Beide Seiten sollten Gang herunterschalten

Gauck regt sich über die Einschränkung der Pressefreiheit auf, Erdogan über die Einmischung in seine Politik. Der Streit zwischen dem deutschen Bundespräsidenten und dem türkischen Ministerpräsidenten wird zu heftig geführt, sagt Susanne Hüsten in ihrem Wochenkommentar.
Auslandsreisen deutscher Bundespräsidenten setzen normalerweise keine bedeutsamen politischen Akzente. Beim Staatsbesuch von Joachim Gauck in der Türkei diese Woche war das anders. Gauck kritisierte öffentlich und mit deutlichen Worten jene Fehlentwicklungen, mit denen die Türkei seit Monaten Schlagzeilen macht: Sperrung von Twitter und YouTube, Einschränkungen der Pressefreiheit, Eingriffe in die Gewaltenteilung. Von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wurde Gauck dafür heftig kritisiert. Gauck halte sich wohl immer noch für einen Pastoren, sagte Erdogan. Die Bundesregierung wies wiederum die Kritik der türkischen Seite gegen Gauck zurück.
Erdogan selbst kritisiert Deutsche und Europäer
Beide Seiten sollten nun erst einmal einen Gang herunterschalten. Die Türkei hat keinen Grund, sich über angebliche Einmischungen oder Belehrungen der Deutschen zu beschweren. Erdogan selbst kritisiert Deutsche und Europäer regelmäßig – und zwar auch, wenn er in der Bundesrepublik zu Gast ist. Ein Beispiel von vielen ist Erdogans berühmt-berüchtigte Kölner Rede von 2008, in der er die Deutschen davor warnte, die Türken in der Bundesrepublik assimilieren zu wollen. Assimilierung sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sagte Erdogan damals. In derselben Rede kritisierte er die Türkei-Politik der Europäischen Union und beklagte, die Türkei habe vom Westen leider nicht Wissenschaft und Kunst übernommen, sondern nur die Unmoral.
Auch die deutsche Seite sollte die Angelegenheit gelassener angehen. Wenn der Bundespräsident in der Türkei die dortige Regierungspolitik als Gefahr für die Demokratie kritisiert, dann kann er nicht erwarten, dass sich die türkische Regierung dafür auch noch bedankt.
Demokratisches Mandat ist nicht anzuzweifeln
Was den Inhalt von Gaucks Kritik angeht, so hat er in vielem recht. Es war auch gut und richtig, dass er diese Kritik nicht hinter verschlossenen Türen formulierte, sondern öffentlich. Die Hinweise des Bundespräsidenten auf demokratische Defizite in der Türkei würden auch viele Türken unterschreiben.
Doch auch wenn Erdogan seit Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung im Dezember immer autoritärer agiert, ist das demokratische Mandat für seine Politik nicht weg zu diskutieren. Erst vor kurzem erhielt seine Regierungspartei AKP bei den Kommunalwahlen rund 45 Prozent der Stimmen – das ist wohl kaum ein Zeichen für eine Diktatur. Es ist eher ein Zeichen für die Schwäche und Unfähigkeit der Opposition, die Erdogans Abkehr vom Reformkurs nicht an der Wahlurne für sich nutzen kann.
Unbehagen war schon vorher zu spüren
Im Grunde hat Gauck nur die Befürchtungen und Sorgen offen ausgesprochen, die Erdogans Verhalten in Europa ausgelöst haben. Schon bei Erdogans Besuchen in Brüssel und Berlin Anfang des Jahres war das Unbehagen auf europäischer und deutscher Seite spürbar. Doch offen zu Tage getreten ist es erst bei Gaucks Besuch.
Doch wenn sich Deutschland und die EU wirklich so große Sorgen um die Türkei machen, wie sie sagen, dann sollten sie in den schleppenden EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei schleunigst jene Themen auf den Tisch bringen, um die es derzeit in Ankara vor allem geht: die Kapitel 23 und 24 in den Verhandlungen, die sich mit Grundrechten, Justiz und Rechtsstaatlichkeit befassen. In diesem Bereich müsste die Erdogan-Regierung Farbe bekennen und beweisen, wie ernst es ihr ist mit europäischen Demokratie-Normen.
Beitrittsverhandlungen als Chance
Deutschland und Europa haben also ein Instrument in der Hand, um Erdogan im Verhandlungsprozess auf europäische Standards festzulegen. Wenn sie dieses Instrument nicht nutzen, weil es irgendjemandem in Europa gerade mal wieder nicht passt, dass überhaupt mit der Türkei über einen Beitritt verhandelt wird, dann müssen sich Berlin und Brüssel tatsächlich vorwerfen lassen, immer nur zu predigen, aber nichts zu tun.
Ein Politiker wird die Europäer ganz bestimmt schon bald in deutlichen Worten und scharfer Form an diese Zusammenhänge erinnern: Recep Tayyhip Erdogan kommt am 24. Mai nach Deutschland und hält wieder eine Rede vor tausenden türkischen Anhängern. Und zwar wieder in Köln.