn während seiner Schulzeit jemals dazu ermutigt.
"Ich hab das mitbekommen, dass die Lehrer die ausländischen Schüler versucht haben, runterzuziehen. Und viele sind auch, die dann sagen, scheiß auf die Lehrer, scheiß auf die Gesetze, die dann auf die schiefe Bahn kommen. Und die meisten, die bleiben dann da drauf. Entweder enden die im Knast oder haben keine Lehre, gar nichts, Hartz-IV-Empfänger. Und die schaffen das dann nicht. Und ich will nicht zu dieser Gruppe gehören."
Lieber will Sedat Kirtan zu den Deutschen gehören. Auch wenn er in seiner Kindheit und Jugend keinem einzigen Bundesbürger begegnet ist, der ihn willkommen geheißen hätte. Und dann erzählt er von seinem Zuhause: Von den elf Geschwistern und von seinen kurdischen Eltern, die in den 70er-Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren und feststellen mussten, dass der kurdisch-türkische Konflikt auch in Berlin ausgetragen wird.
"Meine Eltern hatten auch in Deutschland noch Angst, sich zu ihren kurdischen Wurzeln zu bekennen","
erinnert sich Sedat Kirtan.
""Was ich an der deutschen Kultur liebe, ist halt die Demokratie. Ich liebe die deutsche Demokratie! Ich finde den ersten Paragraphen, die Würde des Menschen ist unantastbar, ist für mich, hat oberste Priorität. Dass man die eigene Sprache sprechen kann, die eigene Kultur ausleben kann, dass er sich frei ausleben kann, solange es in den Gesetzen ist."
Als Sedat Kirtan von der geplanten Einbürgerungsaktion des Spandauer Migrationsrates erfuhr, hat er sich sofort dafür begeistert. Vor dem erforderlichen Einbürgerungstest fürchtet er sich nicht. Ein bisschen mehr sorgt er sich wegen einer Jugendstrafe. Denn 1997, als 17-Jähriger, hat er einen Gleichaltrigen schwer zusammengeschlagen und erhielt eine Bewährungsstrafe von mehr als einem Jahr. "Damals war ich voller Wut", bekennt Sedat Kirtan. Heute jedoch möchte er dafür respektiert werden, dass er diese Wut bezwungen und sein Leben in die eigene Hand genommen hat. Auch wenn sein Alltag sich von dem der meisten Deutschen unterscheidet.
"Ich will 's denen allen zeigen, also dass es falsch ist, wie die mit den Ausländern umgehen, also dafür werde ich alles tun, dass es aufhört, dass ich, was ich durchgemacht habe in jungen Jahren, dass die nächste Generation, die kommt, das nicht mitmachen muss."
Jedoch: Selbst mit einem deutschen Pass in der Tasche wird sich Sedat Kirtan nicht hundertprozentig deutsch fühlen, das weiß er jetzt schon.
"Ich hab’s ja im Blut, das ist ja meine Kultur, den Konflikt wird es immer geben. Aber ich will, dass, wenn meine Kinder aufwachsen, dass sie deutsch aufwachsen und die kurdische Kultur auch miterleben, also beides. Das Familiäre von dem Kurdischen, also diese Familienliebe; und halt diese Pünktlichkeit, Arbeit, das alles vom Deutschen, also das Gute sich einfach aussuchen darf, wie er leben will. Das Fleißige, Pünktlichkeit - nicht vom Kurden, lieber vom Deutschen dann! (lacht)"
Sedat Kirtan hat sich vorgenommen, irgendwann gemeinsam mit einem Freund einen Dokumentarfilm über die Lynarstraße und ihre Menschen zu drehen. Irgendwann, wenn sie einen Projekttopf finden, der ihnen das Vorhaben finanziert. Da wird dann Gökmann Kinik auftreten und bezeugen, dass er auch nach neun Jahren Schule in Berlin Spandau noch nicht gelernt hatte, einigermaßen deutsch zu sprechen. In Gökman Kiniks Klasse waren nur Türken, zu Hause wurde nur türkisch geredet. In seinen zehn Jahren Schulunterricht hat Gökmann Kinik nie einen Lehrer kennengelernt, der engagiert versucht hätte, ihm die deutsche Sprache nahe zu bringen.
"Die haben mich nicht gefördert, also die haben sich nicht interessiert, ganz ehrlich, für unsere Klasse nicht. Das war schrecklich, ganz ehrlich. Weil: ich hab die Sprache nicht dort kennengelernt. Wir wussten gar nicht, wie die Sprache, das war fremd für uns. Das war auch schwer. Wo wir in der Oberschule waren, konnte ich noch nicht mal überhaupt Deutsch richtig reden."
