Deutsche Dienststellen-Prosa
Bis in die Sprache merkt man dem Krimi "Splitter im Auge" von Norbert Horst an, dass der Polizist und Autor weiß, worüber er schreibt. In seinem Buch wird ein afrikanischer Asylbewerber für einen Mord verurteilt. Doch der Kriminalhauptkommissar hat Zweifel.
Landgericht Dortmund, Saal 17a: Ein afrikanischer Asylbewerber wird für den Mord an einer jungen Frau zu lebenslanger Haft verurteilt. Das "Spurenbild" – auf das Wort kommen wir noch zurück – ist eindeutig, und für die Beamten der Mordkommission ist die Sache damit abgeschlossen. Doch Kriminalhauptkommissar Thomas Adam, genannt Steiger, hat Zweifel. Er weiß, dass bei der Rekonstruktion des Tathergangs ein Fehler gemacht worden ist, und ermittelt gegen den ausdrücklichen Wunsch seiner Vorgesetzten weiter. Das ist die Geschichte, die Norbert Horst in seinem Kriminalroman "Splitter im Auge" erzählt: Ausgerechnet Steiger, der "abgewrackteste Bulle des gesamten Reviers", verbeißt sich nach 32 Dienstjahren noch einmal in einen Fall.
Das Wichtigste: Norbert Horst, Jahrgang 1956, ist selbst Polizist. Er ist Ende der siebziger Jahre in Dortmund Streife gelaufen, hat später in Nordrhein-Westfalen für das LKA gearbeitet und ist heute Pressesprecher der Polizei in Bielefeld. Er hat bereits drei Krimis geschrieben, "Leichensache", "Todesmuster" und "Sterbezeit", in denen er einen extrem eigenwilligen Stil entwickelt hat, dem er jetzt mit "Splitter im Auge" und einer neuen Hauptfigur noch einmal einen Feinschliff verpasst hat.
Horsts Alleinstellungsmerkmal ist der bewusste Einsatz des Jargons der "Aktenführer" und "Gruppenleiter". Das klingt dann so: Während er seinen ausgebrannten Protagonisten Steiger auf die Jagd nach einem gefährlichen Serienmörder schickt und ihn dabei gegen eine ganze Reihe von Dienstvorschriften und das "Landesbeamtengesetz NRW" verstoßen lässt, streut Horst sperrige Begriffe wie das "Spurenbild" oder den "Vollstreckungs-Haftbefehl" über den Text und streicht eine eigentlich ziemlich actionreiche Verfolgungsjagd gnadenlos auf die staubtrockene Formulierung "Täternacheile" zusammen.
Authentizität oder literarischer Selbstmord? Der Punkt ist: Norbert Horst beherrscht nicht nur die die deutsche Dienststellen-Prosa. Er besitzt darüber hinaus ein zartes Gespür für die melancholischen Abgründe der alltäglichen Polizeiarbeit, die man sonst eigentlich nur aus den amerikanischen "police procedurals" in Folge von Joseph Wambaughs Cop-Klassiker "Nachtstreife" oder semifiktionalen TV-Serien wie "The Wire" kennt.
Der Polizist, der zum Schriftsteller geworden ist, erzählt vom Regen, der nachts auf das Dach eines überheizten Dienstwagens prasselt, vom eintönigen "Rauschen und Pfeifen" des Sprechfunkgeräts, von Kollegengesprächen über "Frauen, Fußball und den Tod", von den zermürbenden Staus auf der "Scheiß-A-40" und vom dichten Verkehr auf der B1, der in Dortmund Tag für Tag mit derselben Regelmäßigkeit über die Straße rollt "mit der Wellen auf einen Strand laufen". Und darum muss man dieses Buch lesen. Es geht nicht um einen Serienkiller. Es geht um die langen, einsamen Stunden zwischen der letzten Einsatzbesprechung und dem nächsten Zugriff, in denen Thomas Adam, genannt Steiger, seine Seele verloren hat. Mehr davon!
Besprochen von Kolja Mensing
Norbert Horst: "Splitter im Auge"
Goldmann Verlag, München 2011
346 Seiten, 8,99 Euro
Das Wichtigste: Norbert Horst, Jahrgang 1956, ist selbst Polizist. Er ist Ende der siebziger Jahre in Dortmund Streife gelaufen, hat später in Nordrhein-Westfalen für das LKA gearbeitet und ist heute Pressesprecher der Polizei in Bielefeld. Er hat bereits drei Krimis geschrieben, "Leichensache", "Todesmuster" und "Sterbezeit", in denen er einen extrem eigenwilligen Stil entwickelt hat, dem er jetzt mit "Splitter im Auge" und einer neuen Hauptfigur noch einmal einen Feinschliff verpasst hat.
Horsts Alleinstellungsmerkmal ist der bewusste Einsatz des Jargons der "Aktenführer" und "Gruppenleiter". Das klingt dann so: Während er seinen ausgebrannten Protagonisten Steiger auf die Jagd nach einem gefährlichen Serienmörder schickt und ihn dabei gegen eine ganze Reihe von Dienstvorschriften und das "Landesbeamtengesetz NRW" verstoßen lässt, streut Horst sperrige Begriffe wie das "Spurenbild" oder den "Vollstreckungs-Haftbefehl" über den Text und streicht eine eigentlich ziemlich actionreiche Verfolgungsjagd gnadenlos auf die staubtrockene Formulierung "Täternacheile" zusammen.
Authentizität oder literarischer Selbstmord? Der Punkt ist: Norbert Horst beherrscht nicht nur die die deutsche Dienststellen-Prosa. Er besitzt darüber hinaus ein zartes Gespür für die melancholischen Abgründe der alltäglichen Polizeiarbeit, die man sonst eigentlich nur aus den amerikanischen "police procedurals" in Folge von Joseph Wambaughs Cop-Klassiker "Nachtstreife" oder semifiktionalen TV-Serien wie "The Wire" kennt.
Der Polizist, der zum Schriftsteller geworden ist, erzählt vom Regen, der nachts auf das Dach eines überheizten Dienstwagens prasselt, vom eintönigen "Rauschen und Pfeifen" des Sprechfunkgeräts, von Kollegengesprächen über "Frauen, Fußball und den Tod", von den zermürbenden Staus auf der "Scheiß-A-40" und vom dichten Verkehr auf der B1, der in Dortmund Tag für Tag mit derselben Regelmäßigkeit über die Straße rollt "mit der Wellen auf einen Strand laufen". Und darum muss man dieses Buch lesen. Es geht nicht um einen Serienkiller. Es geht um die langen, einsamen Stunden zwischen der letzten Einsatzbesprechung und dem nächsten Zugriff, in denen Thomas Adam, genannt Steiger, seine Seele verloren hat. Mehr davon!
Besprochen von Kolja Mensing
Norbert Horst: "Splitter im Auge"
Goldmann Verlag, München 2011
346 Seiten, 8,99 Euro