Deutsche Gewehre in Mexiko

Wie internationaler Waffenhandel tötet

Verschiedene Ausführungen der Maschinenpistole MP5 hängen am Firmensitz des Waffenproduzenten Heckler & Koch in Oberndorf in einem Präsentationsraum an einer Wand neben einem Firmenlogo
Waffen der deutschen Firma Heckler & Koch werden weltweit verkauft. © picture alliance / dpa / Bernd Weissbrod
Von Wolf-Dieter Vogel |
Ab dem heutigen Dienstag stehen in Stuttgart sechs Ex-Mitarbeiter des Waffenherstellers Heckler & Koch vor Gericht. Sie sollen widerrechtlich Gewehre nach Mexiko verkauft haben. Diese nutzten Polizisten 2014 beim Massaker in Ayotzinapa mit sechs Toten, 43 Studenten werden bis heute vermisst.
Iguala am 26. September 2014: Polizeisirenen heulen, Blaulichter durchdringen die Nacht, Busse mit zerschossenen Scheiben versperren den Weg. Mehrere Dutzend Studenten der pädagogischen Landschule Ayotzinapa rennen durch die Straßen der mexikanischen Provinzstadt. Sie flüchten vor Polizisten, von denen sie gerade beschossen wurden. Dann sammeln sie sich auf einer Kreuzung. Wieder fallen Schüsse. Zwei Studenten gehen zu Boden und bleiben reglos im strömenden Regen liegen. Auch Ernesto Guerrero Cano befindet sich in diesem Moment auf der Straßenkreuzung. Später kehrt er an diesen Ort zurück.
"Genau hier haben sie zwei meiner Kumpels ermordet: Daniel Solis Gallardo und Julio Cesár Ramirez Nava. Das passierte, als sie zum zweiten Mal auf uns schossen. Schon vorher verschleppten sie den Compañero Chilango, Julio Cesár Mondragón Fontes. Er wurde am frühen Morgen des nächsten Tages gefunden. Sie hatten sein Gesicht zerstört und ihm die Haut abgezogen."
Sechs Menschen sterben bei diesem Angriff von Polizisten und Söldnern der Mafiaorganisation "Guerreros Unidos" im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero. Die Beamten nehmen 43 Studenten fest und übergeben sie den Kriminellen. Seither fehlt von den jungen Männern jede Spur.
Die Eltern und Freunde der seit 2014 vermissten Studenten wissen immer noch nicht, was aus ihnen geworden ist.
Die Eltern und Freunde der seit 2014 vermissten Studenten wissen immer noch nicht, was aus ihnen geworden ist.© dpa/picture-alliance/Mario Guzman
Heute erinnern nur noch zwei Holzkreuze am Straßenrand an die blutige Nacht. Die Studenten waren von der rund eine Stunde entfernten Schule nach Iguala gekommen. Dort hatten sie mehrere Reisebusse gekapert, mit denen sie auf eine Demonstration in die Hauptstadt fahren wollten. Das ist in Mexiko nicht ungewöhnlich. Immer wieder nehmen Gewerkschafter oder linke Gruppen auf diese Weise Busse in Beschlag, um sie für ihre Aktivitäten zu nutzen. Niemand hat damals mit dieser Reaktion gerechnet.
"Sie wollten uns töten. Das war ganz eindeutig ihr Ziel. Wir waren bereits wieder auf dem Rückweg zur Lehrerschule Ayotzinapa, als sie uns stoppten. Zuerst schossen sie auf unseren Kameraden Aldo Gutiérrez. Sie trafen ihn im Hinterkopf. Wir dachten, er sei tot. Doch plötzlich sahen wir, dass Aldo sich bewegte und Blut spuckte. Dann kamen Rettungssanitäter und nahmen ihn mit."

