Deutsch-schweizerische Spannungen

Der kleine Grenzverdruss

Ein Schild mit der Aufschrift Landesgrenze zwischen Deutschland und der Schweiz
Landesgrenze zwischen Schweizern und Deutschen: Partnerschaft mit Problemen © dpa / picture alliance / Patrick Seeger
Von Thomas Wagner · 14.06.2017
Eigentlich kommen sie gut miteinander aus, die Deutschen und die Schweizer in Konstanz. Doch viele Konstanzer sind genervt vom Einkaufstourismus der Eidgenossen - und machen sich Sorgen wegen maroder Schweizer Atomkraftwerke entlang der Grenze.
Hier der Straßenmusiker, dort die vielen Frauen und Männer, die mit prall gefüllten Einkaufstüten durch die engen Altstadt-Gassen schlendern: Alltag in Konstanz am Bodensee ganz im Süden Baden-Württembergs. Viele der Passanten pflegen allerdings einen auffälligen Zungenschlag.
"Überhaupt des Flair von Konstanz, man muss ja sonscht f Züri oder so. Ja, es ist alles günstiger hier, viel besser auf jeden Fall als in der Schweiz."
Es wird viel Schwyzerdütsch geredet in der Altstadt – kein Wunder, grenzt Konstanz doch direkt an die Schweizer Nachbarstadt Kreuzlingen. Doch neben dem mittelalterlichen Flair der mittelalterlichen Konzilstadt zieht vor allem eines die vielen Schweizerinnen und Schweizer ins deutsche Grenzgebiet: die – aus Schweizer Sicht – niedrigen Preise.
"Es kann schon die Hälfte sein… Auf jeden Fall, Dein Mittagessen heute hatte … ein Rumpsteak mit Pommes und Bier, alles zusammen waren das nicht einmal 30 Euro, da bekommt natürlich in der Schweiz das nicht …"
"Also mit meinem zusammen, ich hatte noch ein Wasser, eine Suppe... sicher in der Schweiz 50, 60 Franken und hier 30, also die Hälfte."

Das Mittagessen kostet hier nur die Hälfte

Für ein gutes Mittagessen grade mal die Hälfte dessen bezahlen, was zuhause, in der Schweiz, fällig wäre: Für Maya Suter und Michi Solenthaler aus dem Kanton Aargau hat sich der Ausflug nach Konstanz schon gelohnt. Denn: In den vergangenen Jahren hat der Schweizer Franken gegenüber dem Euro enorm an Stärke gewonnen.
Vor zehn Jahren gab’s für einen Euro noch eineinhalb Franken; jetzt liegt das Verhältnis bei fast eins zu eins – mit für jedermann sichtbaren Folgen in Konstanz: Häufig keine freien Plätze in den Parkhäusern; die meisten Autos haben Schweizer Kennzeichen. Lange Schlangen vor den Supermarktkassen; die meisten reden Schwyzerdütsch. Die Einheimischen in Konstanz reagieren darauf zuweilen …
"… sehr unentspannt. Die vernünftigen Konstanzer bleiben dann daheim, weil das dann rappelvoll ist."
"Ich denk, dass man zu manch einer Zeit, je nachdem, wo man läuft, wo man unterwegs ist, fast nur noch Schweizerdeutsch hört."
"Das regt man mich so wahnsinnig auf. Diese Schweizer, die überfallen Konstanz, kaufen hier alles leer, nehmen für jeden Euro, den sie ausgeben, einen Ausfuhrschein und gehen dann in ihr gelobtes Land, oh, mich müssen sie nicht mehr fragen, weil ich mich aufrege."

