Der Bewältigungsweltmeister
Geschichtspolitische Debatten oder ideologische Grabenkämpfe wird es anlässlich des 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges hierzulande nicht geben. Denn: Die Vergangheit ist abgeheftet, archiviert, bewältigt. Oder wie es der Historiker Götz Aly formulierte: Aus dem Weltmeister des Mordens ist der Weltmeister des Gedenkens geworden.
Berlin, Pariser Platz. Ein sonniger Vormittag, die Touristen sind bereits in Scharen auf den Beinen und drängen mit ihren Rucksäcken und Kameras zwischen Bauzäunen und Kränen Richtung Brandenburger Tor. An einem Gerüst auf dem breiten Mittelstreifen sind große Tafeln befestigt mit Schwarz-Weiß-Fotos und Aufmerksamkeit heischender grellgrüner Schrift: "Vernichtungskrieg in Polen 1939". Davor haben sich ein paar Dutzend Menschen versammelt: Historiker, Mitarbeiter von Gedenkstätten, auch die polnische Botschaft hat einen Vertreter geschickt. Mit einer Ausstellung wollen sie an ein Datum erinnern, das im allgemeinen Erinnerungsrummel des Super-Gedenkjahres 2014 fast unterzugehen droht: den 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen am 1. September 1939:
"Wir erleben im Moment 75 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges eine heftige Diskussion über Geschichte in Deutschland. Nur: Diese Diskussion dreht sich um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und seiner Ursachen, wohingegen es so scheint, als sei der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, wenn ich den Begriff mal so verwenden darf, unumstritten."
Neumärker: "Also, Götz Aly hat mal gesagt, wir sind Weltmeister des Mordens und Weltmeister des Gedenkens geworden."
Der Historiker Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.
Neumärker: "Ich denke schon, dass Deutschland auf eine sehr besondere Weise mit seiner Vergangenheit umgegangen ist. Es hat lange gedauert, sehr, sehr lange. Es ist mittlerweile staatlicher Konsens, das ist auch nicht selbstverständlich, unabhängig von vielleicht einigen kritischen Stimmen. Und wir werden oft auch gefragt aus anderen Ländern: Wie ist es bei euch dazu gekommen? Wie macht ihr das?"
Das Super-Gedenkjahr 2014
Der 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen ist bei weitem nicht das einzige historische Ereignis, dessen der mutmaßliche Bewältigungsweltmeister in diesem Jahr zu gedenken hat. Nicht weniger als 74 solcher Jahrestage listet der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages für 2014 auf - wohlgemerkt eine Auswahl, die lediglich "runde" Jahrestage berücksichtigt. Darunter sind eher zweitrangige wie der 20. Jahrestag der Konstituierung des Europaausschusses des Deutschen Bundestages oder der 10. Jahrestag der Verabschiedung des Rentenversicherungsnachhaltigkeitsgesetzes. Aber auch eine ganze Reihe historisch einschneidender Daten wie der 70. Jahrestag des Attentats auf Hitler oder der Wiener Kongress 1814, der die Landkarte Europas nach den Napoleonischen Kriegen neu sortierte. Und natürlich drei Großereignisse. Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam:
Sabrow: "Wir haben in diesem Jahr die Zusammenführung von drei Ereignissen, die wir auch in eine bestimmte historische Beziehung setzen: Das ist der Erste Weltkriegs-Ausbruch, das ist der Zweite Weltkriegs-Ausbruch und das ist der 25. Jahrestag in der historischen Wende der friedlichen Revolution von 1989/90."
Dass es im allgemeinen Gedenkreigen dieses Jahres ausgerechnet um den 75. Jahrestag des Kriegsausbruchs 1939 relativ still ist, beunruhigt manche.
Sabrow: "Dahinter macht sich zunächst eine Sorge breit, dass möglicherweise der Erste Weltkrieg in seiner Erinnerung plötzlich den Zweiten Weltkrieg überlagert. Und das verbindet sich in unseren geschichtskulturellen Überlegungen ja auch immer gleich mit der Frage von Schuld und Entlastung: Könnte es vielleicht sein, dass der Run der Besinnung auf den Ersten Weltkrieg damit zu tun hat, dass er uns von der Schuld am Zweiten Weltkrieg stärker entlastet?"
