"Die Karre steckt hier wirklich im Dreck"
Das Auswärtige Amt hat ein geplantes Konzert der Dresdner Sinfoniker im Deutschen Konsulat in Istanbul abgesagt. Die Sinfoniker hatten zu dem Stück "Aghet", das die Massaker an den Armeniern thematisiert, bereits den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan eingeladen. Gerald Mertens, der Chef der Deutschen Orchestervereinigung, spricht von einem "Eklat mit Ansage".
Das Konzertprojekt "Aghet/Agith" ("Katastrophe/ Totenklage") der Dresdner Symphoniker sorgt weiterhin auf höchster politischer Ebene für Schlagzeilen. Der deutsch-türkisch-armenische Konzert-Abend umfasst drei zeitgenössische Werke und erinnert an den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren. Die Dresdner Sinfoniker wollten "Aghet/Agith" im November im deutschen Generalkonsulat in Istanbul aufführen.
Im April hatte die türkische Regierung auf EU-Ebene gegen das Konzertprojekt "Aghet/Agith" ("Katastrophe/ Totenklage") der Dresdner Symphoniker protestiert, weil darin der Völkermord an den Armeniern thematisiert wird. Konkret verlangte die Türkei, die finanzielle Förderung des Projekts einzustellen – ohne Erfolg. Am 13. November sollte das Konzert nun im deutschen Generalkonsulat in Istanbul aufgeführt werden. Doch das Auswärtige Amt hat die Aufführung abgesagt und so begründet: "Die Räumlichkeiten des Generalkonsulats in Istanbul stehen am 13. November nicht zur Verfügung".
Im Gespräch mit "Fazit"-Moderator Eckhard Roelcke äußert Gerald Mertens, dem Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, Verständnis für die Entscheidung des Auswärtigen Amtes:
Eckhard Roelcke: Können sie die Entscheidung des Auswärtigen Amtes nachvollziehen?
Gerald Mertens: Ich kann die Entscheidung des Auswärtiges Amtes aus politischen Gründen schon nachvollziehen. Man erinnert sich ja sehr gut an die großen Proteste die es aus der Türkei gegeben hatte, als der deutsche Bundestag sich mit dem Thema Völkermord an den Armeniern befasst hatte. Das hat ja für Monate für Verstimmungen gesorgt. Insofern: Wenn man jetzt mit einem Konzertprojekt nach Istanbul geht, obwohl es dann exterritorial im Generalkonsulat stattfindet, ist das natürlich auf der gleichen politischen Linie und, dass da ein Auswärtiges Amt sensibel reagiert, kann ich schon nachvollziehen.
Roelcke: Es gibt politische Gründe, aber es gibt natürlich auch künstlerische Gründe, doch dieses Thema, den Völkermord, mit künstlerischen Mitteln auszudrücken. Das ist legitim? Das funktioniert?
Mertens: Man kann politisch komplexe auch historische komplexe Inhalte - man denke nur an die Aufarbeitung von Holocaust-Themen - natürlich mit künstlerischen Mitteln darstellen. Das hat in den vergangenen Jahren ja auch sehr eindrucksvolle Beispiele dort gegeben - also auch die Wiederaufführung von Stücken, die beispielsweise in Theresienstadt komponiert und aufgeführt worden sind. Also das, denke ich mal, ist schon ein sehr guter Ansatz, sich mit künstlerischen Mitteln auch an politisch heikle Themen ranzumachen. Nur, wenn das dann in der Türkei spielt, dann muss man eben sehen, dass wir da in einem anderen Land und in einem anderen Zusammenhang sind. In Deutschland, mit der Freiheit der Kunst - Artikel 5 des Grundgesetzes schützt ja die Freiheit der Kunst – ist das eine völlig andere Rechtsgrundlage, die wir hier haben, um solche Dinge aufzuführen. Damit dann in die Türkei zu gehen, wo Sie eine solche Rechtsgrundlage nicht haben, ist dann anerkanntermaßen schwierig. Und da muss man dann auch, denke ich mal, damit rechnen, dass so etwas dann politisch torpediert wird beziehungsweise, dass auch eine türkische Regierung, die in dieser Form eingeladen wird, dann sagt, das ist eine Fortsetzung des Affronts.
