Das einzige Schlupfloch
Das 1953 gegründete Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde war die erste Anlaufstelle für viele DDR-Flüchtlinge. Heute ist die Erinnerungsstätte das zentrale Museum zum Thema Flucht und Ausreise aus der DDR.
Männer in langen Mänteln, einige mit einem Hut auf dem Kopf. Mütter mit Kinderwagen. Frauen mit ihren Handtaschen. Manche Menschen haben einen Koffer bei sich. Hunderte stehen in der langen Schlange. Sie strömen auf einen kleinen Eingang zu. Darüber in Großbuchstaben die Aufschrift "Notaufnahmelager".
Das Bild aus dem späten 50er-Jahren zeigt den Alltag im Notaufnahmelager Marienfelde im Süden Berlins. Hunderttausende Flüchtlinge aus der DDR haben solche Szenen erlebt. Maria Nooke leitet die heutige Erinnerungsstätte, die im früheren Verwaltungsgebäude untergebracht ist:
"Vor allem 1960/61 kamen ja täglich tausende Leute hier an und mussten versorgt werden. Das war also wirklich manchmal absolute Überfüllung. Die Bilder zeigen das auch sehr deutlich."
Fast 40 Jahre lang war das Notaufnahmelager Marienfelde die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge, die aus der DDR kamen. Am 14. April 1953 wurde es vom damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss eingeweiht:
"Heute ist diese Stadt das enge Tor, durch das Menschen in Angst, Not und Sorge in Hoffnung und Sicherheit drängen."
"Berlin war das einzige Schlupfloch für die Flüchtlinge. Man konnte von Ost-Berlin mit der S-Bahn in den Westen fahren. Und deswegen gab es hier in West-Berlin einen extrem großen Druck. Und dann hat man sich dafür entschieden, hier in Marienfelde dieses große Notaufnahmelager zu bauen, wo dann der erste Anlaufpunkt für Flüchtlinge war und wo dann auch zentral das Notaufnahmeverfahren durchlaufen werden konnte."
... sagt Maria Nooke beim Blick in die heutigen Ausstellungsräume der Erinnerungsstätte. Sie sind eingerichtet hinter großen Glasfronten im Erdgeschoss.
Mit einem Laufzettel ging man jahrzehntelang durch diese Räume: Viele Stationen mussten durchlaufen werden. Nicht nur zur ärztlichen Untersuchung und zur behördlichen Registrierung. Die Ankommenden mussten sich auch einer intensiven Befragung stellen. Hinter einigen Türen können diese Stationen auch heute nachvollzogen werden.
"Wurden Sie von der Staatssicherheit bedroht?"
Ursprünglich war das Lager für bis zu 600 Menschen ausgelegt. Doch schon kurz nach der Eröffnung musste es erweitert werde. Erst 1961 brach infolge des Mauerbaus der massenhafte Flüchtlingsstrom ab. Doch bis 1990 blieb in Berlin-Marienfelde die zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge aus der DDR, erklärt Maria Nooke:
"In den Zeiten, wo hier ein Massenandrang war, hat man natürlich darauf geachtet, dass die Zeiten, wo die Leute hier gewesen sind, knapp gehalten wurden. Das sind in der Regel ein bis zwei Wochen gewesen. Später in den 60er-, 70er-Jahren gab es auch Leute, die dann länger hier gelebt haben. Es gab einige, die dann auch ein bis zwei Jahre hier geblieben sind, aber das war nicht die Regel."
Für mehrere Monate war auch Julia Franck im Notaufnahmelager Marienfelde. Die Schriftstellerin kam Ende der 70er-Jahre mit ihrer Familie aus der DDR. Die kargen Zimmer mussten sie sich mit einer Familie aus Russland teilen. Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur schildert sie ihre Erinnerungen:
"Auf nicht mal 50 Quadratmetern zu acht zu leben, sich dabei eine winzige Küche und eine Badnische zu teilen, bedeutet: Man hat keinerlei Rückzugsort, keinerlei Intimität, keine Möglichkeit, allein zu sein und ist dabei doch unter Umständen auf eine grauenvolle Weise einsam. Denn das soziale Leben, der Austausch mit einer größeren sozialen Umgebung beginnt noch nicht."
Nach der Wende und der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurden die Gebäude einige Jahre weiter genutzt als zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler. Seit Dezember 2010 ist hier ein Übergangswohnheim für Flüchtlinge und Asylbewerber.
Die Idee zu einer Erinnerungsstätte für das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde hatten frühere Flüchtlinge und Mitarbeiter des Lagers, die nicht einfach die jahrzehntelange Geschichte des Ortes wegschließen und vergessen wollten. Die Ausstellung wurde schließlich mit Hilfe der Bundesregierung ausgebaut und ist heute Teil der Stiftung Berliner Mauer.