Braune Altlasten in Ost und West
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Mit Argusaugen blickte man in der DDR auf die vielen Alt-Nazis in der Verwaltung der Bundesrepublik nach 1945. Doch hat es Ostdeutschland wirklich besser gemacht? Ein Vergleich von Historikern bringt Parallelen an den Tag - aber auch Unterschiede.
"Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Auf Befehl des Großadmirals hat die Wehrmacht den aussichtslos gewordenen Kampf eingestellt."
So hieß es im letzten Wehrmachtsbericht 1945. Etwas mehr als vier Jahre danach stehen sich zwei deutsche Staaten an den Fronten des Kalten Krieges gegenüber. Behörden, Ministerien, Institutionen wurden aufgebaut: Werkzeuge, um das politische und gesellschaftliche Leben maßgeblich zu regeln und zu ordnen.
Persönliche Kontinuitäten nach dem Nationalsozialismus gab es in Ost und West. Hier müsse man aber differenzieren, sagt Lutz Maeke. Er ist Historiker am Münchner Institut für Zeitgeschichte und hat mit der Forschungsgruppe zur Geschichte der Innenministerien in Bonn und Ostberlin 2018 die Studie "Hüter der Ordnung" veröffentlicht, die erstmals die NS-Belastung in den west- und ostdeutschen Innenministerien vergleichend beleuchtet.
"Was man sagen kann, wenn man diesen Ost-West-Vergleich macht, ist, dass die Belastung im Sinne von früheren Angehörigen der NSDAP, die in der Verwaltung tätig waren und dann wieder in der Bundesrepublik in Verwaltungsstellen oder in den Ministerien, dass die Zahl viel höher war als in der DDR", sagt Maeke.
"Das ist keine so große Überraschung, wenn man sich vor Augen hält, dass die DDR und schon beginnend maßgeblich in der SBZ viel umfassender frühere NSDAP-Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst und diesen Behörden entlassen hat."
In West und Ost zogen die Alliierten Beamte heran, die die NS-Zeit relativ unbelastet hinter sich gebracht hatten. Doch diese Gemeinsamkeit schwand schon bald. Zahlen dazu hat Dominik Rigoll. Er ist Wissenschaftler am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Maekes Kollege in der Forschungsgruppe. Für das Leitungspersonal der 50er-Jahre gelten "die NSDAP-Mitgliedzahlen: West-Innenministerium 50 Prozent, Ost-Innenministerium zwar 'nur' 14 Prozent – aber doch viel mehr, als man dachte".
Die Mehrheit der führenden Beamten war in der NSDAP
Geht man also allein nach der NSDAP-Mitgliedschaft, wird zuerst ein quantitativer Unterschied zwischen Ost und West sichtbar. Dieser nahm im Laufe der 50er-Jahre noch zu. 1961, im Jahre des Eichmann-Prozesses, hatte die Zahl Belasteter in westlichen Behörden einen Höhepunkt erreicht. Bis zu zwei Drittel der führenden Beamten im Bonner Innenministerium waren zuvor in der NSDAP, rund die Hälfte in der SA und zwei Dutzend leitende Beamte in der SS.
"Wenn wir auf die Westbehörden gucken, also auf die ganzen Bundesbehörden, aber auch auf regionaler, auf Länderebene, haben wir das, was wir NS-Funktionseliten nennen", betont Rigoll.
Sie genossen die Privilegien des wiederhergestellten Berufsbeamtentums, das im Osten abgeschafft blieb. Wurden in den DDR-Ministerien NSDAP-Mitglieder gefunden, waren dies eher "kleine Parteigenossen":
"Was man damals sowohl im Osten als auch im Westen 'kleine PGs' nannte – kleine Nazis. Leute. die kleine Angestellte waren, die vielleicht aus der Arbeiterschaft kommen. Die in die NSDAP eingetreten sind, die vielleicht auch dolle Nazis gewesen sein können, die aber keine wichtige Rolle im NS-Regime spielten, keine gehobene Rolle."
Konträre Personalpolitik in Ost und West
Dieser Unterschied erklärt sich durch eine nahezu konträre Personalpolitik. In der DDR etwa wurden persönliche Angaben zur NS-Vergangenheit gründlicher überprüft. Auch neu angelernte Kräfte kamen viel häufiger zum Einsatz, geführt von sogenannten bewährten Kommunisten. In der Bundesrepublik wiederum spielten vorhandenes Verwaltungswissen, persönliche Empfehlungen und Netzwerke eine große Rolle für die Personalauswahl. Gepflegt wurde ein Selbstbild, das dem des überparteilichen, unpolitischen Beamtentypus entsprach. Anders in der DDR:
"Wenn man auf das Ministerium des Inneren schaut, kann man sehen, dass dort als Selbstbild große Anklänge genommen wurden – das war natürlich auch bedingt dadurch, dass es ein Ministerium für die bewaffneten Organe war – an die Auseinandersetzung zwischen Kommunisten einerseits und faschistischen Kämpfern andererseits", sagt Historiker Lutz Maeke.
