Can Sungu, Ömer Alkin: "Bitte zurück-spulen"
Deutsch-türkische Film- und Videokultur in Berlin
Archive Books, Berlin 2020
84 Seiten, 12 Euro
Videoabende mit Tee
08:08 Minuten
Als türkische Migranten in den 60er-Jahren nach Deutschland kamen, brachten sie ihre Filme mit: Diese schauten sie zunächst in gemieteten Kinos. Später entstand vor allem in West-Berlin eine fast vergessene Videokultur – auch dank der VHS-Kassette.
In den 1960er-Jahren kamen Hunderttausende Gastarbeiter nach Deutschland. Sie einte die Aussicht auf Arbeit – und der Wunsch nach Zerstreuung und Unterhaltung nach der Arbeit. Innerhalb der türkischen Community spielten dabei Filme, ab den 80er-Jahren vor allem türkische VHS-Filme fürs Heimkino eine große Rolle. An diese Ära erinnert das gerade erschienene, reich bebilderte Buch "Bitte zurück-spulen".
Herausgegeben hat es Can Sungu, Künstler und Kurator des Projektraums bi’bak in Berlin. Die Gastarbeiter hätten ihre eigenen Filme mit nach Deutschland gebracht, erzählt er: In München beispielsweise wurden Kinos rund um den Hauptbahnhof gemietet, um dort türkische Filme zu zeigen. "Wir schätzen, dass schon 1962/63 die ersten Kinovorführungen in München stattgefunden haben." Das erste Kino, in dem ausschließlich türkische Filme gezeigt wurden, sei das heutige Babylon-Kino in Berlin-Kreuzberg gewesen, so Sungu. Gezeigt wurden Werke der türkischen Filmindustrie: etwa Melodramen, Action- und Familienfilme.
Videoabende mit Tee
Mit dem Aufkommen der VHS-Kassette Anfang der 80er-Jahre entstanden regelrechte Videoaltäre in den Wohnzimmern der türkischen Community. Videoabende seien damals eine Alternative zum Ausgehen gewesen, schildert Sungu: beliebte soziale Events, zu denen man mit der Familie oder mit Nachbarn zusammenkam. Gemeinsam seien dann an einem Abend zwei, drei Filme angesehen worden, dazu wurden Essen und Tee serviert.
In West-Berlin entstanden auch eigene Filme für die Community. "Die Filme waren natürlich fast alle auf Türkisch, aber deutsche Charaktere waren immer wieder dabei, mal als Polizisten, mal als Nazis. Und dann haben die auch teilweise gebrochen Deutsch gesprochen."
Kassettenbasar im U-Bahnhof
Außerdem befand sich in West-Berlin ein wichtiger Ort für die Community und ihre Videofilmkultur, erzählt Sungu: Im zwischenzeitlich stillgelegten U-Bahnhof Bülowstraße bestand ein "Türkischer Basar", auf dem unter anderem Videokassetten gekauft und ausgeliehen wurden.
Mit dem Aufkommen des Satellitenfernsehens Anfang der 90er-Jahre begann das Ende dieser deutsch-türkischen Videofilmkultur. Der Band "Bitte zurück-spulen" soll an sie erinnern. "Wir leben in einer postmigrantischen, transnationalen Gesellschaft", sagt Sungu. "Das muss sich auch in der Erinnerungskultur widerspiegeln."
(jfr)