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Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit müssen die Markenzeichen der Bahn sein. So steht es sogar im aktuellen Koalitionsvertrag. Doch die Erfahrungen zeigen: Je sensibler die Hochleistungstechnik, desto anfälliger ist sie bei Eis und Schnee. Wolf-Sören Treusch ist einen Winter lang Bahn gefahren.
Mittwoch, 22. Januar. Eine Berliner Tageszeitung frohlockt: "Da ist der Winter". Im Nordosten Deutschlands hat es in den vergangenen Tagen geschneit. Die Fahrgastinformationsanlage im Berliner Hauptbahnhof, jener blaue elektronische Anzeigekasten, der sich mittlerweile auf jedem Bahnsteig befindet, zeigt an: im Intercity nach Westerland ist in Wagen zwölf die Heizung defekt, deshalb bitte Wagen elf nutzen. Ich schaue auf den Wagenstandsanzeiger: einen Wagen elf gibt es nicht.
Mann: "Nee, ne. Das haben sie einfach hier so hingeschrieben." (ungläubiges Lachen)
Reporter: "Das ist doch jetzt ein bisschen absurd, oder?"
Frau: "Warm anziehen."
Mann: "Ja. Aber wir fahren ja mit der Deutschen Bundesbahn. Da dürfen wir nicht überrascht sein."
Das Ehepaar will nach Sylt. Eine Woche Urlaub verbringen. In die Ferien fahren sie fast immer mit der Bahn, sagen sie, auch wenn es jedes Mal mit einem Zeitrisiko verbunden sei. Wie zum Beweis kommt die Ansage, dass der Zug mittlerweile 15 Minuten Verspätung hat. Und auch wenn ich es dem Mann nicht gleich ansehe: Er kann richtig genervt sein.
Mann: "Also, ich gebe mich nicht damit zufrieden. Nun glauben Sie nicht, nur weil ich jetzt hier ruhig stehe und mit Ihnen ruhig plaudere, dass ich das alles so gelassen hinnehme. Wenn ich zurückfahre, kriege ich dann schon den Hals, und dann kriegen sie das entsprechende Email von mir."
Reporter: "Haben Sie da jemals eine Reaktion drauf bekommen?"
Mann: "Ach, überhaupt nicht. Da kriegen Sie keine Reaktion, aber ich bin meinen Ärger los. Das ist entscheidend für mich, ich kriege kein Magengeschwür." (lacht)
Ansage: "Information zu RE 5 nach Stralsund Hauptbahnhof über Berlin Gesundbrunnen: Abfahrt 7 Uhr 44. Heute circa 55 Minuten später, Grund dafür ist eine Technische Störung an der Strecke. Wir bitten um Entschuldigung."
Auslastungsquote von 25 Prozent
Auf dem Nachbargleis trifft es die potenziellen Fahrgäste noch härter. Doch sie scheinen informiert zu sein. Hier wartet niemand auf den Zug. Ein junger Mann schmunzelt. Er wartet auf den Folgezug auf unserem Gleis. Der hat jetzt natürlich auch Verspätung. Wirft ihn die um?
"Sie wirft mich nicht um, es stellen sich bloß Fragen. Ich komme gerade aus dem Erzgebirge, wo wir wirklich Schnee haben, und da waren keine Verspätungen, und hier komme ich nach Berlin, und bei drei Schneeflocken gibt es Verspätungen in Größenordnungen."
Endlich geht es los. Die Zugbegleiterin fragt ein junges Pärchen, ob sie ihnen Tee oder Kaffee bringen dürfe. Als Entschädigung. Die beiden hatten ursprünglich erste Klasse gebucht. Wagen 12. Der Wagen, in dem die Heizung defekt ist.
Ich will in Hamburg aussteigen, dann weiter nach Bremen. Die Zugbegleiterin zückt ihr Smartphone. Zwanzig Minuten Umsteigezeit, beruhigt sie mich, das schaffen Sie, wir haben doch bloß eine Viertelstunde Verspätung.