Die männliche Form ist gerechtfertigt – Frauen waren in den höheren Positionen ein Ausnahme. Komplett durchgehalten werden konnte die antifaschistische Räson aber nicht. Etwa im Gesundheitswesen oder in technischen Abteilungen wurde durchaus auf belastete Experten zurückgegriffen – wenn sie sich von ihrer Vergangenheit distanzierten. Mit Sicherheit wurde dabei nicht immer so aufrichtig gesprochen wie im DDR-Fernseh-Vierteiler "Die Bilder des Zeugen Schattmann" von 1972. Sehr aufschlussreich streiten sich hier ein kommunistischer Widerstandskämpfer und ein jüdischer Künstler über die Belastungsfrage:
"Welche Nazis? Gibts nicht welche, die noch etwas Verstand behalten haben oder die wieder zur Vernunft kommen können? Und wenn es an der Front ist, vielleicht geht ihnen dort ein Licht auf. Ausgeschlossen, was?
"Du glaubst doch nicht…"
"... Auf Glauben kommts nicht an. Vielleicht hab ich Gründe. Willst du die Kranken hassen oder die Krankheit?"
Schauprozess gegen Kanzleramtschef Globke
Was als zuverlässig galt, war in Bundesrepublik und DDR sehr verschieden. Im Westen etwa haftete Menschen selbst aus dem konservativen Widerstand lange Zeit der Ruch des Verrats an. Verfolgte wurden in öffentlichen Ämtern geschnitten, frühzeitig wurden Berufsverbote gegen angebliche oder tatsächliche Kommunistinnen und Kommunisten verhängt. Wer seinen Posten in einem Ostministerium halten wollte, musste hingegen verschiedene, auch stalinistische Säuberungswellen überstehen und möglichst SED-Mitglied sein. Relevant war auch, so Maeke:
"Wer war Westemigrant, wer gehörte der SPD an, wer hat Westverwandschaft?"
Generell spielte die Bezugnahme auf die Behörden der Bundesrepublik eine große Rolle: In einem Schauprozess wurde etwa Adenauers Kanzleramtschef Globke für seine Tätigkeit als Kommentator und Verfasser von rassistischen Gesetzen verurteilt. Freilich in Abwesenheit. Sogenannte Braunbuchkampagnen sollten die hohe Elitenkontinuität skandalisieren. Die letzte lief 1968. Für Maeke ist klar, "dass man diese Kampagnen geführt hat, um nachzuweisen, wie hoch die Belastung von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in der bundesdeutschen Verwaltung war, um daraus dann abzuleiten, dass man eben der bessere und legitimiere deutsche Staat war".
Die Westbehörden ignorierten diese Vorwürfe konsequent, sagt Maekes Historikerkollege Rigoll.
"Erstaunlicherweise liegen noch kaum systematische Studien zum Wahrheitsgehalt dieser Anschuldigungen vor. Erst mit dem Wandel der Deutschlandpolitik hin zur friedlichen Koexistenz beziehungsweise neuen Ostpolitik legten sich diese Kampagnen."
Welchen Einfluss hatten Altnazis auf die Gestaltung der Zukunft?
Anders als im Zuge der 68er-Proteste im Westen wurde in der DDR nicht öffentlich über Altnazis in Behörden diskutiert. Hier hätte es sowieso weder alte noch neue Nazis gegeben, so die offizielle Haltung, die heute widerlegt ist. Und dennoch bleiben Fragen offen. Nach der Grundlagenforschung zur Vergangenheitsbewältigung wäre es für Rigoll nun an der Zeit, zu untersuchen: Was ist die Langzeitwirkung der in der alten Bundesrepublik massenhaft integrierten Rechten und Nationalisten?
"Sind sie nicht nur mit der Vergangenheit umgegangen, sondern haben auch Zukunft gestaltet? Vielleicht ohne, dass sie es wollten, vielleicht aber auch bewusst? Das ist eine Frage, die so explizit noch selten gestellt wurde. Wenn die AfD zum Beispiel sich durchaus positiv auf die Adenauer-Ära bezieht, dann kann sie sich auf Gesetze oder Praktiken oder Ideologien beziehen, die damals integraler Bestandteil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung waren, wo wir heute zusammenzucken würden. Das lag auch am Kalten Krieg, aber auch an der Präsenz dieser überdurchschnittlich nationalistischen, rechten Leute in den Institutionen."