Deutsche Juden in Lettland

Endstation Riga

Von Julia Smilga |
Jahrzehntelang war es in der deutschen Öffentlichkeit praktisch unbekannt: Die massenhafte Ermordung der deutschen Juden hatte im Winter 1941/42 im lettischen Riga ihren Anfang genommen. Der Historiker Margers Vestermanis, selbst Überlebender, kümmert sich intensiv um das Gedenken an die ermordeten europäischen Juden.
"Ich habe das Deutsch schon zu ersten Sowjetzeiten 1940 beinahe verlernt und vergessen. Aber leider hatte ich die Möglichkeit gehabt, mein Deutsch zu verbessern – vier Jahre in einem KZ..."
Der 90-jährige Margers Vestermanis spricht noch dieses wunderschöne altmodische Deutsch, das in Riga vor dem Zweiten Weltkrieg gepflegt wurde. Deutsch galt damals als Zeichen der Kultur in jüdischen Familien. Keiner konnte ahnen, dass die tödliche Gefahr ausgerechnet von Deutschland ausgehen würde. Ende Juni 1941 wurde Lettland von der deutschen Wehrmacht erobert. Im Herbst wurden alle 30.000 Rigenser Juden in das Ghetto verschleppt.
Einer von ihnen war der 16-jährige Margers Vestermanis mit seinen Eltern und seiner Schwester. Am 8.12. musste er von ihnen Abschied nehmen: Umsiedlung in ein anderes Lager, hieß es offiziell. In Wirklichkeit wurden alle diese etwa 26.000 Menschen in den nahen Wäldern von Riga ermordet. Die Besatzer haben das Ghetto "freigeräumt", um für deportierte Juden aus Deutschland Platz zu gewinnen. Der erste Zug aus Berlin mit etwa 1000 Insassen kam allerdings einen Tag vor der Ghettoräumung in Riga an. Wohin mit diesen Juden? Erschießen erschien den SS-Männern die einfachste Lösung:
"Noch im Morgengrauen wurden die Leute herausgetrieben. Sie hatten ein spezielles lettisches Kommando, und höchstwahrscheinlich haben diese Leute überhaupt nicht verstanden – ein fremder Ort, es ist noch dunkel, Morgengrauen, fremde Sprache, fremde Uniformen... Und die wurden dann gezwungen, zuerst den Mantel abzulegen, dann das Oberkleid abzulegen, Wertsachen in eine Kiste zu legen, die Stiefel, die Schuhe auszuziehen und rein säuberlich zusammenzubinden, damit die Schuhe nicht verloren gehen und in der Unterwäsche in die vorbereiteten Massengräber getrieben."
Alle anderen 24.000 Juden aus späteren Transporten wurden direkt in das Ghetto getrieben. Die deutschen Juden wurden dort aber nicht als willkommene Gäste gesehen, erinnert sich Margers Vestermanis:
"Unsere Frauen und Kinder hat man erschossen, um für die Platz zu machen. Aber man hat das letzte Stückchen Brot, das man ergattern konnte, den Kindern gegeben, die standen am Zaun: 'Onkelchen, Onkelchen, gibt ein Stückchen Brot.'"
Das Ghettodasein war für die meisten deutschen wie lettischen Juden allerdings nur ein kurzer Aufschub des Todes:
"Weil im März wurde eine sogenannte Dunamünde-Aktion durchgeführt. Es hieß, dass Frauen mit Kindern und ältere Leute in ein Lager gebracht werden würden namens Dünamünde, wo sie in der Wärme Netze flicken könnten. Dieses niemals existierende Dünamünde war der erste Wald in Bikiernieki."
Die UdSSR tabuisierte den Judenmord
Etwa 23.000 Opfer liegen seitdem in den Massengräbern von Bikiernieki am Stadtrand von Riga, der Großteil stammte aus Deutschland und Österreich. Margers Vestermanis überlebte als einziger seiner Familie den Holocaust. Während eines Todesmarsches floh er 1944 in die lettischen Wälder und schloss sich Widerständlern an. Nach Kriegsende studierte Vestermanis Geschichte.
Seine persönlichen Erfahrungen bewegten ihn dazu, sein Leben der Holocaustforschung in Lettland zu verschreiben. Keine einfache Aufgabe, da die Sowjetunion den Judenmord tabuisierte. Erst nach der lettischen Unabhängigkeit 1991 konnte Historiker Vestermanis das erste jüdische Museum in Riga gründen. Anfang der 90er-Jahre empfing er dort eine Delegation der deutschen Kriegsgräberfürsorge, die nach Gräbern der deutschen Kriegsgefangenen suchten:
"Wir wussten, wo es deutsche Kriegsgefangenenlager gab, da sind ja auch viele gestorben und wir haben viel geholfen und nach einigen Monaten kamen sie, sich zu verabschieden und zu bedanken: ,Wir haben das erledigtʼ."
"Um Gottes willen: die Soldatengräber − sind das die einzigen?"
Die waren überzeugt − ja!
"Und die Gräber der deutschen Bürger jüdischer Abstammung?"
"Ach, da soll die lettische Regierung dafür sorgen."
"Und da haben wir wirklich − ich war ja verhältnismäßig jünger und viel frecher, möchte ich sagen, mit viel jiddischer Chuzpe − wir haben da schrecklich Radau geschlagen. Letzten Endes hat es in beinahe allen größeren Städten, wo die Transporte, die gingen nicht nach Riga, die gingen nach Kauen und Minsk, wo sie alle sofort ermordet wurden − da wurden Städtekomitees gegründet, und die haben das Geld gesammelt, wir haben da auch mitgemacht mit unseren sehr bescheidenen Mitteln."
5.000 Stelen erinnern an die Toten
So entstand im Jahr 2000 das "Rigakomitee", ein in deutscher Erinnerungskultur einzigartiger Zusammenschluss von mittlerweile 50 Gemeinden, die an das Schicksal der aus ihren Orten nach Riga verschleppten jüdischen Nachbarn erinnern wollen. Dank der gesammelten Mittel hat das Rigakomitee im November 2001 im Wald von Bikernieki eine Gräber- und Gedenkstätte eingeweiht. Etwa 5.000 Stelen aus Granit, die an alte jüdische Grabsteine erinnern, stehen symbolisch für ermordete Juden aus Berlin, Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf, Hamburg...
Margers Vestermanis, der das Projekt ins Leben gerufen hat, durfte das Zitat für den Hauptgedenkstein aussuchen:
"Und ich habe aus dem Buch Hiob gewählt: ‚Erde, verdecke nicht mein Blut und lasse mein Geschrei bis zum Himmel ertönen.' Und das steht noch bis zum heutigen Tage und da ist nichts mehr hinzuzufügen."
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