Was kann und was soll die EU tun, um Nationalismus und Demokratie-Skepsis der polnischen Regierung zu begegnen? Was kann die Rolle der deutschen Politik und der deutschen Zivilgesellschaft in diesem Zusammenhang sein? Hat Deutschland genug für die Aussöhnung mit dem Nachbarn im Osten getan?
Es diskutieren:
Basil Kerski, Leiter des Europäischen Solidarność-Zentrum Danzig
Bartosz T. Wieliński, Außenpolitik-Chef der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza
Dagmara Jajeśniak-Quast, Leiterin des Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt / Oder
Über Grenzen in Europa
55:00 Minuten
Deutschland und Polen haben eine lange gemeinsame Grenze. Wirklich nah sind sich die Nachbarn im vereinigten Europa nicht. Das Erstarken von Nationalisten und Rechtspopulisten jenseits von Oder und Neiße hat die Beziehungen nicht gerade vereinfacht.
Die gegenwärtige Regierung in Warschau warnt vor einem erneut übermächtigen Deutschland. Und sie diskutiert über Reparationen, die Deutschland Polen nach dem Zweiten Weltkrieg verweigert habe. Das lässt sich als Versuch interpretieren, mit Geschichte Stimmung zu machen und sie für politische Interessen zu instrumentalisieren. Bei vielen Polen fallen derartige Thesen auf fruchtbaren Boden.
Denn das kollektive polnische Trauma durch den deutschen Überfall und das Besatzungsregime der Nationalsozialisten hat auch 75 Jahre nach Kriegsende noch Spuren hinterlassen. Daran hat selbst die gemeinsame Mitgliedschaft Polens und Deutschlands in der Europäischen Union und in der NATO nicht viel ändern können. Beide Seiten müssten lernen - "wie in einer normalen Beziehung" - sensibel und selbstbewusst miteinander umzugehen, sagt Dagmara Jajeśniak-Quast, Professorin an Europa-Universität Viadrina, Frankfurt / Oder.
Fremd geblieben trotz eines engen Netzwerks
Offene Grenzen, reger Handel und die gemeinsame Verortung in Europa haben, so scheint es manchmal, genauso wenig zu kultureller Nähe der Menschen in den beiden Nachbarländern geführt wie zu Sowjetzeiten die verordnete Freundschaft zwischen Polen und der ehemaligen DDR. Man ist sich vielerorts fremd geblieben.
Nach der deutschen Wiedervereinigung sah es zunächst so aus, als ob sich aus den komplizierten Nachkriegsbeziehungen eine ähnlich konstruktive und umfassende Zusammenarbeit zwischen Berlin und Warschau entwickeln könnte wie zwischen Berlin und Paris.
Es entstand ein enges Netzwerk von bilateralen Beziehungen – darunter eine deutsch-polnische Parlamentarier-Gruppe und rund 300 Städtepartnerschaften. Historisch bedingte Empfindlichkeiten und Missverständnisse aber wurden nie vollständig überwunden.
Coronakrise schafft neue Grenzen
Spätestens mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte in Warschau durch die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS, lassen die gelebten Beziehungen der Nachbarländer einiges zu wünschen übrig. Die Kooperation funktioniert allenfalls auf der praktischen regionalen Ebene reibungslos – oder funktionierte. Infolge der Coronakrise ist – zumindest vorübergehend – die vollständige Freizügigkeit im Schengenraum verloren gegangen. Auch zwischen Polen und Deutschland.
Dies mit den entsprechenden Konsequenzen: Grenzkontrollen, Lkw-Schlangen, Einreisebeschränkungen hüben wie drüben. Aber vielleicht habe die Krise auch etwas Gutes, hofft Basil Kerski, Leiter des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig. Junge Menschen sähen jetzt, dass offene Grenzen nicht selbstverständlich sind und dass man die Idee der Freizügigkeit verteidigen müsse.
Warschau entfernt sich von den Werten der EU?
Aus Brüssel und aus Berlin kommt der Vorwurf, dass die PiS-Regierung im Windschatten der Krise ihre Agenda, ähnlich wie in Ungarn einen illiberalen Staat zu konstruieren, verstärkt vorantreibt, was in vielen Hauptstädten als nicht vereinbar mit europäischen Werten begriffen wird. Verstöße gegen diese gemeinsamen europäischen Werte müssten bestraft werden, fordert Bartosz T. Wieliński, Außenpolitik-Chef der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Die Präsidentschaftswahlen am 10. Mai, an denen die PiS-Regierung trotz der Coronakrise festhalten wollte, seien unter den gegebenen Umständen "illegal".
Die Diskussion wurde in Zusammenarbeit mit der Stiftung Schloss Neuhardenberg organisiert.