Sie ist freundlich. Vielleicht, weil sie keinen Stress hat? Der Zug ist relativ leer. In meinem Wagen sind 13 Plätze besetzt. Von 56. Das entspricht einer Auslastungsquote von knapp 25 Prozent. In den anderen Wagen ist es genauso leer. In den anderen Zügen, mit denen ich heute noch fahre, ebenso.
Eine blonde Frau hat in der einen Hand ihr Handy, mit der anderen Hand massiert sie ihre Füße. Nach der langen Wartezeit auf dem Bahnsteig habe sie immer noch Eisfüße, sagt sie. Die Frau hat in Hamburg einen wichtigen Castingtermin. Sie ist Schauspielerin. Zudem arbeitet sie als Coach. Verhilft anderen Menschen zu mehr Sicherheit und Selbstvertrauen. Fällt ihr da nicht ein Tipp für die Deutsche Bahn ein? Viele, sagt sie und lacht. Der wichtigste:
"Dieses 'Es tut uns leid', 'Wir bitten um Entschuldigung', diesen Satz, den können die sich von mir aus irgendwohin stecken. Man hat ja eigentlich dafür bezahlt, dass es so abläuft wie sie einem das versprechen. Und zusagen. Und die halten die Zusage nicht. Wenn ich mit 'nem Kunden ein Coaching habe und ich halte meine Zusage nicht, ja, der würde nicht mehr kommen, wenn ich mich nur entschuldige. Oder wenn ich jetzt aus irgendeinem Grund, weil ich jetzt zu spät ankomme, irgendeinen wichtigen beruflichen Termin erst gar nicht wahrnehmen kann. Das ist ja dann nicht nur Zeit, da gehen einem ja auch Gelegenheiten flöten."
Und in ihrem Fall wäre es jammerschade, wenn sie ihr Casting nicht rechtzeitig erreichen würde. Vielleicht produziert sie demnächst einen Werbespot.
"Für Abführtropfen, das Produkt nenne ich jetzt aber fairerweise nicht." (lacht)
"Da müssten wir eigentlich einen Helm haben"
Die Zugbegleiterin hat Recht. Mühelos erreiche ich meinen Anschlusszug in Hamburg, bin nach insgesamt drei Stunden und 21 Minuten in Bremen. Mit dem Auto wäre ich niemals so schnell.
Auf dem Bahnsteig dort: Totentanz. Ich verwickle einen Servicemitarbeiter ins Gespräch. 30 Jahre arbeite er schon bei der Bahn, sagt er, im Stellwerk, am Fernschreiber, jetzt im Kundendienst – in den letzten 14 Jahren habe er sieben Mal den Arbeitsplatz wechseln müssen. Dann erklärt er mir, der Bahnhof in Bremen sei im unternehmensinternen Ranking eine Kategorie runtergestuft worden. Das heißt: Seit Jahresbeginn gibt es kein Aufsichtspersonal mehr auf den Bahnsteigen. Das Zugpersonal muss sich selbst abfertigen.
O-Ton 12 A DB-Mitarbeiter/Fahrgast 0’21
DB-Mitarbeiter: "Ich kann manchmal aber auch Kunden verstehen, wenn die Züge Verspätungen haben, wenn irgendwelche Störungen sind oder sonst irgendwas, dann habe ich auch schon zum Chef gesagt, ich sag, da kommen wir mit unseren Mützen nicht klar, da müssten wir eigentlich ein Helm haben. Ich kann die Kunden verstehen, dass sie verärgert sind, aber da muss man durch."
Reporter: "Früher, wenn ich mit Bahnmitarbeitern gesprochen habe, haben die mir immer erzählt, dass sie stolz sind, für die Bahn zu arbeiten. Ist das so ein Begriff, der für Sie noch ne Bedeutung hat?"
DB-Mitarbeiter: "Also, nee. Ich weiß nicht, ob ich heute das wieder noch mal machen würde."