Mehrwertsteuer-Rückerstattung für die Schweizer

Nicht nur wegen des starken Kurses des Schweizer Franken ist das deutsche Grenzrevier für die Schweizer Kundschaft ein günstiges Einkaufsrevier. Hinzu kommt ein weiteres, nämliche die Sache mit dem "grünen Ausfuhrschein." Den können sich Schweizer Kunden in deutschen Geschäften ausstellen lassen – und bekommen damit faktisch die deutsche Mehrwertsteuer wieder zurück.
Will heißen: Durch die Mehrwertsteuer-Rückerstattung wird alles in Deutschland für die Schweizer nochmals um 19 Prozent billiger, die deshalb umso erfreuter mit großen Taschen und Einkaufskörben ins deutsche Konstanz eilen.
Luftaufnahme vom Münster in der Innenstadt von Konstanz.
Das Münster in der Innenstadt von Konstanz.© pa/dpa/Kästle
Doch so sehr sich etliche Konstanzer davon angenervt zeigen, so sehr freuen sich andere Konstanzer über den regen Zulauf der Schweizer:
"Die sind wahnsinnig wichtig hier bei uns, wenn wir die Schweizer wirklich nicht hätten, würden hier einige Läden zumachen."

Den Umsatz bringen die Schweizer Kunden

Denis Stadler betreibt in der Konstanzer Altstadt eine kleine Boutique – und erwirtschaftet den weitaus größten Teil ihres Umsatzes mit Kunden aus der Schweiz, wie fast alle Konstanzer Einzelhändler. Die Schweizer sind also eine wichtige Stütze der Konstanzer Wirtschafsstruktur, betont Walter Rügert, Sprecher der Stadt Konstanz:
"Wir haben eine Zahl mal genannt gekommen, die sagt: Bis zu 38 Prozent der Kunden hier in Konstanz haben einen Schweizer Pass. Es gibt aber auch Geschäfte, die machen 50 Prozent ihres Umsatzes mit Schweizer Kunden."
Manchmal auch noch mehr. Das wiederum, so Boutique-Inhaberin Denis Stadler, schafft bei so manchem ihrer Einzelhandelskollegen aber auch neue Begehrlichkeiten:
"Die Läden werden immer teurer. Die Stadt Konstanz wird immer mehr zur Luxusstadt. Wenn man jetzt in eine Bäckerei reingeht oder in ein Café … der Kuchen hat früher 2,80 Euro gekostet. Jetzt kostet er über 3 Euro. Man denkt halt, die Schweiz kommt und die bezahlen das so oder so, weil das immer noch günstiger wäre, als wenn sie in der Schweiz ihren Kaffee trinken würden."

Hohe Verkehrsbelastung

Zumindest auf die hohe Verkehrsbelastung aus Richtung Schweiz, auf die Belastung der städtischen Infrastruktur als Folge des Einkaufstourismus aus der Schweiz, hat die Stadt Konstanz mit einem ganzen Maßnahmenbündel reagiert: Park-and-Ride-Parkplätze anlegen, Shuttle-Buslinien einrichten, Zugverbindungen in die Schweiz organisieren, so Stadtsprecher Walter Rügert:
"Und wir haben in einem Stadtteil, nämlich den Stadtteil Stadelhofen, der ganz dicht an der Schweizer Grenze liegt, einen kleineren Grenzübergang geschlossen und haben den nur für den Fußgänger- und Radverkehr geöffnet, um einfach auch den Verkehr besser lenken zu können."
Was allerdings an den langen Schlangen vor den Supermarkt-Kassen und an den Staus auf den Zufahrstraßen aus der Schweiz nicht allzu viel geändert hat. Dabei ist der Einkaufstourismus noch das kleinste aller Probleme im Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn Schweiz und Deutschland.
Die Uhr eines Kirchturms in Großaufnahme, daneben weit hinten ein Flugzeug im Landeanflug vor blauem Himmel.
Ein Flugzeug im Landeanflug auf den Flughafen Zürich hinter dem Kirchturm in Hohentengen im südlichen Baden-Württemberg.© dpa / Patrick Seeger
Hohentengen, im Landkreis Waldshut: Die Gemeinde liegt direkt an der Grenze zur Schweiz. Nur wenige Kilometer entfernt: die Landebahn des Schweizer Großflughafens Zürich-Kloten.
"Da sind die Flugzeuge in ungebührender Zahl. Wir haben nach wie vor fast 80 bis 90 Prozent aller Anflüge, die auf den Flughafen Kloten landen, über unserer Gemeinde. Was wir noch zusätzlich bekommen haben die letzten Jahre, sind 20.000 Starts, die ganz, ganz dicht vor der Grenze abdrehen und eine nicht mehr zu vertretene Lärmbelastung mit sich bringen."
Martin Benz ist Bürgermeister in Hohentengen. Seit Jahrzehnten kämpft er gegen den Lärm jener Jets aus allen Herren Länder, die ganz dicht über Hohentengen auf den größten Schweizer Airport einschweben.
"Sie sind rund 700 Meter über Grund. Das heißt: Wenn Sie Nachrichten hören wollen, dann müssen Sie den Fernseher vollständig aufdrehen. Beerdigungen gehen nur noch mit Mikrofon-Anlage. Die Schulen müssen im Sommer ihre Fenster geschlossen halten, weil sonst kein Unterricht mehr stattfinden kann."