Gökmann Kinik hat seine Schule ohne Abschluss verlassen und sich dann beim Sport ausgetobt. Im Fitnesszentrum trainierte er zehn Jahre lang seine Muskeln, spielte wie ein Besessener Fußball, lernte Boxen und Kickboxen - und Deutsch. Seine Deutschlehrer waren sein Trainer und seine Sportsfreunde. Der durchtrainierte Mann hätte Lust, sich an der Spandauer Einbürgerungsaktion zu beteiligen und gemeinsam mit seinem Freund Sedat Kirtan den deutschen Pass zu beantragen. Aber Gökman Kinik hat Angst, nicht akzeptiert zu werden, weil sein Job keinen guten Ruf genießt. Dabei ist er fest angestellt bei einem Wach- und Personenschutz-Unternehmen.
"Jetzt mach ich Personenschutz. Das ist begleiten, wir begleiten die Leute halt, wenn wir Auftrag bekommen Politiker oder Geschäftsleute halt, so was halt. Ich meine, es ist auch nicht ein schöner Job - aber, wenn ihn ein Deutscher macht - ist normal: wenn ihn ein Italiener macht - ist normal: aber es gilt bei Türken und Arabern: Oh - ist ein gefährlicher Mensch."
Gökman Kinik zuckt mit den Schultern. Von den Alternativen, die ihm beruflich zur Verfügung gestanden hätten, nennt er Schutzgelderpressung und Drogenhandel. Aber da wollte er nicht mitmachen. Dass er heute regelmäßig arbeitet und von seinem Job leben kann, findet bei seinen türkischen Freunden Anerkennung. Doch dass die deutsche Gesellschaft dies zu würdigen weiß, bezweifelt Gökman Kinik entschieden. Trotzdem wäre er gerne deutscher Staatsbürger. Denn in entscheidenden Punkten hat er Vertrauen in den Deutschen Staat.
"Man kann überall hinfliegen fast. Und wenn man im Ausland welche Probleme hat, da ist die, da ist sofort die Konsulat, der Botschaft dabei. Die kümmern sich ja, die machen sich auch 'n Kopf darüber, aber mit 'nem türkischen Ausweis, wenn ich irgendwo bin, dann ist vorbei. Echt jetzt."
Sollten tatsächlich 100 Ausländer aus Spandau bei der Einbürgerungsaktion mitmachen, dann zeigen sie damit, dass türkische Bodyguards, Türsteher, Wettbüromitarbeiter und Imbissbudenbesitzer sich genauso mit ihrem Viertel verbunden fühlen wie türkische Ärzte, Sozialarbeiter und Rechtsanwälte. Nach Meinung von Kubilai Sarikaya fordern sie damit den Respekt ein, den sie in ihrem Alltag vermissen.
"Gerade in diesen sozialen Brennpunkten, sei es beim Einkaufen, sei es auf der Straße, sei es in Konfliktsituationen mit der Polizei, gibt es immer noch Unterschiede. Also ich hab immer noch 'n Problem damit, obwohl ich immer noch versuche, die irgendwie etwas zu finden, um mich deutsch zu fühlen."
Der 35-jährige Kubilai Sarikaya ist Theaterpädagoge von Beruf. Natürlich weiß er, dass die gesellschaftliche Anerkennung auch mit einer deutschen Staatsbürgerschaft in der Tasche keine leichte Angelegenheit wird.
"Wir, die Schwarzköpfe, wir, die Ölaugen, wir, die anders aussehen. Wenn du dein Leben lang immer nur als der Buhmann hingestellt wirst, fällt es dir schwer irgendwann, aus deiner Haut rauszuschlüpfen und zu sagen, gut, weil du jetzt 'n Pass hast, bist du jetzt – ah, jetzt bist du rehabilitiert. Du gehörst jetzt, gut, du gehörst jetzt zu uns."
In Spandau wohnt Kubilai Sarikaya erst seit drei Jahren. Und er ist vom Selbstbehauptungswillen besonders des Lynar-Straßen-Viertels beeindruckt. Gemeinsam mit Sedat Kirtan hat er sich vorgenommen, die Spandauer dieses Viertels mit einem Film zu würdigen. Eine grundsätzliche Wertschätzung findet Kubilai Sarikaya ohnehin wichtiger als unbedingt irgendwo dazuzugehören.
"Für mich ist einfach der Gedanke viel zu klein, mich irgendwo zugehörig zu fühlen. Ich hab 30 Jahre diesen Kampf in mir getragen, diese Identitätskrise, diesen Kulturkonflikt zwischen Orient und Okzident. Ich fühl mich einfach als zwischen diesen Linien, ich kann mich nie ganz hundertprozentig wohlfühlen. Ich werd immer irgendwo ein Schwarzkopf sein. Weil die Frage sich stellt: Sag mal, du bist ja eigentlich ganz nett und so, aber - woher kommst du denn?"