"Die Leute ärgern sich am meisten über Unpünktlichkeit". Diese Aussage von Bahnchef Rüdiger Grube geht mir durch den Kopf. 7,3 Millionen Menschen transportiert die Bahn täglich. Ist nur ein Prozent aller Züge unpünktlich, sind gleich 73.000 Menschen davon betroffen. "Dann haben Sie jeden Tag einen Haufen schlechte Geschichten über die Bahn", so Rüdiger Grube. Stimmt, denke ich. Zumal der Pünktlichkeitswert im Fernverkehr in den vergangenen drei Jahren unter 80 Prozent lag.
Früher, vor der Privatisierung, war alles besser, sagen die einen. Denke ich an früher, dann sehe ich grummelige Schalterbeamte und unfreundliche Schaffner, die niemals auf die Idee gekommen wären, mich zu fragen, ob ich gern einen Kaffee hätte. Oder ich erinnere mich an schlecht klimatisierte Sechserabteile, deren Temperatur mit dem ulkigen Drehrad niemals korrekt eingestellt werden konnte. Niemals. Jeder kennt eine Geschichte, hat eine Meinung zur Bahn. Sie polarisiert, erregt. Alles, was funktioniert, ist normal. Was nicht klappt, ein Skandal.
"Die Bahn lernt aus ihren Fehlern seit 1835"
Regelmäßig im November informiert die Bahn neuerdings die Öffentlichkeit, wie sie sich auf den kommenden Winter vorbereitet hat. Zum Beispiel bei einem Ortstermin im ICE-Werk Berlin-Rummelsburg. Lutz Steffen Hering, Qualitätsbeauftragter der Deutschen Bahn für die Region Nordost, muss die Besucher beim Spaziergang über die Gleise immer wieder ermahnen. Er zeigt ihnen eine Weichenheizung.
"Ja, die mögliche Temperatur ist natürlich witterungsabhängig schaltbar – nicht da rein treten bitte! Das heißt bei sehr tiefen Temperaturen kann ich die Temperatur der Weichenheizung hoch regeln und umgekehrt. Wichtig ist immer, und deshalb haben wir es jetzt auch schon gemacht, wo unter null Grad in diesen Nächten erwartet werden, dass die rechtzeitig eingeschaltet wird. Können Sie sich vorstellen: so ein großes Stahlteil braucht ja auch eine gewisse Vorwärmzeit."
Wie ein Schlauch schmiegt sich der Heizungsstab an die Backenschiene an. Vier von fünf Weichen im gesamten Bundesgebiet werden mittlerweile auf diese Art beheizt. Ein Teil von ihnen sei zusätzlich mit so genannten Verschlussfachabdeckungen ausgerüstet. Die verhinderten, dass herumfliegende Eisbrocken die Weiche beschädigten. Doch am Ende, gesteht der Qualitätsbeauftragte der Bahn ein, würden auch die besten Sicherungssysteme im Winter an ihre Grenzen stoßen.
"Also wenn Sie Geschwindigkeitsbereiche 200, 250, 300 Stundenkilometer erreichen, wie wir ja zwischen Frankfurt am Main und Köln fahren auf der Neubaustrecke, dann sind die Verwirbelungen hinter so 'nem Zug so groß, dass Sie eine extrem hohe Heizleistung bräuchten, um diesen Schnee sofort wegzutauen. Das bleibt also im Eisenbahnbetrieb, egal wo in Europa, immer kritisch."
Im Verwaltungsgebäude nebenan gibt es Kaffee aus silbernen Warmhaltekannen, Kekse mit und ohne Schokoladenüberzug und eine Power Point Präsentation von Ingulf Leuschel, dem Konzernbevollmächtigten der Deutschen Bahn AG für das Land Berlin.
32 Schneepflüge, 19 Bahnmotorwagen mit zusätzlicher Schneeräumtechnik, 13 Schneeschleudern, insgesamt 28.000 Mitarbeiter: Sie alle warteten nun auf ihren Einsatz. Und wenn der Ernstfall eintrete, der so genannte "schwere Wintertag", dann, so Ingulf Leuschel, habe man noch etwas Besonderes im Angebot: WIVA.