Deutsche Gemeinden leiden unter Schweizer Fluglärm

Alle Interventionen haben bislang nichts genutzt: Ein geplanter deutsch-schweizerischer Staatsvertrag zur Regelung der Fluglärmfrage scheiterte; eine deutsche Rechtsverordnung enthält zwar einige Einschränkungen für Anflüge an Sonn- und Feiertagen sowie nachts. Zu einer wirklichen Entlastung betroffener deutscher Grenzgemeinden wie Hohentengen hat all dies bislang aber nicht geführt.
Bürgermeister Martin Benz ist deshalb in diesem Punkt stinkesauer auf die Behörden und Politiker in der Schweiz.
"Die Schweizer Partner sind deshalb uneinsichtig, weil sie in ihrem landesweiten Sachplanverfahren alles daran setzen, den gesamten Flugverkehr von und nach Zürich über fremdes Staatsgebiet führen zu wollen. Und das kann nicht sein."
Doch neben dem Fluglärm gibt es noch weiteren Krach zwischen den Schweizer und den deutschen Nachbarn.
"Ich habe deutsche Freunde in der Schweiz, ich mag die Deutschen. Also ich denke, dass man hier profitieren kann: Die Deutschen gehen arbeiten, die Schweizer gehen hier einkaufen – alles geht Hand in Hand."
Liebevoll sanierte Hausfassaden, gut gefüllte Straßencafés: Die Fußgängerzone der Stadt Waldshut am Hochrhein, gut 20 Kilometer westlich von Hohentengen, ist seit jeher ein Ort der Begegnung zwischen den einheimischen Deutschen und den benachbarten Schweizern. Vor einer Eisdiele stehen einige Jugendliche in Lederjacken – und sprechen über ein brisantes Thema:
"Ja, so ein Atomkraftwerk sieht man schon, wenn man von Waldshut nach Säckingen fährt, auf der linken Seite."
Tatsächlich: Drei der fünf Schweizer Kernkraftwerke stehen direkt in Grenznähe zum deutschen Landkreis Waldshut; wer westlich von Waldshut über den Rhein schaut, blickt direkt auf die Kühltürme der Schweizer Atomanlage Leibstadt.
"Ich höre immer wieder so Gerüchte, dass mit den Atomkraftwerken was nicht stimmt, dass irgendetwas ausgefallen ist."

Angerostete Brennelemente-Hüllen

Und tatsächlich: Im nahegelegenen Kernkraftwerk Leibstadt sind einem Untersuchungsbericht zufolge die Hüllrohre der Brennelemente angerostet.* Und das rund 20 Kilometer entfernte Schweizer Kernkraftwerk Beznau gilt als dienstältestes Atomkraftwerk der Welt.
All dies sorgt auf deutscher Seite nicht eben für ein Höchstmaß an Vertrauen in die eidgenössische Atom-Technologie. Und dann liegen da noch die Schweizer Pläne zum Bau eines radioaktiven Endlagers auf dem Tisch:
"Das ist ein weiteres großes Thema von uns: Man will in einer Entfernung von 650 Metern von unseren Wohnbaugebieten entfernt eine Oberflächenanlage installieren. Dieser Standort wird als potentieller Standort gehandelt. Und auch das ist für uns völlig unakzeptabel."
So der Hohentengener Bürgermeister Martin Benz. Ärger über Einkaufstourismus, Ärger über Fluglärm, Ärger über die Atomanlagen der Schweiz, die direkt an der Grenze zu Deutschland stehen: All dies spricht nicht unbedingt für ein gutes nachbarschaftliches Miteinander zwischen Schweizern und Deutschen.
Ansicht des schweizerischen Atomkraftwerks Leibstadt am Hochrhein von der deutschen Seite (Kreis Waldshut) aus. 
Ansicht des schweizerischen Atomkraftwerks Leibstadt am Hochrhein von der deutschen Seite (Kreis Waldshut) aus. © picture alliance / Rolf Haid
Doch genau dieser Eindruck trügt, betont Martin Benz.
"Das Miteinander wird überhaupt nicht getrübt durch diese Themen. Wir haben hier sachliche Differenzen, die können wir ansprechen. Auf Gemeindeebene wird zwar schon mal auch kontrovers diskutiert, aber in gutem Miteinander. Will aber heißen, dass wir trotz dieser Themen eine ganz hervorragende Freundschaft pflegen."
"Für die Wirtschaft gut. Menschlich läuft es zwischen den Schweizern und Deutschen ziemlich gut."
"Ich bin Alemanne, ich bin Schwabe – wir sind alle eins."
"Ich habe keine Probleme. Dort, wo ich gearbeitet habe, in dem Betrieb, also die EDV-Abteilung, das waren alles Konstanzer. Ich habe auch einen deutschen Schwiegersohn."