Diese Frage will Kubilai Sarikaya nicht mehr beantworten. Obwohl seine Familiengeschichte Stoff für einen Roman hergäbe. Er ist das Kind eines kurdischen Vaters und einer türkischen Mutter; seine Wiege stand im Berliner Bezirk Wedding. Die Eltern hatten aus Liebe geheiratet und sich damit gegen die Traditionen ihrer Familien gestellt. Weil der Vater es beim türkischen Wehrdienst ohne seine Frau nicht ausgehalten und seine Einheit mehrfach verlassen hatte, war er schließlich für zwei Jahre in ein Militärgefängnis gewandert. Ein Neuanfang des jungen Paares in Deutschland scheiterte. Mit einem Hafttrauma belastet, ohne Ausbildung, Sprachkenntnisse und familiäre Unterstützung kam sein Vater in der neuen Heimat nicht klar. Er wurde straffällig und zog in die Justizverzugsanstalt Berlin Tegel ein.
"Also ich kann sagen, ich hab meine, die meiste Zeit meiner Kindheit JVA Tegel alle zwei Wochen verbracht. Also da, deshalb können Sie sich vorstellen, und mit der Identitätssuche, das jetzt sehr schwierig ist. Und da ich der einzige Junge bin in unserer Familie, hatte ich halt 'ne große Verantwortung zu tragen mit 13, 14 schon gegenüber meinen Schwestern und auch gegenüber meiner Mutter, weil mein Vater doch schon ganz großen Druck auf mich ausgeübt hat aus dem Gefängnis heraus. Und daraus sich dann Deutschland nah zu fühlen oder sich überhaupt da Gedanken über Integration zu machen, schien mir also so, so weit wie der Mond!"
Der Junge hatte aber Glück: In seinem Jugendclub machte Kubilai Sarikaya Bekanntschaft mit dem Theaterspielen. Es wurde die Grundlage seines Berufslebens. Kubilai Sarikaya hält sich heute mit Theaterworkshops, Schulspiel-Projekten und kleinen Dokumentarfilmen "über Wasser", wie er sagt. Er glaubt nicht, dass sein künstlerisches Leben mit einem deutschen Pass leichter wird. Aber er hat sich vorgenommen, als Deutscher die deutsche Kultur besonders lebhaft zu verteidigen.
"Also dann kann ich erhobenen Hauptes zu meinen Landsleuten gehen und über Selbstkritik sprechen, dass es mit der Sprache viel, viel einfacher ist, dass man einige statt Magazine zu lesen oder so türkische oder kurdische Philosophen zu lesen, dass man auch sich mit den deutschen Philosophen beschäftigt. Dass man weiß, wer Schiller ist, Goethe, Lessing, dass die Geschichte von Nathan, dem Weisen, irgendwo uns alle trifft, so, eine Sicht zu einer Sache, die man erst dann austragen kann, wenn man sie erlebt hat."
Kubilai Sarikaya stört es wenig, dass im Quartier der Spandauer Lynarstraße die Aufklärung über Nathan den Weisen vermutlich in Spielsalons, Wettbüros und türkischen Männercafés stattfinden müsste. Irgendwann werde sich das ändern, meint er zuversichtlich. Spätestens dann, wenn das Wort Integration endlich überflüssig geworden sei.
"Dieses Wort müsste einfach weg aus unserer Gesellschaft, weil wenn’s weg ist, denn werden vielleicht mein Kind, mein Sohn oder sein Sohn oder seine Kinder werden davon nie mehr etwas erfahren. Und dann können wir anfangen, wie ist denn, sich das Deutsch zu fühlen. Das kann ich Ihnen erst in zehn Jahren beantworten, wenn ich diesen Weg gegangen bin, mit dem Pass und eventuell mit der sozialen Anerkennung, eventuell."
Die soziale Anerkennung ist keine Folge von Einbürgerung, sondern von Bildung. Davon ist Mehmet Yasar überzeugt. Auch er ein typisches Gastarbeiterkind. Als seine Mutter dem Vater 1979 aus der Türkei nach Deutschland folgte, musste Sohn Mehmet mit. Da war er 13 und sprach kein Wort deutsch.
"Ich habe hier erst mal den erweiterten Hauptschulabschluss bekommen. Also soviel war zu erreichen, wegen der Sprache eigentlich. Dann hab ich aber nicht aufgegeben. Habe gesagt, ich mache das weiter. Und mein Vater, das ist ganz wichtig, er hat mich unterstützt dabei, er hat gesagt, mein Sohn, wenn du weiter zur Schule gehen möchtest, ich unterstütze dich. Und ich hab dort auch weitergemacht, dann hab ich gesagt, okay, ich werde jetzt eine Ausbildungsplatz suchen, und so ist es dann zum Studium gekommen. Aber wichtig war die Unterstützung von der Familie"."
Der Informatiker arbeitet heute in einem weiteren sozialen Brennpunkt von Spandau: dem Hochhausviertel des Stadtteils Staaken. Dort gibt der 42-Jährige in einem deutsch-arabischen Beratungszentrum Computerkurse für Jugendliche. Mehmet Yasar hat die Erfahrung gemacht, dass viele Einwanderer gar nicht wissen, wie wichtig Bildung für die Zukunft ihrer Kinder ist. "Wenn wir daran etwas ändern wollen, müssen wir mitbestimmen", sagt der 42-jährige Informatiker.