Zitat: "Manchmal erinnerte er sich daran, wie er früher in einem vollen U-Bahnzug stets daran gedacht hatte, dass die Züge in die Konzentrations- und Vernichtungslager noch viel voller waren als der, in dem er sich gerade befand, und auch keine Bänke an den Seiten der Waggons angeschraubt waren."
So beginnt der Roman "Das Eigentliche" der Berliner Schriftstellerin Iris Hanika. Er erzählt die Geschichte des Archivars Hans Frambach, der im Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung arbeitet. Dort katalogisiert und erfasst er den schriftlichen Nachlass von KZ-Häftlingen. Hans Frambach ist ungefähr 50, die Zeit des Nationalsozialismus hat er nicht selbst erlebt, genauso wenig seine Freundin Graziela. Aber beide leiden an Auschwitz und an der Art, wie nach 1945 in Deutschland mit diesem monströsen Verbrechen umgegangen wurde:
//"Der Leiter der KZ-Gedenkstätte, der fragt, ob man in der neuen Abteilung der Ausstellung die Exponate über den Häftling aus den Niederlanden gesehen habe, der sei großartig, dieser neue Häftling, besser als Primo Levi.
Die eine Wiedergutmachungsinstitution vertretende Frau, die nach einem Treffen des Internationalen Auschwitz-Komitees ganz begeistert ist von den alten Leuten, die sie gerade kennengelernt hat, das sei ja die Crème de la crème der Überlebenden, sagt sie, die hätten ja alle schon Bücher geschrieben."//
Die eine Wiedergutmachungsinstitution vertretende Frau, die nach einem Treffen des Internationalen Auschwitz-Komitees ganz begeistert ist von den alten Leuten, die sie gerade kennengelernt hat, das sei ja die Crème de la crème der Überlebenden, sagt sie, die hätten ja alle schon Bücher geschrieben."//
Hanika: "Es ist eigentlich komplett autobiografisch in jeder Hinsicht, weil dieses Thema ... dass dieses Verbrechen in der Welt ist ... von dem Moment, wo mir klar wurde ... sagen wir mal mit 20, von dem Moment an hat es mich nicht mehr losgelassen. Es war eben viele Jahre lang so, dass ich alles auf dieses Verbrechen bezogen habe und quasi nichts ernst nehmen konnte, dass nicht irgendwie mitgeteilt hat, dass es sich gewahr ist, dass es dies gab."
Iris Hanika ist Jahrgang 1962 und einem größeren Publikum vor allem durch ihren Roman "Treffen sich zwei" bekannt geworden, der 2008 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises war. In ihrer Schulzeit habe sie nicht viel über den Holocaust gehört, sagt Iris Hanika. Auch sonst war in den 60er- und 70er-Jahren zwar einiges von Theorien über den Faschismus die Rede, aber wenig über dessen Opfer.
Hanika: "Ich wollte ja früher immer linksradikal sein und da ist mir dann klar geworden, dass man diesen Faschismus nicht damit erklären kann, dass sich das Kapital mit irgendwas zusammengeschlossen hat und so weiter, sondern dass es am Ende - und das ist so bei aller Politik - dass Körper kaputt gemacht werden oder verletzt werden in irgendeiner Weise, ich meine, das sieht man ja jetzt auch. Am Ende wird irgendjemand hingemeuchelt. Und dass es eben in diesen Ausmaßen war, das hat mich einfach entsetzt. Und dann ist man hilflos erstmal."
Wie ihr Alter Ego Hans Frambach kommt Iris Hanika schließlich los von Auschwitz: Bei ihm heilt die Zeit die Wunde, bei ihr ist es das Buch. Ein politisches Buch habe sie aber eigentlich gar nicht schreiben wollen.