Polizisten töteten mit deutschem Sturmgewehr G36

Dreieinhalb Jahre nach jener Nacht geht Aldo Gutiérrez` Bruder Leonel in die Rehabilitationsklinik INR im Süden von Mexiko-Stadt. Vorbei am Tor für den Rettungswagen, den Eingangskontrollen, einem Brunnen. Er läuft durch den Hof hinauf in den dritten Stock. Dort, im Zimmer 347, liegt sein Bruder.
"Sie haben ihm direkt in den Kopf geschossen. Die Kugel hat den Kopf durchdrungen und die Hälfte des Gehirns zerstört. Zunächst lag er im Koma, nun liegt er wenigstens im Wachkoma. Unser einziger Trost ist, dass er selbstständig atmet. Er sieht und spricht nicht, aber er hört uns."
Die Familie lebt in einem Dorf in Guerrero, eine gute Tagesreise von der Hauptstadt entfernt. Deshalb haben die Gutiérrez` gegenüber dem Krankenhaus ein Zimmer gemietet. Tag und Nacht ist einer der Angehörigen bei Aldo. Leonel Gutiérrez stellt sich immer wieder dieselben Fragen.
"Warum hat jemand das getan? Warum hat man ihn so zugerichtet? Wir sind alle unendlich wütend."
Er weiß, wer für die Tat verantwortlich gemacht wird: ein Polizist, der mittlerweile im Gefängnis sitzt. Aus den Ermittlungsakten geht hervor, dass der Beamte mit einem Sturmgewehr des Typs G36 der deutschen Waffenschmiede "Heckler & Koch" im Einsatz war, erklärt Rechtsanwalt Santiago Aguirre:
"Die Ermittlungen waren mangelhaft und ballistische Untersuchungen wurden nicht vorgenommen. Deshalb können wir nicht mit absoluter Sicherheit sagen, ob die Kugel in Aldos Gehirn aus einer Heckler & Koch-Waffe stammt. Außer Zweifel aber steht, dass in genau dieser Situation mit den G36-Gewehren geschossen wurde."

G36-Gewehre durften nicht in diese Region

Am Morgen nach dem Angriff finden Ermittler 38 dieser deutschen Sturmgewehre im Polizeirevier von Iguala. Auf den Straßen sind zahlreiche Patronenhülsen liegen geblieben, die für diese Waffen benutzt werden. Dabei hätten die G36 nie dorthin gelangen dürfen. Die Exportbehörden schlossen Guerrero und drei weitere Bundesstaaten explizit aus, als sie die Ausfuhr nach Mexiko genehmigten. Dennoch gelangte die Hälfte von knapp 10.000 gelieferten Gewehren in genau diese Regionen.
Warum aber mussten sechs Menschen sterben? Weshalb wurde Aldo Gutiérez schwer verletzt? Was ist mit den 43 verschwundenen Studenten passiert? Seit jener Septembernacht 2014 kämpfen Cano, Gutiérrez und andere Angehörige der Lehramtsanwärter dafür, dass ihre Fragen beantwortet werden. "Warum ermordet ihr uns", rufen sie auf Demonstrationen. Sie machen staatliche Kräfte für das Verschwinden verantwortlich.
Demonstranten in Mexiko-Stadt fordern Aufklärung im Fall der vermissten Studenten.
Demonstranten in Mexiko-Stadt fordern 2014 Aufklärung im Fall der vermissten Studenten.© afp / Hector Guerrero
Doch bis heute bleibt ihnen die die Regierung eine Antwort schuldig. Die Studenten seien in einer Bande organisiert gewesen, die mit den Guerreros Unidos im Streit gelegen habe, hieß es zunächst. Bereits vier Monate nach dem Angriff erklärt Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam den Fall für gelöst.
"Die Studenten seien entführt, ermordet und auf einer Müllhalde verbrannt worden. Die Asche hätten die Täter in den San-Juán-Fluss geworfen, erklärt der Jurist. José Luis Abarca, der Bürgermeister von Iguala, sei Mitglied der Guerreros Unios. Er habe die lokalen Polizisten angewiesen, die Studenten festzunehmen und der Bande zu übergeben. Dann hätten die Kriminellen sie getötet. Das sei die historische Wahrheit, so Murillo Karam wörtlich. 130 mutmaßlich Beteiligte, unter ihnen Abarca, werden nach dem Angriff verhaftet."
Doch die Angehörigen wollen sich damit nicht zufrieden geben. Schließlich waren auch Beamte der Bundespolizei und Soldaten im Einsatz. Außerdem hätten die Eltern zu einem Zeitpunkt Handynachrichten bekommen, als ihre Liebsten angeblich schon tot gewesen seien. Ihre Hoffnung auf die Arbeit staatlicher Ermittler geben die Angehörigen bald auf. Leonel Gutiérrez:
"Die Regierung hat kaum Fortschritte gemacht und uns sehr oft angelogen. Sie hat immer wieder Aussagen selbst dementiert. Manchmal haben die Behörden neue Informationen angekündigt, aber dann haben wir sie nie bekommen. Sie bemühen sich, den Fall in die Länge zu ziehen, damit er in Vergessenheit gerät. Wir haben keinerlei Vertrauen mehr."
Die Eltern, Geschwister und Kommilitonen fordern damals eine unabhängige Untersuchung des Falls. Zugleich nimmt der öffentliche Druck zu. Auch international wird Kritik laut. Schließlich akzeptiert Präsident Enrique Peña Nieto die Forderung. Eine von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission eingesetzte Expertengruppe recherchiert 13 Monate lang die Hintergründe des Falls.