""Wenn man hier groß geworden ist, die Schule hier besucht hat, fast 30 Jahre hier verbracht hat, dann entwickelt sich auch natürlich auch Emotionales. Man fühlt sich hier zu Hause. Man lebt hier genauso wie die anderen. Aber man bleibt ja dazwischen auch. Vielleicht wird mein Sohn das nicht sein, aber für mich kann man das sagen, ja, ja. Mein Vater ist mehr türkisch, ich bin mehr deutsch, aber mein Sohn oder meine Tochter wird mehr deutsch sein."
Mehmet Yasar fühlt sich in Berlin-Spandau respektiert und rundum anerkannt. Der Deutsche Pass wird daran nichts ändern. Er will Deutscher werden, weil die Bundesrepublik das Land ist, in dem die Zukunft seiner Kinder liegt. Und dieses Land möchte Mehmet Yasar mitgestalten.
Im Goethe-Institut in Istanbul zum Beispiel haben in den vergangenen zwei Jahren rund 6.000 Türken an den Sprachprüfungen teilgenommen – 60 Prozent von ihnen erfolgreich.
Deutsch als Pflicht
Von Julia Hahn
"Start Deutsch 1. Übungssatz 02. Teil 1. Was ist richtig? Kreuzen Sie an: A, B oder C."
Istanbul. Im Sommer. Zehn junge Menschen sitzen in dem kleinen Seminarraum nahe der Haupteinkaufsstraße Istiklal Caddesi, alle mit einem Ziel: Den Deutsch-Test bestehen und dann raus aus der Türkei, ein neues Leben anfangen. Elf Wochen Sprach-Kurs haben sie hinter sich, bereiten sich nun auf die alles entscheidende Prüfung vor. Die meisten sind in Deutschland verheiratet. Zum Beispiel die Krankenhausangestellte Güldane Karasahan, 28. Sie will zu ihrem Mann nach Berlin.
Berlin ist ihr vertraut, sagt sie, weil sie ja aus Istanbul kommt und das Leben in beiden Städten sehr dynamisch ist. Und weil es viele Türken in Berlin gibt, sagt Güldane, fühlt sie sich dort nicht wie eine Fremde.
Ähnlich geht es Selen Sahin, 24 Jahre alt.
Nach dem Kurs kann er die Deutschen zumindest etwas verstehen und ihnen seine Probleme erklären, sagt er. Wenn er durch die Prüfung fällt, dann will Sahin sie wiederholen – so oft, bis er besteht.
Etwa 250 Euro kostet der Kurs. Das Geld kommt oft aus Deutschland. Eine andere mit Kopftuch und langem Jeansmantel, die nur Ebru genannt werden will, klappt ihr Lehrbuch zu, stützt den Kopf in die Handflächen.
Es ist hart, aber es ist notwendig, sagt sie und dass die Deutschen wollen, dass sie viel lernt, damit sie nicht abhängig ist von ihrem Ehemann, Freunden, der Familie. Für Ebru bedeuten die 90 Tage Sprachkurs Stress, weil irgendwie ja ihre ganze Zukunft davon abhängt, sagt sie.
Deutsch lernen – keine leichte Aufgabe. Viele von ihnen sind gerade mal drei Jahre zur Schule gegangen, beherrschen die eigene Muttersprache nicht richtig. Jetzt sollen sie Vokabeln lernen, die deutsche Grammatik verstehen.
Erika Broschek leitet die Kurse am Goethe Institut in Istanbul:
"Aber sie lernen ja eben viel mehr als nur die Sprache. Wir bereiten sie ja auch vor auf das fremde Land, in das sie gehen. Das sie also nicht mehr sagen: ’Ich gehe nach Deutschland, ich gehe zu meinem Mann’ – das war ja früher immer die Einstellung. Wir bemühen uns, aus einem Gesetz, das nicht populär ist, wenigstens noch das Beste rauszuholen, so dass was Sinnvolles am Ende rumkommt."
Was genau dabei rumkommt, zeigt sich erst in Deutschland. Dann, wenn Behördengänge und Arztbesuche anstehen, die nächsten Integrations- und Sprachkurse beginnen, Kinder in die Schule kommen.
Gespräch Frauen: "Also nicht diese Woche, aber nächste. Aber die Planung könnt ihr dann... ich glaube Sylvia ist im Urlaub und kommt dann..."
Von Istanbul nach Berlin-Kreuzberg. Einsatzbesprechung bei den Stadtteilmüttern – selbst Frauen mit Migrationshintergrund, die zugewanderten Familien bei Alltagsproblemen helfen. Songül Süsem-Kessel leitet das Projekt. Der Sprachkurs in der Türkei ändert nichts am Integrationswillen, sagt sie:
"Das ist ne Illusion, sich vorzustellen, wenn dieser Kurs absolviert ist, dass es dann hier im Land wunderbar weitergeht und dass sie definitiv zwei Jahre Kurse belegen, um dann die Sprache wunderbar zu beherrschen. Dieses Gesetz ändert an dieser persönlichen Einstellung nicht das, was man sich vielleicht erhofft oder erwünscht."