Hanika: "Ich wollte praktisch nur die Situation darstellen, wie diese Nazizeit uns heute immer noch in ihren Krallen hat. Für jüngere Leute ist das anscheinend nicht mehr so, also das lockert sich jetzt schon, aber für meine Generation ist das auf jeden Fall so, dass das einen in den Krallen hat oder für die davor, für diese 68er natürlich noch viel mehr. Bei einer Lesung, da war eine Frau, die war geradezu ekstatisch: Es ist meine Geschichte! Das bin ja ich! Ja, was soll ich da sagen? Aber es hat was getroffen."
Auch bei der Kritik. "Das Eigentliche" brachte Iris Hanika zwei Literaturpreise ein: den Preis der Literatour Nord und den Literaturpreis der EU 2010 - trotz oder vielleicht auch wegen der eigenwilligen Form des Romans, in dem erzählende Passagen mit essayistischen wechseln. Zum Beispiel dem Kapitel "Die Hakenkreuzung": Darin beschreibt Iris Hanika die Verkrampfungen und Peinlichkeiten im Umgang mit Juden, die sich unter anderem in der wohlgemeinten Begeisterung vieler Deutschen für Klezmer-Musik ausdrücken:
"Und diese fröhliche Musik voller Schmerz erst, Scherz erst, Schmerz erst, ein Scherz, nein, ein Schmerz, den man tanzen kann! Der eine Freude wird! Plus Vergangenheitsverbrechenswiedergutmachung! Herrlich, diese fröhlichtraurige Musik! Da betreten freudetrunken, Himmlische, wir dein Heiligtum und weinen vor ebendieser Freude, denn wir haben den Schmerz wiedergefunden! Von ganzem Herzen danken wir unseren lieben Freunden, unseren lieben JÜDISCHEN Freunden, unseren lieben ermordeten JÜDISCHEN Freunden, die wir leider nicht persönlich kennen lernen durften, weil sie vorher schon ermordet und im Feuer verbrannt, unseren lieben lieben JÜDISCHEN toten Freunden dafür, die wirklich froh wirklich sein können, dass die tot schon tot schon sind, weil wir sie ansonsten glatt zu Tode lieben würden wir sie! Denn am innigsten, so spricht die Dichterin, liebt man doch die Toten, eilignüchtern, die sich nicht dagegen, Toten, dagegen nicht, die Toten, wehren können, die Toten."
Die geschichtsversessene Nation
Hanika: "Mein Verlag sitzt ja in Graz, in Österreich und die als ich denen das geschickt habe, hatte ich den Eindruck, die wissen überhaupt nicht, worum es da eigentlich geht. Die haben eben zwei Personen gelesen, dass die einen Knall haben und so weiter, hat ihnen alles gefallen, und dann war das Buch fertig und dann haben sie es den deutschen Vertretern gegeben und die haben gesagt: oioioioi und dann haben die erst kapiert, was das ist, es ist anscheinend in Österreich nicht so, dass man den ganzen Tag über seine Vergangenheit nachdenkt, sondern es ist eben ein deutsches Thema, die Österreicher haben sich da sehr gut rausgeredet als erstes Opfer und das betreiben sie anscheinend weiter."
Fast 20 Jahre lang hat Iris Hanika an "Das Eigentliche" geschrieben und so schildert das Buch auch die Wandlungen deutscher Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur in den letzten Jahrzehnten auf dem Weg von der "geschichtsvergessenen" zur "geschichtsversessenen" Nation.
Sabrow: "Wenn wir einmal den großen Rahmen spannen, haben wir nach dem Zweiten Weltkrieg mindestens drei Phasen, vielleicht vier Phasen: die erste Zeit einer wilden Vergangenheitsaufarbeitung, einer wilden Vergangenheitspolitik auch mit harten Konsequenzen für betroffene Menschen, denken Sie an Frankreich, den Umgang mit Kollaborateuren, denken Sie an die Prozesse, in Deutschland die Ausschließung belasteter Personen aus dem staatlichen Dienst, und wir haben dann nach dieser wilden Aufarbeitung oder Verarbeitung eine Phase, die wir heute nicht ganz korrekt, aber sehr plastisch mit dem Begriff der Verdrängung bezeichnen."
