Ein indischer Doktorand und die Faszination Merkel
Die Kanzlerin und ihr halbes Kabinett sind zu Besuch in Indien. Das interessiert nicht nur die indische Wirtschaft, sondern auch Jagdish Rajpurohit: Der Politikwissenschaftler schreibt an einer Doktorarbeit über Angela Merkel - weil er ihre Effektivität bewundert.
Jagdish Rajpurohit kann sein Forschungsobjekt aus dem Stand mit wenigen Worten beschreiben, auch wenn seine Doktorarbeit über Angela Merkel am Ende vermutlich viele Seiten füllen wird.
"Sie ist standfest, effektiv, fokussiert und zielstrebig. Aber ihre öffentlichen Auftritte sind - verglichen mit unserem Premierminister Modi - dürftig. Wir in Indien glauben ja, dass ein guter politischer Führer auch ein hervorragender Redner sein muss. Wir glauben, dass sich Führung vor allem auf der großen Bühne und in der Öffentlichkeit zeigt. Merkel ist anders. Sie ist keine großartige Rednerin. Sie arbeitet ergebnisorientiert. Aber das ist auch Führung."
Führungsqualitäten und Visionen
Warum ist die spröde Atomphysikerin aus Ostdeutschland politisch erfolgreich? Das ist die Frage, die Jagdish fasziniert.:
"In der Euro-Krise wurde Merkel ja sehr kritisiert. Ich erinnere mich an ein Titelbild, das sie mit dem Hitler-Schnurbart zeigte. Aber sie hat Führungsqualitäten gezeigt. Und heute ist die Euro-Zone dabei, sich zu erholen. Ihre Effektivität hat mich förmlich dazu gezwungen, über Angela Merkel zu forschen."
Doch sein Bild von der effektiven deutschen Kanzlerin hat erste Kratzer bekommen. Der 28-jährige Doktorand aus Neu-Delhi steht noch ganz am Anfang seiner Forschung - und Europas Umgang mit Flüchtlingen und Migranten liefert ihm ständig neue Nahrung:
"Wenn es um Europa und die europäische Integration geht, halte ich Angela Merkel für eine Visionärin. Aber wenn es um die großen globalen Themen geht, hinkt sie hinterher."
Der junge Inder fragt sich, wo die effektive Führung der Kanzlerin war, bevor der Krieg in Syrien ausgebrochen ist:
"Angela Merkel hat ihren Anteil daran. Wenn das Haus deines Nachbarn brennt, darfst du nicht schlafen. Denn als Nächstes bist du selber dran. Wir sehen nur die aktuelle Flüchtlingskrise. Wir gucken nicht auf die Instabilität der Region, die der Krise vorausgegangen ist. Es gab in dieser Region den globalen Krieg gegen den Terror. Wo war da die Führung?"
Rat von der betreuenden Professorin
Jagdish forscht an der renommierten Nehru-Universität in Delhi. Seine Doktorarbeit wird von Ummu Salma Bava betreut. Die Professorin zählt zu den besten Deutschland- und Europa-Kennern Indiens. Seit 2011 ist sie Trägerin des Bundesverdienstkreuzes:
"In der Euro-Krise wurde Merkel dafür kritisiert, zu langsam zu entscheiden. Sie wirkte kalt und distanziert. Jetzt hat sie menschlich gehandelt, sie hat emotional auf ein menschliches Problem reagiert. Und sie wird erneut kritisiert, weil es immer leichter ist zu attackieren als zu führen."
Für ihren Doktoranden Jagdish hat Professor Bava ein Forschungsstipendium in Berlin besorgt. Sie gibt ihm eine Frage mit auf den Weg, die in ihren Augen die "Alles-oder-nichts-Frage" ist – für die Kanzlerin und für die Europäische Union:
"Merkel hat auf ihr Herz gehört, aber ihre Kritiker werfen ihr vor, wirtschaftlich und politisch eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, die Europa an den Rand des Abgrunds bringt. Also was tust du: Hörst du weiter auf dein Herz oder wirst du wieder die kühle, distanzierte Kanzlerin?"