Naiv oder provokant?
Roelcke: Die türkische Regierung protestiert gegen das Konzertprojekt - und was macht das Orchester? Es lädt diese Politiker zu der Aufführung ein. Was war das denn Herr Mertens, eine naive oder eine provokante Einladung?
Mertens: Ich denke mal schon, dass es eine provokante Einladung war – weil man natürlich unter den gegebenen Umständen damit rechnen muss, dass so etwas für Aufregung sorgt. Insofern kann ich das abschließen also auch gar nicht ganz einschätzen, ob man nun sagen will, das ist naiv oder eine gezielte Provokation. Auf jeden Fall bringt es das Thema noch mal auf die Tagesordnung – und die Tatsache, dass wir dieses Interview jetzt führen, spricht ja dafür.
"Ein politisch vermintes Gebiet"
Roelcke: Aus Berlin heißt es, die Einladung sei ohne Beteiligung des Auswärtiges Amtes erfolgt. Kann man sich das überhaupt vorstellen? Das lädt ein Orchester ins deutsche Generalkonsulat ein ohne Beteiligung?
Mertens: Das kann man sich schon vorstellen. Wenn also der Termin als solcher erstmal gebucht ist, klar ist, wer dort auftritt. Dass dann das Orchester selbständig tätig wird und Einladungen ausspricht, ist durchaus vorstellbar. Es ist in dieser ganz konkreten Konstellation natürlich ein politisch vermintes Gebiet. Und da genau reagiert dann das Auswärtige Amt aus meiner Sicht political correct. Man kann das auch in Gesamtzusammenhängen – also Stichwort Meinungs- und Kunstfreiheit – natürlich anders sehen. Aber das ist eben eine sehr deutsche Betrachtungsweise. Man muss hier eben dann auch die türkische Regierung und die türkische Position, die da ja eine völlig andere Situation dort im Hintergrund haben, muss man dann eben betrachten.
Roelcke: Sie sagen, Herr Mertens, ein politisch vermintes Gebiet - also könnte man das so zusammenfassen - das war ein Eklat mit Ansage?
Mertens: Eklat mit Ansage, den man aber aus meiner Sicht, zumindest aus deutscher Sicht, nicht so stehen lassen sollte, sondern ich finde, man muss das Thema auch mit künstlerischen Mitteln weiter bearbeiten.
"Kultur als Brücke"
Roelcke: Ist es denn schon mal vorgekommen, dass ein Ortchester für vergleichbare politische Schlagzeilen oder Verwicklungen gesorgt hat? Erinnern Sie sich da an irgendwelche Vorfälle?
Mertens: Wir haben natürlich immer, wenn es beispielsweise um Nordkorea ging – dass ein amerikanisches Orchester erstmalig in Nordkorea auftritt, das sind solche Akte, wo dann aber die Kultur als Brücke genutzt wird und nicht als Geschoss, wenn ich das mal so sagen darf. Also, die Brückenfunktion der Kultur ist unstreitig, und wird ja auch von der Außenpolitik als solche genutzt, das ist hier im deutsch-türkischen Verhältnis an genau dieser Stelle natürlich sehr viel schwieriger.
Roelcke: Oder Daniel Barenboim dirigiert mit einem deutschen Orchester Richard Wagner in Israel.
Mertens: Auch so etwas hatten wir schon.
Roelcke: Können Sie denn als Deutsche Orchestervereinigung irgendwie vermittelnd eingreifen? Man hat ja den Eindruck, die Karre steckt ziemlich im Dreck.
Mertens: Die Karre steckt hier wirklich im Dreck. Und da haben wir auch sehr wenig Vermittlungsmöglichkeiten, weil es eben so politisch besetzt ist, also ich denke, Künstler wollen mit ihrer Kunst auf politische Missstände hinweisen. Das ist in diesem Fall sehr schwierig. Also ich sehe da im Moment auch keine weiteren Lösungsmöglichkeiten, außerhalb der Situation hier eben in Deutschland oder in anderen geschützten Räumen als Dresdner Symphoniker auf diese Thematik auch weiterhin mit künstlerischen Mitteln hinzuweisen.
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