Beteiligung von Soldaten und Bundesbeamten

Im April 2016 stellen die internationalen Experten in Mexiko-Stadt das Ergebnis ihrer Arbeit vor. In aller Deutlichkeit verwerfen sie die "historische Wahrheit" der Strafverfolger. Physikalisch sei es nicht möglich, 43 Menschen in der angenommenen Art und Weise zu verbrennen. Zudem stellen sie klar: Neben den lokalen Polizisten seien föderale und bundesstaatliche Beamte sowie Soldaten im Einsatz gewesen. Über ein gemeinsames Überwachungssystem hätten sie sich koordiniert.
Der Bericht ist ein schwerer Schlag für die mexikanischen Ermittler. Er zeigt, dass die Strafverfolger entweder unfähig oder unwillig sind, den Fall aufzuklären. Im März dieses Jahres bestätigt das UN-Menschenrechtskommissariat zudem einen seit Langem bestehenden Verdacht: Viele der Personen, die wegen des Angriffs im Gefängnis sitzen, sind gefoltert worden. Allein auf deren Aussagen basiert aber die These der Staatsanwaltschaft. Der Menschenrechtsverteidiger Abel Barrera resümiert:
"Die historische Wahrheit war der bequemste Weg, mit dem Verschwinden der 43 Studenten umzugehen. Sie reduziert alles auf einen Bürgermeister sowie ein paar Polizisten und Verbrecher, die Probleme mit drogensüchtigen, verrückten und kriminellen Jugendlichen hatten. Die Rolle anderer Kräfte wie des Militärs, der Bundespolizei, der Marine oder weiterer staatlicher Institutionen sollte nicht ans Licht kommen. Man wollte klarstellen, dass es keinerlei Intervention von höherer Stelle gab."