Süsem-Kessel hat eine Freundin mitgebracht, mit langen schwarzen Haaren, engen Jeans und Plateauschuhen. Hülya Süsem hat den Sprachtest in Izmir bestanden, ist vor etwa einem Jahr zu ihrem Mann nach Berlin gekommen. Sie besucht jetzt die nächsten Integrationskurse. Wichtige Fragen beantwortet sie trotzdem lieber auf Türkisch.
Natürlich war der Kurs eine gute Vorbereitung, sagt Hülya. Sie kam ja in eine neue Kultur, über die sie nichts wusste. Während der zwei Monate hat sie zumindest ein paar Dinge gelernt, hat es jetzt beim Integrationskurs in Deutschland einfacher als andere.
Frauen wie Hülya Süsem sind Vorzeige-Beispiele: emanzipiert, bildungsbewusst, dabei in Deutschland anzukommen. Doch sie sind keine Lösung für das Tauziehen in der Integrationspolitik – zwischen gesetzlichem Zwang einerseits und ehrlichem Integrationsbedürfnis andererseits.
100 neue Deutsche in Spandau
Von Dorothea Jung
Auf You-Tube, im Internet, wird es noch gepflegt, das Image von den harten Spandauer Asphalt-Boys, die stolz darauf sind, Gangster zu sein. Zum Beispiel der kurdisch-stämmige Berliner Rapper Lymace. Er besingt seinen Kiez, die Lynarstraße in Spandau so:
Lynar-Rap: "Ich bin einer dieser Jungs, die im Leben nicht viel erreicht haben, jeder hier im Viertel weiß, dass viele seiner Träume scheitern. Das ist die Lynarstraße. Komm her und werf' einen Blick. Die Zeit verändert dich. Kriminell? Na sicherlich!"
Die Lynarstraße in Berlin Spandau: Eine enge Wohnstraße mit türkischen Tee-Stuben, Gemüseläden und Supermärkten, mit türkischen Rechtsanwaltskanzleien und türkischen Spielsalons. Es ist die Heimat von Sedat Kirtan.
"Ich bin Sedat Kirtan, bin 28 Jahre alt. Bin hier Lynar-Krankenhaus, Spandau, geboren, Lynar-Grundschule in Spandau, Oberschule in Spandau, ich seh mich als Spandauer. Also, ich bin eher Deutscher als Türke. Also denk ich mal, dass deutsche Pass wär das Richtige für mich."
Vor einem türkischen Backshop der Lynarstraße. Eine Männergruppe schlürft an einem Stehtisch aus kleinen Gläsern süßen Tee: Spandauer Türken ohne Arbeit. Sie haben von der Einwanderungsaktion gehört und sind skeptisch. Hier, in Spandau einen deutschen Pass bekommen? "Unmöglich", lautet ihr Urteil.
"Wenn ich zum Beispiel deutsch werde, da muss ich Arbeit haben und das haben und das haben. Wie sollen sie machen? Die Leute alles hier Hartz-IV-Empfänger. Wie sollen sie das schaffen hier?"
Sedat Kirtan schließt die Tür zu einem kleinen Wettbüro in der Lynarstraße auf. An Spieltagen nimmt er hier Wettscheine an. "Kein sicherer Arbeitsplatz", bekennt der junge Mann. "Aber ein legaler Job und besser als Hartz IV", sagt er. Das Wettbüro besteht aus einem Tresen vor ein paar Bildschirmen, fünf schlichten Holztischen, einer Kasse und einem Samowar. Sedat Kirtan hängt seine Jeansjacke über eine Stuhllehne, nimmt an einem der Tische Platz und erzählt, wie er nach seinem Hauptschulabschluss aus eigenem Antrieb in Abendkursen seine mittlere Reife gemacht hat. Kein Lehrer hätte ihn während seiner Schulzeit jemals dazu ermutigt.
"Ich hab das mitbekommen, dass die Lehrer die ausländischen Schüler versucht haben, runterzuziehen. Und viele sind auch, die dann sagen, scheiß auf die Lehrer, scheiß auf die Gesetze, die dann auf die schiefe Bahn kommen. Und die meisten, die bleiben dann da drauf. Entweder enden die im Knast oder haben keine Lehre, gar nichts, Hartz-IV-Empfänger. Und die schaffen das dann nicht. Und ich will nicht zu dieser Gruppe gehören."
Lieber will Sedat Kirtan zu den Deutschen gehören. Auch wenn er in seiner Kindheit und Jugend keinem einzigen Bundesbürger begegnet ist, der ihn willkommen geheißen hätte. Und dann erzählt er von seinem Zuhause: Von den elf Geschwistern und von seinen kurdischen Eltern, die in den 70er-Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren und feststellen mussten, dass der kurdisch-türkische Konflikt auch in Berlin ausgetragen wird.