"Warten, Information, Versorgung, Alternative, zur Abdeckung der Kundenkernbedürfnisse. Wenn wir eine schwierige Situation bekommen, dass Kunden nicht weiterfahren können, aus welchen Gründen auch immer, dass wir sie mit Informationen versorgen, aber eben auch mit Versorgung, das heißt zu essen und zu trinken, je nach der Lage, die es dort gibt bei schweren Wetterlagen."
Die Botschaft, die er vermitteln will, ist klar: Die Deutsche Bahn ist fit für den Winter. Einen Pünktlichkeitswert von 85 Prozent? Das schaffen wir, sagt er. Vorsichtige Nachfrage der Journalistenschar: Im Jahr zuvor sei die Bahn ähnlich optimistisch in den Winter gestartet, trotzdem habe es nach dem ersten Schneefall stundenlange Verzögerungen, Chaos auf den Bahnhöfen und genervte Kunden gegeben. Lerne die Bahn nicht aus ihren Fehlern?
"Die Bahn lernt aus ihren Fehlern seit 1835. So lange fahren wir in Deutschland. Das war im letzten Jahr, da kann ich mich gut entsinnen, das war nicht nur der Schneefall, wir hatten einen ganz scharfen Ostwind. Und wir hatten schneeverwehungsähnliche Zustände schon hier in Berlin, Schnee und Eis werden den Eisenbahnbetrieb immer wieder beeinträchtigen."
Falsche Wagenreihung: Der Klassiker
Jens Homeyer, Werkschef in Rummelsburg, führt die Besucher zur letzten Station des Rundgangs, dem Herzstück im Kampf der Deutschen Bahn gegen den Winter: eine 200 Meter lange Halle, die extra verlängert worden ist, um einen kompletten Intercity-Express darin abtauen zu können. Die Enteisungsanlage ist eine von insgesamt 37 im gesamten Bundesgebiet. Im Moment ist sie leer. Kein Zug steht darin. Aus unzähligen Düsen spritzt es.
"So, jetzt hat die Anlage Volllast langsam erreicht, jetzt sehen Sie: einen richtig schönen Sprühnebel.Wir sind hier einfach mit heißem Wasser zugange, Wasser, dass das effektivste Enteisungsmittel schlechthin ist - jeder, der zuhause mal Gefriergut auftauen wollte, der weiß das. Ja, und ähnlich ist das hier tatsächlich auch, dass man den Zug einmal rein stellt und dann entsprechend später je nach Vereisungsgrad abholt."
Dienstag, 28. Januar. Mit einem Vierkantschlüssel hat Tahir Cetinkaya soeben versucht, die Toilette im Wagen der Ersten Klasse zu reparieren. Ohne Erfolg. Er lässt sie sperren. Ein Fall für die "SoKo Klo", eine Arbeitsgruppe der Bahn, die sich um die Verbesserung der Toilettensituation in den Zügen bemüht.
Der junge Mann mit den türkischen Wurzeln ist seit vier Jahren Zugbegleiter. Davor arbeitete er am Fahrkartenschalter, später will er einmal Lokführer werden. Mit Genehmigung des Konzerns begleite ich ihn von Berlin nach Leipzig. Die Bahn hat mir einen unverfänglichen Zug ausgesucht: mittags um zwölf. Da ist wenig los, kann also auch wenig passieren. Zumal mich der Winter wieder im Stich lässt: Die wenigen Tage Schnee Mitte Januar waren nur ein Strohfeuer.
Der Zugbegleiter betreut heute die Fahrgäste der ersten Klasse. Er verteilt Zeitungen und Gummibärchen und verkauft Getränke. Eine Stunde brauchen wir bis Leipzig. Die Zeit vergeht wie im Flug.
"Mir gefällt es einfach, mit den Leuten zu arbeiten. Es sind ja Menschen, und jeder Mensch ist anders, und die Situation ist jedes Mal anders. Man ist ja an der Front sozusagen, man muss halt mit klaren Karten spielen, und dann geht das auch. Wenn man mal 'ne Verspätung hat, dann muss man wirklich sagen, warum man 'ne Verspätung hat. Oder wenn irgendwas mal nicht richtig läuft, wie heute zum Beispiel die verkehrte Wagenreihung, muss man halt sagen: Ja, war ein kleiner … im Betriebsablauf ein kleiner Fehler, was aber jetzt nicht großartige Auswirkungen auf unseren Betriebsablauf hier hat."