Beate Klarsfeld: "Ich habe Bundeskanzler Kiesinger geohrfeigt, weil ich der öffentlichen Meinung in der ganzen Welt beweisen wollte, dass ein Teil des deutschen Volkes, ganz besonders aber seine Jugend, sich dagegen auflehnt, dass ein Nazi an der Spitze der Bundesregierung steht."
Am 7. November 1968 stürmte die junge Aktivistin Beate Klarsfeld das Podium beim CDU-Bundesparteitag in der Berliner Kongresshalle, schrie "Nazi, Nazi, Nazi" und ohrfeigte den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, zwischen 1933 und 1945 NSDAP-Mitglied. Eine von vielen Aktionen, mit denen vor allem jüngere Menschen gegen die personellen Kontinuitäten in den deutschen Eliten protestierten. Das Gefühl "Die Täter sind unter uns" ließ auch nicht nach, als mit der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und dessen nach Osteuropa gerichteter Versöhnungspolitik erstmal ein anderer vergangenheitspolitischer Kurs herrschte. Endgültig zum Politikum wurde die jüngere deutsche Geschichte jedoch erst mit dem Regierungsantritt Helmut Kohls, der ein Jahrzehnt heftiger erinnerungspolitischer Kontroversen einläutete.
Eklat im Bundestag
Zur "geistig-moralischen Wende", die sich die Regierung Kohl auf die Fahnen geschrieben hatte, gehörte auch, wieder eine positive Identifikation mit der deutschen Geschichte zu ermöglichen, in der die Zeit des Nationalsozialismus nur noch als eine unter vielen Episoden erscheinen sollte. Aus diesem Grund trieb Helmut Kohl die Gründung des Bonner Hauses der Geschichte und des Deutschen Historischen Museums in Berlin voran. Dass Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 40. Jahrestag des Kriegsendes vom 8.Mai 1945 als einem "Tag der Befreiung" sprach, war ihnen nicht genug. Und in all ihren Befürchtungen bestätigt sahen sich Linke schließlich am 10. November 1988.
Jenninger: "Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen? War er nicht wirklich von der Vorsehung auserwählt, ein Führer, wie er einem Volk nur einmal in 1000 Jahren geschenkt wird?"
Anlässlich des 50. Jahrestages der damals noch "Reichskristallnacht" genannten Pogromnacht hält Parlamentspräsident Philipp Jenninger eine Rede im Bundestag. Der CDU-Politiker versucht darin die Gründe für die Faszination und die Unterstützung vieler Deutscher für den Nationalsozialismus zu ergründen. Doch Jenninger ist alles andere als ein begnadeter Rhetoriker und die Anführungszeichen, in die er im Redemanuskript den Nazijargon gesetzt hat, gehen im gesprochenen Wort verloren. Auf der Tribüne sitzen als Ehrengäste auch Überlebende des Holocaust, darunter auch die verfolgte jüdische Schauspielerin Ida Ehre, sagt der Zeithistoriker Martin Sabrow.
Sabrow: "Die Feierstunde im Bundestag geriet so zu einer akademischen Befragung nach der Sinnwelt des Fürchterlichen, nämlich des Nationalsozialismus. Fachlich hoch interessant, aber dem Anlass nicht angemessen und in dem Moment zum Eklat geworden, als Ida Ehre die Hand vor die Augen schlägt, sie, die eben noch Paul Celans Todesfuge ergreifend rezitiert hatte, hörte sich nun Jenningers Rede an, schlug die Hände vors Gesicht, und damit war die mediale Erfassung dieses Eklats eigentlich geboren."
Etwa 50 Abgeordnete von SPD und Grünen verlassen empört den Saal. Gegen Jenninger werden sofort Antisemitismus-Vorwürfe laut und dass er Hitler und den Nationalsozialismus habe verteidigen wollen. Einen Tag später tritt der Politiker von seinem Amt als Bundestagspräsident zurück.