"Meine Eltern hatten auch in Deutschland noch Angst, sich zu ihren kurdischen Wurzeln zu bekennen","
erinnert sich Sedat Kirtan.
""Was ich an der deutschen Kultur liebe, ist halt die Demokratie. Ich liebe die deutsche Demokratie! Ich finde den ersten Paragraphen, die Würde des Menschen ist unantastbar, ist für mich, hat oberste Priorität. Dass man die eigene Sprache sprechen kann, die eigene Kultur ausleben kann, dass er sich frei ausleben kann, solange es in den Gesetzen ist."
Als Sedat Kirtan von der geplanten Einbürgerungsaktion des Spandauer Migrationsrates erfuhr, hat er sich sofort dafür begeistert. Vor dem erforderlichen Einbürgerungstest fürchtet er sich nicht. Ein bisschen mehr sorgt er sich wegen einer Jugendstrafe. Denn 1997, als 17-Jähriger, hat er einen Gleichaltrigen schwer zusammengeschlagen und erhielt eine Bewährungsstrafe von mehr als einem Jahr. "Damals war ich voller Wut", bekennt Sedat Kirtan. Heute jedoch möchte er dafür respektiert werden, dass er diese Wut bezwungen und sein Leben in die eigene Hand genommen hat. Auch wenn sein Alltag sich von dem der meisten Deutschen unterscheidet.
"Ich will 's denen allen zeigen, also dass es falsch ist, wie die mit den Ausländern umgehen, also dafür werde ich alles tun, dass es aufhört, dass ich, was ich durchgemacht habe in jungen Jahren, dass die nächste Generation, die kommt, das nicht mitmachen muss."
Jedoch: Selbst mit einem deutschen Pass in der Tasche wird sich Sedat Kirtan nicht hundertprozentig deutsch fühlen, das weiß er jetzt schon.
"Ich hab’s ja im Blut, das ist ja meine Kultur, den Konflikt wird es immer geben. Aber ich will, dass, wenn meine Kinder aufwachsen, dass sie deutsch aufwachsen und die kurdische Kultur auch miterleben, also beides. Das Familiäre von dem Kurdischen, also diese Familienliebe; und halt diese Pünktlichkeit, Arbeit, das alles vom Deutschen, also das Gute sich einfach aussuchen darf, wie er leben will. Das Fleißige, Pünktlichkeit - nicht vom Kurden, lieber vom Deutschen dann! (lacht)"
Sedat Kirtan hat sich vorgenommen, irgendwann gemeinsam mit einem Freund einen Dokumentarfilm über die Lynarstraße und ihre Menschen zu drehen. Irgendwann, wenn sie einen Projekttopf finden, der ihnen das Vorhaben finanziert. Da wird dann Gökmann Kinik auftreten und bezeugen, dass er auch nach neun Jahren Schule in Berlin Spandau noch nicht gelernt hatte, einigermaßen deutsch zu sprechen. In Gökman Kiniks Klasse waren nur Türken, zu Hause wurde nur türkisch geredet. In seinen zehn Jahren Schulunterricht hat Gökmann Kinik nie einen Lehrer kennengelernt, der engagiert versucht hätte, ihm die deutsche Sprache nahe zu bringen.
"Die haben mich nicht gefördert, also die haben sich nicht interessiert, ganz ehrlich, für unsere Klasse nicht. Das war schrecklich, ganz ehrlich. Weil: ich hab die Sprache nicht dort kennengelernt. Wir wussten gar nicht, wie die Sprache, das war fremd für uns. Das war auch schwer. Wo wir in der Oberschule waren, konnte ich noch nicht mal überhaupt Deutsch richtig reden."
Gökmann Kinik hat seine Schule ohne Abschluss verlassen und sich dann beim Sport ausgetobt. Im Fitnesszentrum trainierte er zehn Jahre lang seine Muskeln, spielte wie ein Besessener Fußball, lernte Boxen und Kickboxen - und Deutsch. Seine Deutschlehrer waren sein Trainer und seine Sportsfreunde. Der durchtrainierte Mann hätte Lust, sich an der Spandauer Einbürgerungsaktion zu beteiligen und gemeinsam mit seinem Freund Sedat Kirtan den deutschen Pass zu beantragen. Aber Gökman Kinik hat Angst, nicht akzeptiert zu werden, weil sein Job keinen guten Ruf genießt. Dabei ist er fest angestellt bei einem Wach- und Personenschutz-Unternehmen.
"Jetzt mach ich Personenschutz. Das ist begleiten, wir begleiten die Leute halt, wenn wir Auftrag bekommen Politiker oder Geschäftsleute halt, so was halt. Ich meine, es ist auch nicht ein schöner Job - aber, wenn ihn ein Deutscher macht - ist normal: wenn ihn ein Italiener macht - ist normal: aber es gilt bei Türken und Arabern: Oh - ist ein gefährlicher Mensch."
