Wer sind "Wir"?
Manche meinen, Deutschlands kulturelle Identität müssten gegen Zuwanderer behauptet werden. David Lauer hat sich in seinem Wochenkommentar "unsere Identität" vorgeknöpft und sie kritisch hinterfragt.
Vor fast fünfzehn Jahren bemerkte der Publizist Mark Terkessidis, Debatten um kulturelle Identität stünden in Deutschland immer noch im Bann der Ideen Johann Gottfried Herders, und dies trifft auch heute noch zu. Herder ist der Autor, der das das Konzept der Kultur im Plural in die deutsche Philosophie einführte. Er pries die unaufhebbare Verschiedenheit und das Eigenrecht der zahllosen von Menschen hervorgebrachten kulturellen Lebensformen. Und er proklamierte, erst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur mache den Einzelnen zu dem, der er sei. Damit lieferte Herder schon um 1790 das Fundament des Kommunitarismus und Multikulturalismus der 1980-er Jahre. "Wo und wer du geboren bist, o Mensch, da bist du, der du sein solltest", so heißt es im neunten Buch der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.
Herders Rede vom je besonderen Charakter oder Genius der Völker wurde aber in der Folge häufig so verstanden, als schreibe er ihnen überzeitliche identitäre Wesenskerne zu, die sich gegenseitig ausschließen, und diese Vorstellung ließ und lässt sich sowohl für emanzipatorische als auch für reaktionäre politische Programme einsetzen. Letzteres ist heute der Fall, wenn argumentiert wird, der Zustrom von Flüchtlingen aus angeblich ganz anderen und daher mit unserer Lebensweise inkompatiblen Kulturen bedrohe "unsere Identität", ob nun als Deutsche, Ungarn, Franzosen oder gar als Europäer. Dankbar muss man sein für jene, die in dieser Situation klar geltend machen, dass sich "unsere" Identität in der Aufnahme der Flüchtlinge gerade verwirkliche, weshalb sie aus der Bewältigung dieser herkulischen Aufgabe auch nicht beschädigt, sondern vielmehr gestärkt hervorgehen werde: Wir schaffen das, eben weil wir wir sind.
Einwanderer sollen mitstreiten über Identität
Allerdings verbirgt der politische Gegensatz eine im Verborgenen geteilte Prämisse, nämlich eben die Vorstellung, es gebe so etwas wie einen formulierbaren Kernbestand "unserer" kulturellen Identität. Dies zeigt sich überall dort, wo die Willkommensrufe unmittelbar mit Forderungen an die Migrantinnen und Migranten verbunden werden, diese hätten sich im Gegenzug an die Leitwerte unserer Kultur anzupassen. Doch diese Forderung verbirgt ein Missverständnis dessen, was kulturelle Identität ist. Solche Identitäten existieren nur im Prozess eines nie endenden Ausgehandeltwerdens durch jene, die sich gegenseitig als Angehörige eines Kollektivs anerkennen oder um solche Anerkennung kämpfen. Manche sagen, schon Herder habe das genau so gemeint. In diesem immer wieder erneut notwendigen Prozess der Aneignung überlieferter Erzählungen, Gebräuche, Ideale und Selbstentwürfe gibt es nichts, was der radikalen Neuinterpretation prinzipiell entzogen wäre. Daher ist das Lebenselixier dieses Prozesses der Konflikt, der gesellschaftliche Streit darüber, wer wir sind.
Es ist deshalb widersinnig, einen normativen Minimalkonsens über "unsere" Identität herstellen zu wollen, um ihn den zu uns Geflüchteten als Angebot – take it or leave it – zu unterbreiten. So kann gerade das nicht gelingen, was vorgeblich das Ziel des Angebotes ist, nämlich Integration. Der einzige Weg, die Anderen zu welchen von uns zu machen, ist vielmehr, sie an dem Streit darüber, wer "wir" eigentlich sind, teilhaben zu lassen, und zwar gerade mit den Erfahrungen, Biographien und Selbstentwürfen, die sie mitbringen. Dabei setzen wir unsere ohnehin fragilen Konsense darüber, wer wir sind, der Infragestellung aus. Aber solche Infragestellung ist kein Hindernis, sie ist das Medium der Integration. Das "Wir" in dem Satz "Wir werden es schaffen" kann nur eines sein, das die Migrantinnen einschließt, wenn der Satz wahr werden soll.