Sabrow: "Später soll Frau Ehre mal gesagt haben, sie hatte einen Hustenanfall - das kann eine Pointe sein, muss es nicht, aber es passt in die Situation, und tatsächlich wurde Jenningers Rede später auch noch mal von Ignaz Bubis, dem Zentralratsvorsitzenden in einem anderen Kontext ganz unanstößig gehalten."
Warum also ein solcher Skandal? Einfach nur Hysterie eines Teils der Öffentlichkeit, der sich, wie der Soziologe Christian Schneider schreibt, "die Generationenmotive der 68er" zu eigen gemacht hat? Martin Sabrow:
"Ich würde nicht so weit gehen, sondern würde das eher als Indikator beschreiben für einen Bewusstseinswandel im historischen Denken, der auch befreiende Kraft hatte. Dass man plötzlich sagen konnte, also so kann man nicht über Vergangenheit reden, indem man zwar die staatlichen Lenker und ihre Mördertaten diskutiert, aber nicht das Leiden der Opfer in den Blick nimmt, nein, das möchten wir nicht."
Trendwechsel in der Erinnungskultur
Insofern stellt der vergleichsweise nichtige Anlass einer verpatzten Gedenkrede für den Potsdamer Historiker einen Meilenstein in der Geschichte der Erinnerungskultur der Bundesrepublik dar:
"Es war der Moment, in dem in Deutschland das Gedenken sich doch viel, viel stärker den Opfern zuwandte als dem Versuch, die Motivation der Täter zu ergründen. Diesen Phasenwechsel, diesen Trendwechsel beschreibt die Szene von 1988 und sie markiert damit auch den Übergang von der Bewältigung zur Aufarbeitung."
Neumärker: "Wir haben bei der Eröffnung mit 500, 700 begonnen und der Förderkreis für das Denkmal um Lea Rosh ist weiterhin bemüht, für die Erweiterung des Raums der Namen Spenden zu sammeln und je nachdem, was da an Geldern zusammenkommt, werden neue Biografien recherchiert, verfasst und produziert."
Der Historiker Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden und damit auch oberster Chef des Holocaust-Mahnmals in Berlin.
Ein 19.000 Quadratmeter großes Stelenfeld in der Nähe des Brandenburger Tors, darunter ein unterirdischer "Ort der Information", der die Verfolgung und Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs dokumentiert - aus der Perspektive der Opfer. Ausgestellt sind Zeugnisse ihrer Lebenswelt vor, während und nach der Verfolgung. Auch ein "Raum der Namen" gehört dazu. Hier sind Kurzbiografien der von den Nationalsozialisten ermordeten Juden zu hören. Bisher sind es 11.000. Doch zumindest theoretisch ist es das Ziel, allen etwa sechs Millionen Holocaust-Opfern ihre Identität in Form einer Biografie zurückzugeben. Eine Jahrhundertaufgabe.
Ein 19.000 Quadratmeter großes Stelenfeld in der Nähe des Brandenburger Tors, darunter ein unterirdischer "Ort der Information", der die Verfolgung und Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs dokumentiert - aus der Perspektive der Opfer. Ausgestellt sind Zeugnisse ihrer Lebenswelt vor, während und nach der Verfolgung. Auch ein "Raum der Namen" gehört dazu. Hier sind Kurzbiografien der von den Nationalsozialisten ermordeten Juden zu hören. Bisher sind es 11.000. Doch zumindest theoretisch ist es das Ziel, allen etwa sechs Millionen Holocaust-Opfern ihre Identität in Form einer Biografie zurückzugeben. Eine Jahrhundertaufgabe.
Neumärker: "Das werden wir wahrscheinlich nicht mehr erleben bei 3,4 Millionen bekannten Opfern und ohnehin der Frage, dass es ja da noch 2,6 Millionen namenlose Opfer gibt. Wir haben keinen Namen, wir haben nur irgendwelche Listen, wo Nummern, Zahlen von Opfern draufstehen, aber wo eben keine Biografien zu recherchieren sind."