Die falsche Wagenreihung: längst der Klassiker in der Rubrik "Pleiten, Pech und Pannen". Auf meinen Fahrten durch Deutschland erlebe ich jeden zweiten Zug so. Die Konzernleitung hat das Thema ganz oben auf die Agenda gesetzt. Mich interessiert jedoch viel mehr, wie Tahir Cetinkaya die Fahrgäste erlebt, wenn das Chaos am größten ist.
"Wenn wir mal gravierende Verspätung haben – mit 60 Minuten oder mit 90 Minuten, wo wir wirklich mal echt lange auf der Strecke bleiben – da haben die Leute echt eher Verständnis, weil es meistens da auch gravierende Sachen sind, Personenunfall oder so. Da haben die Leute echt Verständnis. Da sagen sie ‚Okay, das ist jetzt passiert, das kann man nicht ändern’. Die Leute werden erst sauer, wenn die mit fünf Minuten Verspätung ankommen und ihren Anschluss nicht erreichen."
"Wenn der Zug übervoll ist, da können wir nix dafür"
Freitag, 31. Januar: im Reisezentrum der Deutschen Bahn im Berliner Hauptbahnhof herrscht reger Betrieb. Elf Schalter sind besetzt. Freundlichkeit ist Trumpf. Eine Frau im modischen dunkelgrauen Pelz bekommt ihren Schaden ersetzt. Sie ist gerade in Berlin angekommen, mit zehn Minuten Verspätung, umgekehrter Wagenreihung, vor allem aber einem reservierten Sitzplatz in der ersten Klasse, den sie nicht wahrnehmen konnte, weil die Heizung dort ausgefallen war.
"Das war jetzt gerade ein bisschen viel heute Morgen. Ach, was heißt Ärger. Man ist es gewöhnt. Ich fahr relativ viel Bahn. Es ist selten wirklich entspannt. Die Regionalzüge sind regelmäßig verspätet, bei den Intercitys kommt nur ein halber Zug statt 'nem ganzen, dann hat man auch 'ne erste-Klasse-Reservierung, aber ausgerechnet der Zugteil, wo man die Reservierung hat, der kommt nicht. Es geht in 90 Prozent aller Fälle gut, würde ich mal sagen, aber die zehn Prozent sind schon ärgerlich, weil ich auch teilweise glaube: Sie wären vermeidbar.
Na ja, dass sie zum Beispiel einen hier nicht auf dem Bahnhof stehen lassen und sagen: 'Zehn Minuten Verspätung", dann wartet man acht Minuten, und dann kommt '20 Minuten Verspätung', dann wartet man noch mal acht Minuten, dann kommt 30, ich habe hier schon mal eine Stunde und zehn Minuten im Winter bei Kälte auf dem Bahnsteig gestanden. Hätten sie uns das gleich gesagt, hätte man sich ja wenigstens mal ins Warme setzen können. Solche Dinge: die sind vermeidbar."
Auf Gleis eins wartet eine Mutter mit ihrer 14-jährigen Tochter auf den Intercity 2207. Er hat fünf Minuten Verspätung. Die Mutter guckt skeptisch. Sie verlasse sich nicht mehr auf die Bahn, erzählt sie, seitdem sie ein Bewerbungsgespräch verpasst habe, weil sie vier Stunden in einem ICE festsaß. Und: wo geht es heute hin?
Frau: "Nach München, und da machen wir Zwischenstation, und dann geht es morgen nach Lech zum Skifahren.
Reporter: "Zwischenstation? Das heißt: Sie müssen nicht einen Anschlusszug bekommen."
Frau: "Nee, genau. Das ist zum Beispiel so eine Planung zu sagen 'Ich fahre ja in den Urlaub, ich möchte mich nicht stressen'. Also sitzen wir jetzt durchgängig bis München, schlafen da - und ich habe keine Lust, mitten in der Nacht auf irgendeinem Bahnhof rum zu stehen oder sonst was - und fahren morgen ganz entspannt weiter."