2318 Menschen im vergangenen Jahr in Gerrero getötet

Barrera begleitet die Angehörigen der Verschwundenen seit der Nacht von Iguala. Immer wieder kommt er in das Lehrerseminar Ayotzinapa. Auf dem Gelände der Landschule treffen sich die Geschwister, Eltern und Kommilitonen regelmäßig, um ihr weiteres Vorgehen zu planen. Bilder der verschleppten Männer und Transparente erinnern ständig an das Verbrechen.
Barrera kennt die Region wie kein anderer. Er ist in den verarmten Dörfern von Guerrero groß geworden. Er weiß, dass vielen Menschen hier nichts anderes bleibt, als Drogen anzubauen. Mehrere Banden kämpfen um Anbauflächen und Transportrouten für Opium und Marihuana, allein 2017 werden in dem Bundesstaat 2318 Menschen ermordet. Die Armee spiele dabei eine zwielichtige Rolle, erläutert der Leiter des Menschenrechtszentrums Tlachinollan:
"Das Militär beobachtet die kriminellen Gruppen, die hier um das Territorium streiten. Aber sie sind nie eingeschritten, obwohl sie eigentlich hier sind, um schwerwiegende Verbrechen einzudämmen. Also machen sie sich zu Komplizen, weil sie ignorieren, was passiert. Oder sie sind selbst Teil dieser kriminellen Struktur."
Barrera verweist auf enge Kontakte zwischen dem verhafteten Bürgermeister Abarca, einem General und der Polizei. Er hält eine Hypothese für realistisch, die bereits die Expertengruppe ins Spiel gebracht hat. In einem der gekaperten Busse könne sich Heroin befunden haben, das in die USA transportiert werden sollte. Das legen auch Textnachrichten nahe, die in Chicago ansässige Drogenbosse der Guerreros Unidos in der Tatnacht mit ihren mexikanischen Kumpanen ausgetauscht haben. So wäre zu erklären, warum Militärs, Polizisten und Abarca gemeinsam agierten. Das Vorgehen der Kriminellen sei nicht neu:
"Wir reden von einem Muster des Verschwindenlassens. Da geht es nicht nur um die 43 Studierenden. Schon vor dem Vorfall in Iguala sind Menschen verschwunden."
Im Oktober 2014, wenige Wochen nach dem Angriff, macht sich auch Mario Vergara (Wergára) auf die Suche nach seinem Bruder. Ast für Ast kämpft er sich durch das dornige Gestrüpp. Hier in den Bergen rund um Iguala müssen die Kriminellen Tomás einst verscharrt haben. Sein Bruder gehört nicht zu den Studenten. Er wurde schon Jahre zuvor verschleppt, doch die Behörden haben Vergara nie geholfen. Der 40-Jährige ist einer von zahlreichen Menschen, die sich in mehreren Bundesstaaten selbst auf den Weg gemacht haben, um das Verschwinden ihrer Angehörigen aufzuklären. Die Aufmerksamkeit um den Ayotzinapa-Fall hat sie ermutigt.
"Anfangs zogen wir mit 40, 50, ja sogar 70 Familien los. Völlig ohne Schutz. Wir haben zwar immer Sicherheitsmaßnahmen gefordert, aber man hat sie uns nicht zugestanden."
Die Angehörigen gehen zunächst mit einfachen Mitteln vor. Sie suchen nach leichten Absenkungen, auf denen die Erde locker aufliegt. Dann treiben sie eine Eisenstange mit kräftigen Hammerschlägen in den Boden und ziehen sie wieder heraus. Riecht es nach verwestem Fleisch, liegt hier ein Toter. Bald werden die autonomen Suchtrupps von Forensikern, Staatsanwälten und Polizisten begleitet. Innerhalb von drei Jahren finden sie rund um Iguala 170 Skelette. Allein während der dreijährigen Amtszeit Abarcas werden dort mehrere hundert Menschen verschleppt. Insgesamt gelten in Mexiko über 35.000 Personen als verschwunden.
Hinter einer gelben Absperrung mit der schwarzen Aufschrift "Criminalistica" sieht man eine Müllkippe mit einem in weiße Schutzkleidung gehüllten Forensiker, im Hintergrund ein bewaldeter Hügel.
Auf dieser Müllkippe wurden die Knochen eines der vermissten Studenten gefunden.© picture alliance / dpa / Rebecca Blackwell/Pool
"Lebend habt ihr sie uns genommen, lebend wollen wir sie zurück", rufen die Eltern der Studenten. Doch haben sie wirklich Hoffnung, dass ihre Söhne noch am Leben sind? Rechtsanwalt Vidulfo Rosales:
"Es gibt eine für Eltern von Verschwundenen charakteristische Haltung. Solange sie keine eindeutigen, überzeugenden, wissenschaftlich unwiderlegbaren Belege für den Tod haben, halten sie die Hoffnung aufrecht, ihre Kinder lebend zu finden. Innerhalb der großen Gruppe von 43 Eltern gibt es einige, die daran glauben und andere, die das nicht mehr tun. Aber alle müssen wissen, was mit ihren Söhnen passiert ist."

Die 43 Vermissten sind zu einem Symbol geworden

Seit dreieinhalb Jahren begleitet Rosales die Angehörigen auf Demonstrationen, Veranstaltungen und zur Staatsanwaltschaft. Einige seien mittlerweile schwer krank, sagt er.
"Sie sind ausgebrannt, haben abgenommen und sind einfach müde. Von den 43 Vätern und Müttern sind 18 schwer angeschlagen. Einige leiden inzwischen extrem an Diabetes oder Bluthochdruck. Erst im vergangenen Monat starb Minerva Bello, die Mutter von Gerardo."
Noch immer vergeht in Mexiko kein Tag, an dem nicht von den Studenten die Rede ist. Große Rockbands wie Panteón Rococo haben ein Solidaritätskonzert in der Ayotzinapa-Schule gegeben, auf unzähligen Mauern ist die Zahl 43 zu lesen, Bücher und Plakate erinnern an die Verschwundenen. Das Verbrechen habe weltweit darauf aufmerksam gemacht, dass in Mexiko täglich Menschen verschwinden, sagt der Menschenrechtler Barrera. Und es habe gezeigt, dass im Land die Straflosigkeit regiere, um Kriminelle zu schützen.
"Das Verbrechen ist eine offene Wunde, die alle Mexikanerinnen und Mexikaner schmerzt. Es hat uns alle gezeichnet. Zugleich sind die 43 zu einem Symbol für Würde geworden. Sie setzen ein Zeichen, das uns sagt: nie wieder!"
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