Die zentrale Holocaust-Gedenkstätte in Deutschland, per Bundestagsbeschluss verabschiedet und von einer Bundesstiftung betrieben ist Sinnbild einer vorbildlichen Aufarbeitung der Vergangenheit geworden und mit einer halben Million Besucher pro Jahr eine der am meisten aufgesuchten Gedenkstätten des Landes. Uwe Neumärker.
Neumärker: "Es gehört mittlerweile zu einer Berlin-Reise dazu - das hätte niemand gedacht, auch einen Tag vor der Eröffnung gab es noch diese Befürchtung, und einen Tag später hatte sich das Volk dieses Denkmal erobert. Es wird immer noch Kritiker geben, es gibt immer noch Kritiker der ausschließlichen Widmung, es gibt immer noch Kritiker der künstlerischen Ausdrucksform, die Herr Eisenman gewählt hat, Kritiker gehören aber nun mal dazu und grundsätzlich glaube ich stellt das niemand mehr in Frage."
//"Jeder Ort, und derer waren viele, an dem das Verbrechen sich ereignet hatte, wurde in eine Gedenkstätte umgewandelt. Es wurde dieses Gedenken nicht mehr als eine bloß notwendige, sondern als die edelste Aufgabe des Staates angesehen, und nirgends war es ehrenvoller zu arbeiten als im Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung (...)
So war die Dunkelheit, aus der dieser Staat vor langer Zeit hervorgekrochen war, in das hellste Licht gestellt und zu seinem Eigentlichen erklärt worden, was nur logisch war, schließlich war es der Grund seiner Gründung.
Es wussten alle darum.
Es war kein Geheimnis und musste nicht diskutiert werden.
Es war wirklich das Eigentliche."//
So war die Dunkelheit, aus der dieser Staat vor langer Zeit hervorgekrochen war, in das hellste Licht gestellt und zu seinem Eigentlichen erklärt worden, was nur logisch war, schließlich war es der Grund seiner Gründung.
Es wussten alle darum.
Es war kein Geheimnis und musste nicht diskutiert werden.
Es war wirklich das Eigentliche."//
Hanika: "Nach der deutschen Einigung oder Wiedervereinigung oder überhaupt Vereinigung wurde plötzlich sehr viel gemacht, überall wo es noch einen Synagogenrest gab, wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, es wurde also permanent überall Denkmäler und alles mögliche gemacht. Das finde ich auch alles richtig, auch wenn man denkt, es ist vielleicht ein bisschen übertrieben, könnte man denken, aber es ist richtig, weil die Leute ja irgendwas machen müssen."
Das Ende der geschichtspolitischen Schlachten
Die Schriftstellerin Iris Hanika. Eigentlich hatten nicht wenige im In- und Ausland Sorgen, dass die deutsche Wiedervereinigung zu einem Wiedererstarken nationalistischer Tendenzen führen würde, wodurch Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg dann als Betriebsunfall der deutschen Geschichte aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden könnten. Stattdessen hat sich Deutschland im Gefolge der Einheit zu einem Musterland der Erinnerungskultur entwickelt, das seiner Opfer sozusagen flächendeckend gedenkt. Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas:
"Der Stiftungszweck sah von Anfang an vor, das Denkmal für die ermordeten Juden zu errichten und zu betreiben, aber zugleich war von Anfang an klar, dass dieses Deutschland gehalten bleibt, aller Opfer würdig zu gedenken, dass es unabhängig von absoluten Opferzahlen keine Opfer zweiter Klasse geben dürfe. Und es ist eine Konsequenz der Entscheidung, ein Denkmal ausschließlich den ermordeten Juden zu widmen, dass dann andere Interessensverbände oder Opfergruppen kamen und gesagt haben, auch unsere Opfer sollen zentral in dieser deutschen Hauptstadt gewürdigt werden."