Grenzüberschreitende Infrastruktur-Projekte

Seien es nun die Waldshuter, die Konstanzer oder die Schweizer, die in der Konstanzer Altstadt flanieren: Trotz aller Probleme sprechen die meisten von einem gut nachbarschaftlichen Verhältnis entlang der deutsch-schweizerischen Grenze. Hinzu kommen viele grenzüberschreitende Infrastruktur-Projekte, die, so Walter Rügert, Sprecher der Stadt Konstanz, seit Jahr und Tag problemfrei funktionieren:
"Nehmen wir das Thema Gasversorgung: Die beiden Städte Konstanz und Kreuzlingen beziehen ihr Gas ja aus denselben Leitungen. Dann gibt es eine Wassernotversorgung: Die beiden Städte können sich gegenseitig bei Bedarf in ihrer Trinkwasserversorgung unterstützen. Dann gibt es die Abwasserbeseitigung: Die Kreuzlinger klären ihre Abwässer in der Kläranlage Konstanz. Wir haben eine grenzüberschreitende Buslinie. Letztlich haben beide Partner, diesseits und jenseits der Grenze, Vorteile der Kooperation."
… die zwar auf Gemeindeebene in der Regel gut funktioniert, auf überregionaler Ebene, wenn es um die großen politischen Themen wie Fluglärm, Atomkraftwerke oder Atommüll-Endlager geht, aber eher nicht. So sieht es jedenfalls, mit ein paar Sorgenfalten auf der Stirn, Frank Hämmerle, Landrat im Landkreis Konstanz:
"Zu den Kantonen unserer Nachbarn – Thurgau, Schaffhausen,– tolles Verhältnis! Aber sobald es eskaliert, auf die Bundesebene in der Schweiz oder Außenpolitik bei uns, da spielen knallharte Interessen eine Rolle, da spielt diese freundschaftlich-nachbarschaftliche Herzensliebe keine Rolle mehr, sondern da geht um große Politik. Und da läuft es nicht richtig gut."
möglicherweise deshalb, weil die Akteure dieser "großen Politik" eher in den Hauptstädten Bern und Berlin zuhause sind und damit kein Gespür haben für das deutsch-schweizerische Miteinander entlang der Grenze.
Vielleicht wäre es kein Fehler, die Akteure dieses Miteinanders vor Ort in Zukunft mehr zu Wort kommen zu lassen -.auch bei der Klärung der "großen" politischen Fragen wie Atomkraft und Fluglärm-Staatsvertrag, glaubt der Konstanzer Landrat Frank Hämmerle:
"Eins ist doch klar: Die Probleme, die uns hier drücken, die sind in Berlin weit, weit weg. Deswegen sollten wir dort noch besser mit eingebunden werden. Und ich bin auch der Überzeugung, dass wir auf dieser grenznahen nachbarschaftlichen Ebene bessere Lösungen finden könnten, wie wenn die Metropolen in Bonn und Berlin entscheiden."
*) Wir haben einen Fehler in der früheren Fassung korrigiert, indem wir einen Halbsatz gestrichen haben.