Gökman Kinik zuckt mit den Schultern. Von den Alternativen, die ihm beruflich zur Verfügung gestanden hätten, nennt er Schutzgelderpressung und Drogenhandel. Aber da wollte er nicht mitmachen. Dass er heute regelmäßig arbeitet und von seinem Job leben kann, findet bei seinen türkischen Freunden Anerkennung. Doch dass die deutsche Gesellschaft dies zu würdigen weiß, bezweifelt Gökman Kinik entschieden. Trotzdem wäre er gerne deutscher Staatsbürger. Denn in entscheidenden Punkten hat er Vertrauen in den Deutschen Staat.
"Man kann überall hinfliegen fast. Und wenn man im Ausland welche Probleme hat, da ist die, da ist sofort die Konsulat, der Botschaft dabei. Die kümmern sich ja, die machen sich auch 'n Kopf darüber, aber mit 'nem türkischen Ausweis, wenn ich irgendwo bin, dann ist vorbei. Echt jetzt."
Sollten tatsächlich 100 Ausländer aus Spandau bei der Einbürgerungsaktion mitmachen, dann zeigen sie damit, dass türkische Bodyguards, Türsteher, Wettbüromitarbeiter und Imbissbudenbesitzer sich genauso mit ihrem Viertel verbunden fühlen wie türkische Ärzte, Sozialarbeiter und Rechtsanwälte. Nach Meinung von Kubilai Sarikaya fordern sie damit den Respekt ein, den sie in ihrem Alltag vermissen.
"Gerade in diesen sozialen Brennpunkten, sei es beim Einkaufen, sei es auf der Straße, sei es in Konfliktsituationen mit der Polizei, gibt es immer noch Unterschiede. Also ich hab immer noch 'n Problem damit, obwohl ich immer noch versuche, die irgendwie etwas zu finden, um mich deutsch zu fühlen."
Der 35-jährige Kubilai Sarikaya ist Theaterpädagoge von Beruf. Natürlich weiß er, dass die gesellschaftliche Anerkennung auch mit einer deutschen Staatsbürgerschaft in der Tasche keine leichte Angelegenheit wird.
"Wir, die Schwarzköpfe, wir, die Ölaugen, wir, die anders aussehen. Wenn du dein Leben lang immer nur als der Buhmann hingestellt wirst, fällt es dir schwer irgendwann, aus deiner Haut rauszuschlüpfen und zu sagen, gut, weil du jetzt 'n Pass hast, bist du jetzt – ah, jetzt bist du rehabilitiert. Du gehörst jetzt, gut, du gehörst jetzt zu uns."
In Spandau wohnt Kubilai Sarikaya erst seit drei Jahren. Und er ist vom Selbstbehauptungswillen besonders des Lynar-Straßen-Viertels beeindruckt. Gemeinsam mit Sedat Kirtan hat er sich vorgenommen, die Spandauer dieses Viertels mit einem Film zu würdigen. Eine grundsätzliche Wertschätzung findet Kubilai Sarikaya ohnehin wichtiger als unbedingt irgendwo dazuzugehören.
"Für mich ist einfach der Gedanke viel zu klein, mich irgendwo zugehörig zu fühlen. Ich hab 30 Jahre diesen Kampf in mir getragen, diese Identitätskrise, diesen Kulturkonflikt zwischen Orient und Okzident. Ich fühl mich einfach als zwischen diesen Linien, ich kann mich nie ganz hundertprozentig wohlfühlen. Ich werd immer irgendwo ein Schwarzkopf sein. Weil die Frage sich stellt: Sag mal, du bist ja eigentlich ganz nett und so, aber - woher kommst du denn?"
Diese Frage will Kubilai Sarikaya nicht mehr beantworten. Obwohl seine Familiengeschichte Stoff für einen Roman hergäbe. Er ist das Kind eines kurdischen Vaters und einer türkischen Mutter; seine Wiege stand im Berliner Bezirk Wedding. Die Eltern hatten aus Liebe geheiratet und sich damit gegen die Traditionen ihrer Familien gestellt. Weil der Vater es beim türkischen Wehrdienst ohne seine Frau nicht ausgehalten und seine Einheit mehrfach verlassen hatte, war er schließlich für zwei Jahre in ein Militärgefängnis gewandert. Ein Neuanfang des jungen Paares in Deutschland scheiterte. Mit einem Hafttrauma belastet, ohne Ausbildung, Sprachkenntnisse und familiäre Unterstützung kam sein Vater in der neuen Heimat nicht klar. Er wurde straffällig und zog in die Justizverzugsanstalt Berlin Tegel ein.