Inzwischen haben auch Sinti und Roma, Homosexuelle und bald auch die Opfer der Euthanasie ihr Denkmal bzw. ihren Erinnerungsort, und es ist etwas erreicht worden, was noch vor nicht allzu langer Zeit kaum jemand für möglich gehalten hätte: einen Konsens über die Art und Weise zu erzielen, wie an den Nationalsozialismus zu erinnern sei. Geschichtspolitische Schlachten scheinen der Vergangenheit anzugehören. Der Historiker Andreas Nachama:
"Was ist da passiert? Ich glaube, es ist erst einmal so, dass die Erlebensgeneration in der öffentlichen Wahrnehmung praktisch keine Rolle mehr spielt. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Man kann heute viel offener über das sprechen, was die Generation der Groß- oder Urgroßväter gemacht hat, es geht nicht mehr um die Vätergeneration, und das gibt mehr Freiheit. Insofern rennt man heute mit Geschichtspositionen, die in den 80er-Jahren noch umstritten waren, offene Türen ein."
Für den Potsdamer Zeithistoriker Martin Sabrow steckt außerdem noch etwas anderes dahinter, dass historische Themen ihre gesellschaftspolitische Brisanz weitgehend verloren haben: Es findet gegenwärtig gar kein Streit der Ideologien oder politischen Grundpositionen mehr statt, in deren Dienst man eine bestimmte geschichtspolitische Argumentation stellen könnte:
"Wir hängen nicht mehr politischen Lagern an, wir hängen nicht mehr politischen Visionen nach, wir glauben nicht mehr an das Projekt Liberalisierung oder das Projekt Sozialismus, wir unterscheiden uns auch nicht mehr voneinander in unterschiedliche politische Richtungen, aus denen wir auf die Vergangenheit blicken, und wir fragen den Zeitzeugen nicht, ob er Sozialdemokrat ist oder Liberaler oder was immer."
"Unsere Vergangenheit ist fürs Massenpublikum kompatibel geworden. Sie ist bestens abgehangen und alle Nuancen sind von ihr abgeschliffen. Auch muss keine Rücksicht mehr genommen werden auf solche, die sie selbst erlebt, die es mit eigenen Augen gesehen haben, die entkommen sind, um zu berichten, denn solche gibt es ja kaum noch, so dass man diese unsere Geschichte nunmehr ohne Verluste in die große Geschichtenerzählmaschine einfüttern kann. (...) In Hollywood lagert sie jetzt im selben Regal wie die Römerzeit. Und wie sich kein Italiener gemeint fühlt, wenn im Film römische Soldaten irgendwen hinmetzeln, so muss sich auch kein Deutscher getroffen fühlen, wenn im Film ein Nazi einen Juden erschießt. Es sind nur Chiffren, wir sind nicht gemeint. 'Juden' und 'Nazis' sind andere Wörter für 'die Guten' und 'die Bösen' geworden, und 'die Deutschen' in diesen Filmen sind nicht wir. Wir, die wir uns diese Filme zusammen mit dem Rest der Welt anschauen, sind ganz andere und haben es - zusammen mit dem Rest der Welt - schon längst hinter uns gelassen. Es ist vorbei."
So wie Hans Frambach, der Hauptfigur aus Iris Hanikas Roman "Das Eigentliche" verspüren manche auch ein gewisses Unbehagen angesichts der wuchernden Gedenklandschaft, der plötzlich der Sinn verlorengegangen zu sein scheint: Was soll man aus dieser Vergangenheit noch lernen?
Sabrow: "Der Hintergrund des Unbehagens liegt wahrscheinlich daran, dass wir den aufklärerischen, den erobernden Impetus der Reise in die Vergangenheit verloren haben. Wir haben keine Mission mehr, die etwas zu erobern eigentlich erzwingt, sondern wir sind Teil einer kulturellen Industrie geworden, die eher sehr affirmativ geworden ist, die die Norm der Gegenwart im Grunde bestätigt und der Zeitzeuge ist das beste Beispiel dafür, und das kann zu einem Unbehagen führen, das generationell dann möglicherweise in einer nachwachsenden Welt und Bewegung dazu führt, sich von diesem Schild mit einer großen Sprengkraft befreien zu wollen und mit Nietzsche zu argumentieren, dass wir ein Übermaß an Vergangenheitsbesinnung haben und aufhören sollen, die letzten Stuckdecken zu retten, sondern stattdessen mal interessante Neubauten zu liefern."