Dann ist der Zug da. In Windeseile steigen die Fahrgäste ein. Wer nicht reserviert hat, will noch einen der wenigen freien Plätze ergattern. Es ist Feierabendverkehr, zudem haben in Berlin die Winterferien begonnen. Salopp ausgedrückt: Der Laden brummt.
Ein junger Mann mit schwarzem Hemd und weißem Schlips hat es sich im Vorraum eines Wagens bequem gemacht. Im Schneidersitz. Der Zug ist noch gar nicht abgefahren.
Mann: "Ja, weil alle Plätze reserviert sind, und bevor ich jetzt mit drängle, setze ich mich jetzt lieber hier hin und gehe vielleicht später noch mal durch oder bleibe hier sitzen."
Reporter: "Woher wissen Sie denn, dass alle Plätze reserviert sind?"
Mann: "Weil ich öfter in dem Zug fahre, und Freitagnachmittag ist natürlich hier immer übervoll."
Reporter: "Ja, dann denke ich aber andersherum wieder: Jetzt haben Sie eine bestimmte Summe Geld ausgegeben, um hier auf 'nem kalten Flur zu sitzen, das kann es doch auch nicht sein."
Mann: "Ja, das ist richtig, da könnte man sich jetzt mit dem Schaffner anlegen, das habe ich einmal gemacht, der verwies nur auf seine Kollegen im Reisezentrum, und die meinten: 'Ja, das tut uns leid, aber wenn der Zug übervoll ist, da können wir nix dafür'."
Reporter: "Wäre ja schon ein Grund, wo man sich richtig drüber aufregen könnte, oder?"
Mann: "Könnte man. Aber zum Freitagnachmittag habe ich da keine Lust mehr.
Reporter: "Es wird hier eng zum Interviewen."
Mann: "Ja, wir werden hier nicht alleine bleiben."
Mehr als 3.000 Kilometer Dienstfahrt durch Deutschland
Ich kämpfe mich durch den Intercity. Nicht einfach. Auch die Mitarbeiterin mit dem mobilen Versorgungswagen bleibt stecken. Eine alte Dame erkundigt sich nach einem Sitzplatz. Der Zugbegleiter fragt, ob sie reserviert habe. Sie schüttelt den Kopf. "Ferienbeginn, und nicht reserviert", höre ich ihn seufzen. Der Zugbegleiter tut alles, um Sitzplätze zu finden für die Fahrgäste, die im Flur und in den Vorräumen stehen. Irgendwo las ich neulich den Satz "Der Kunde ist jetzt öfter König als früher". Stimmt. Darauf aber, dass die Bahn spontan weitere Wagen zur Verfügung stellt, hat er keinen Einfluss. Da gebe es feste Umläufe, sagt er.
"Das ist ne komplizierte Sache. Das steht schon seit Jahren fest, wie der hier heute rollt. Und dann müssen Sie hier noch unsere Ausfälle alle bedenken, und dann kommt das alles zusammen. Und dann haben Sie nüscht. So läuft det. Aber jetzt muss ich was tun. Wenn nicht, hinter Leipzig habe ich noch Zeit."
In dem Wagenvorraum, in dem der junge Mann auf dem Boden sitzt, befinden sich mittlerweile vier weitere Personen. Es ist unglaublich laut. Eine junge Frau sagt, es ärgere sie sehr, dass sie 47 Euro dafür bezahlen müsse, neben Mülleimern zu stehen. Es entspinnt sich ein Gespräch über die Frage: was passiert, wenn ein Zug überfüllt sei. Zunächst hinge das vom Zugbegleiter ab, erzählt ein Mann, das habe er selbst schon einmal erlebt.