"Also ich kann sagen, ich hab meine, die meiste Zeit meiner Kindheit JVA Tegel alle zwei Wochen verbracht. Also da, deshalb können Sie sich vorstellen, und mit der Identitätssuche, das jetzt sehr schwierig ist. Und da ich der einzige Junge bin in unserer Familie, hatte ich halt 'ne große Verantwortung zu tragen mit 13, 14 schon gegenüber meinen Schwestern und auch gegenüber meiner Mutter, weil mein Vater doch schon ganz großen Druck auf mich ausgeübt hat aus dem Gefängnis heraus. Und daraus sich dann Deutschland nah zu fühlen oder sich überhaupt da Gedanken über Integration zu machen, schien mir also so, so weit wie der Mond!"
Der Junge hatte aber Glück: In seinem Jugendclub machte Kubilai Sarikaya Bekanntschaft mit dem Theaterspielen. Es wurde die Grundlage seines Berufslebens. Kubilai Sarikaya hält sich heute mit Theaterworkshops, Schulspiel-Projekten und kleinen Dokumentarfilmen "über Wasser", wie er sagt. Er glaubt nicht, dass sein künstlerisches Leben mit einem deutschen Pass leichter wird. Aber er hat sich vorgenommen, als Deutscher die deutsche Kultur besonders lebhaft zu verteidigen.
"Also dann kann ich erhobenen Hauptes zu meinen Landsleuten gehen und über Selbstkritik sprechen, dass es mit der Sprache viel, viel einfacher ist, dass man einige statt Magazine zu lesen oder so türkische oder kurdische Philosophen zu lesen, dass man auch sich mit den deutschen Philosophen beschäftigt. Dass man weiß, wer Schiller ist, Goethe, Lessing, dass die Geschichte von Nathan, dem Weisen, irgendwo uns alle trifft, so, eine Sicht zu einer Sache, die man erst dann austragen kann, wenn man sie erlebt hat."
Kubilai Sarikaya stört es wenig, dass im Quartier der Spandauer Lynarstraße die Aufklärung über Nathan den Weisen vermutlich in Spielsalons, Wettbüros und türkischen Männercafés stattfinden müsste. Irgendwann werde sich das ändern, meint er zuversichtlich. Spätestens dann, wenn das Wort Integration endlich überflüssig geworden sei.
"Dieses Wort müsste einfach weg aus unserer Gesellschaft, weil wenn’s weg ist, denn werden vielleicht mein Kind, mein Sohn oder sein Sohn oder seine Kinder werden davon nie mehr etwas erfahren. Und dann können wir anfangen, wie ist denn, sich das Deutsch zu fühlen. Das kann ich Ihnen erst in zehn Jahren beantworten, wenn ich diesen Weg gegangen bin, mit dem Pass und eventuell mit der sozialen Anerkennung, eventuell."
Die soziale Anerkennung ist keine Folge von Einbürgerung, sondern von Bildung. Davon ist Mehmet Yasar überzeugt. Auch er ein typisches Gastarbeiterkind. Als seine Mutter dem Vater 1979 aus der Türkei nach Deutschland folgte, musste Sohn Mehmet mit. Da war er 13 und sprach kein Wort deutsch.
"Ich habe hier erst mal den erweiterten Hauptschulabschluss bekommen. Also soviel war zu erreichen, wegen der Sprache eigentlich. Dann hab ich aber nicht aufgegeben. Habe gesagt, ich mache das weiter. Und mein Vater, das ist ganz wichtig, er hat mich unterstützt dabei, er hat gesagt, mein Sohn, wenn du weiter zur Schule gehen möchtest, ich unterstütze dich. Und ich hab dort auch weitergemacht, dann hab ich gesagt, okay, ich werde jetzt eine Ausbildungsplatz suchen, und so ist es dann zum Studium gekommen. Aber wichtig war die Unterstützung von der Familie"."
Der Informatiker arbeitet heute in einem weiteren sozialen Brennpunkt von Spandau: dem Hochhausviertel des Stadtteils Staaken. Dort gibt der 42-Jährige in einem deutsch-arabischen Beratungszentrum Computerkurse für Jugendliche. Mehmet Yasar hat die Erfahrung gemacht, dass viele Einwanderer gar nicht wissen, wie wichtig Bildung für die Zukunft ihrer Kinder ist. "Wenn wir daran etwas ändern wollen, müssen wir mitbestimmen", sagt der 42-jährige Informatiker.
""Wenn man hier groß geworden ist, die Schule hier besucht hat, fast 30 Jahre hier verbracht hat, dann entwickelt sich auch natürlich auch Emotionales. Man fühlt sich hier zu Hause. Man lebt hier genauso wie die anderen. Aber man bleibt ja dazwischen auch. Vielleicht wird mein Sohn das nicht sein, aber für mich kann man das sagen, ja, ja. Mein Vater ist mehr türkisch, ich bin mehr deutsch, aber mein Sohn oder meine Tochter wird mehr deutsch sein."
Mehmet Yasar fühlt sich in Berlin-Spandau respektiert und rundum anerkannt. Der Deutsche Pass wird daran nichts ändern. Er will Deutscher werden, weil die Bundesrepublik das Land ist, in dem die Zukunft seiner Kinder liegt. Und dieses Land möchte Mehmet Yasar mitgestalten.