Auf dem Weg zu einer europäischen Geschichtskultur
Auf jeden Fall - das zeigen die Veranstaltungen des "Super-Gedenkjahres" deutlich - ist die Erinnerungskultur gegenwärtig im Umbruch: Wir sind auf dem Weg zu einer europäischen Geschichtskultur. Als vor einigen Wochen in der Normandie die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des sogenannten D-Days, der Landung der Alliierten, gefeiert wurde, war selbstverständlich auch die deutsche Bundeskanzlerin dabei.
Nachama: "Es gibt Geschichtsbilder, die wir selber im Kopf haben, und es gibt Geschichtsbilder, die unsere Nachbarn im Kopf haben. Und in einem vereinigten Europa sollen eben nicht nur die Grenzen fallen, sondern sollen diese Bilder, wenn sie schon nicht sich vereinigen lassen vielleicht, aber man soll sich dessen bewusst sein, dass es da auch eine andere Blickrichtung gibt, einen anderen Blickwinkel, und ich hoffe, dass uns das mit den verschiedenen Aktivitäten, die wir in diesem Jahr haben, gelingt und ich würde einfach mal darauf setzen, dass es bei den nächsten Jahrzehnten der Erinnerung und Erinnerungsarbeit eine solche gemeinsame Perspektive aufzubauen oder eben die Multiperspektivität fest in den Köpfen derjenigen zu verankern, die hier in Europa leben."
Die gesamteuropäische Perspektive macht Martin Sabrow zufolge auch einen Teil der Charmes des Erinnerungsdatums Ausbruch des Ersten Weltkriegs in diesem Jahr aus:
"Hier ist die Möglichkeit, den Krieg als eine Geschichte von allseitiger Verblendung und allseitigem Irrtum zu erzählen, dem letztlich alle zum opfer gefallen sind, und aus dem alle am Ende die richtige Lehre gezogen haben, die dann Europäische Union heißt."
Für den Jahrestag des Zweiten Weltkriegs ist Derartiges nicht zu erwarten. Jedenfalls noch nicht. Aber immerhin wird der polnische Präsident als Gast bei einer Gedenkstunde im Deutschen Bundestag teilnehmen, und das ZDF hat anlässlich des Jahrestages eine besondere Dokumentation geplant: eine deutsch-polnische Koproduktion über den deutschen Überfall auf Polen, die am 2. und 9. September nahezu zeitgleich im ZDF und im polnischen Fernsehen gezeigt werden wird.
Ausschnitt ZDF: "Durch die Erfahrungen im KZ bin ich gereift. Ich habe viel durchgemacht, Furchtbares erlebt durch schlechte Deutsche, aber auch Gutes von guten Deutschen erfahren. Ich sagte mir, wenn Gott mich überleben lässt, setze ich mich für Aussöhnung ein, gerade mit unseren Nachbarn, den Deutschen."
Viel polnisches Leid schildert der Film aus der Perspektive von Zeitzeugen, die damals Kinder oder Jugendliche waren. Zum Beispiel der junge Marian Sobkowiak, der von den Deutschen ins KZ Sachsenhausen verschleppt wurde. Aber auch die Bereitschaft zur Aussöhnung und auf deutscher Seite ein Gefühl für historische Gerechtigkeit,
Hinz: "Im Laufe der Zeit habe ich eben diese Erfahrung gemacht, dass die Deutschen, die die Flucht geschafft haben, ja, ich möchte sagen, in gewissem Sinne beleidigt, gekränkt waren, dass Deutschland den Krieg verloren hat. Ich hatte ein ganz anderes Gefühl: Ich war glücklich, dass Deutschland den Krieg verloren hat. Denn soviel Leid hat kaum ein anderer Krieg bisher gebracht."