"Die gehen natürlich auch durch und nehmen das wahr, dass der Zug überfüllt ist, das melden die dann dem Zugführer, der ist ja nun verantwortlich für die Personenbeförderung, und dann sagt der 'Aus Sicherheitsgründen können wir nicht weiter fahren, wir bitten alle die, die keine Sitzplatzreservierung haben, den Zug zu verlassen'. Dann gucken sich alle an, lachen ein bisschen, bis dann die Bundespolizei kommt und den Worten des Zugschaffners Nachdruck verleiht. Ich habe dann auch die Nerven verloren, habe zu meiner Familie gesagt: 'Kommt, lasst uns rausgehen, das hat keinen Zweck, weil der Zug ja nicht weiter fährt'."
Reporter: "Haben Sie dann dafür irgendeine Entschädigung bekommen?"
Mann: "Nein, ich hatte ja keinen Anspruch auf diesen Zug, ich hatte nur Anspruch auf Beförderung. Ja, oder nicht? Habe ich nicht Recht?"
Frau: "Ja, ja."
Reporter: "Wieso? Haben Sie es auch schon erlebt?"
Frau: "Noch nicht, dass ich aussteigen musste, aber die Antwort 'Man hat keinen Anspruch auf Sitzplatz, sondern nur Anspruch auf Beförderung', die hört man öfter. Nur die Frage ist: Warum verkaufen sie so viele Karten für die Züge, wenn sie die nicht befördern können, die Leute? Warum ist ein Freitagszug immer so voll? Obwohl sie das vorher genau wissen, dass der so voll ist. Hätten Sie ja ein paar Wagen mehr dran hängen … oder doppelten Zug oder irgendwas, aber es ist jeden Freitag das Gleiche. Kann man nicht nachvollziehen."
Das hinge aber auch damit zusammen, dass die Bahn zu wenige Züge zur Verfügung habe, erwidert der Mann. Bestellt seien sie ja, die neuen ICE-Züge.
Mann: "Na, da werden die Zusagen von der Industrie gemacht, ab 2012 werden die ICE-Züge zugeführt, und dann kommen die nicht, da haben sie als Bahn natürlich mit kalkuliert, und dann stehen sie da."
Frau: "In anderen Bereichen gibt’s dafür Vertragsstrafen. Ich denke mal, die wird es auch geben, aber ich habe noch nicht erlebt, dass die an mich weitergegeben werden."
Mann: "Gut. Da sage ich: Da haben Sie einen Punkt."
Frau: "Die werden mit Sicherheit was dafür kassieren, dass die Züge nicht zur Verfügung gestellt werden können, aber wir sehen davon nichts. Im Gegenteil: es wird dann von Jahr zu Jahr der Beitrag noch weiter angehoben."
Mann: "Ja."
Nach gut einer Stunde ist es endlich vorbei mit dem Gedrängel. Viele Fahrgäste steigen in Leipzig aus. Auf der weiteren Fahrt nach München muss niemand mehr stehen.
20 Jahre ist es her, dass sich westdeutsche Bundesbahn und ostdeutsche Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG vereinigten. Nach weit mehr als 3.000 Kilometern Dienstfahrt durch Deutschland bin ich um ein paar Vorurteile ärmer und um eine Erkenntnis reicher: in diesem Winter sind die Zugverbindungen der Deutschen Bahn in erschreckendem Maße pünktlich gewesen. Aber: Gab es überhaupt einen Winter?
Wolf-Sören Treusch:
Die Versuchsanordnung ist klar: ein gut gelaunter Reporter, nämlich ich, …
Treusch: "So, jetzt haben wir aber möglicherweise den lustigen Fall, dass mal nicht der Zug verspätet ist, sondern der Zugbegleiter."
... begibt sich auf eine Reise mit der Deutschen Bahn.
Dabei begegnete ich gut gelaunten Fahrgästen …
Mann: "Also ich habe nie Verspätung.
Reporter: "Nie?"
Mann: "Nie."
Reporter: "Sie sind der erste, der das sagt."
Mann: "Ja. Echt? Vielleicht fahre ich auch nicht so oft." (lacht)
… und nicht so gut gelaunten Fahrgästen.
Mann: "Gucken wir mal, ne, haben wir dann geguckt in diesem kleinen Pissbahnhof."
… und kann sagen: ich bin um ein paar Vorurteile ärmer und um eine Erkenntnis reicher …