Deutsche Kultur

Von Eberhard Straub |
Fremd ist der Fremde nur in der Fremde, bemerkte einmal Karl Valentin, der philosophische Kopf unter den Kabarettisten. Er dachte dabei an den Menschen im Allgemeinen, noch nicht an Türken oder andere so genannte Ausländer, die hier als Fremde unter Fremden fremdeln. Die Fremdartigkeit der Fremden beunruhigt zunehmend leicht hysterisierbare Deutsche.
Bislang hatten sie sich allerdings nie sonderlich darum bemüht, den Fremden die Eingewöhnung in die für sie ganz andere Lebenswelt zu erleichtern, wenn sie nur arbeiteten und zur Steigerung des Bruttosozialproduktes das Ihre beitrugen. Ja viele fanden es gerade wünschenswert, dass die Fremden fremd blieben und mit Volkstanz, Nationalkostümen und bunten Gemüseplatten ungewohnte Farben in den grauen Alltag immer gleicher Gewohnheiten brachten. Deutsche verstanden in diesem Sinne Deutschland als eine Bühne für den Auftritt von Freunden unter Freunden. Solche verschwärmten Liebenswürdigkeiten sollen nicht mehr gelten.

Wer sich nicht einpasst, bestätigt, nicht teamfähig zu sein. Mittlerweile geht der Arbeitsgesellschaft auch die Arbeit aus. Fremde werden nicht mehr gebraucht, erst recht nicht Fremde, die nicht arbeiteten; sie bereichern uns nicht. Sie bestätigen vielmehr - wie alle Arbeitslosen-, ihre soziale Selbstorganisation sträflich vernachlässigt zu haben. Hilfe durch Selbsthilfe, das ist die dynamisierende Devise des Neokapitalismus und verjüngten Sozialdarwinismus.

Da die meisten Fremden hier schon lange leben und nicht einfach wie auslaufende Maschinenmodelle entsorgt werden können, müssen sie eindringlich zur Hilfe durch Selbsthilfe aufgerufen werden. Das heißt, sie müssen sich endlich assimilieren, also in die deutsche Kultur integrieren und die sie überwölbende Westliche Wertegemeinschaft.

Deutsche Kultur und westliche Wertegemeinschaft sind breite Worte, die Inhalte vortäuschen. Es würde genügen, Türken, aber auch Russlanddeutschen oder anderen Umsiedlern, zu ermöglichen, deutsch zu lernen. Darum geht es allein. Beherrschen sie die Umgangssprache, dann ergibt sich ganz von selbst eine Vertrautheit mit der Umwelt, in der sie leben, mit den Sitten und Gebräuchen, dem Geschmack und den Torheiten der Deutschen. Dafür bedarf es nicht der Beschwörung einer Deutschen Kultur. Von ihr hat im Übrigen die überwältigende Mehrheit der Deutschen gar keine Ahnung, weil es eine besondere deutsche Kultur gar nicht gibt. Genauso wenig wie eine spanische, französische oder englische.

Alle höhere Kultur in Europa und Deutschland beruht auf der Kenntnis der griechischen und lateinischen Autoren sowie auf dem Neuen Testament und dem Alten Testament in christlicher Interpretation. Auf dieser Grundlage entwickelte sich durch die Jahrhunderte unsere gemeinsame Kultur mit zuweilen regionalen Unterschieden, die aber den Zusammenhang des Ganzen nicht gefährdeten. Ja, Goethe und Schiller empfahlen den Deutschen, das Schätzenswerte aus allen Zeiten und Völkern sich anzueignen. Das taten sie, immer im Austausch mit ihren Nachbarn, deren Sprache und Kunst sie historisch – wissenschaftlich erschlossen, auch zum Vorteil deutscher Bildung.

Da die alte Welt und die klassische Bildung im Laufe des 20. Jahrhunderts als unzeitgemäß immer entschiedener bei Seite geschoben wurde, musste sich unweigerlich die uns umgebende und prägende Kultur in eine Unzahl von Kulturen auflösen. Es gibt mittlerweile nicht nur die deutsche Kultur, es gibt die Esskultur, die Wohnkultur, die Streitkultur, die Politische Kultur oder die Kultur der Achselhöhle. Es gibt ein völlig unübersichtliches Kulturangebot. Jeder wählt daraus die Kulturelemente aus, die zu seinem aktuellen, beliebig wechselnden personal design jeweils passen.

Dazu bedarf keiner eines deutschen Kulturbewusstseins. Die Kenntnis der deutschen Sprache genügt. Die ist aber nicht einmal mehr unter den Deutschen selbstverständlich, wenn deutsche Studenten längst einer Einführung ins Deutsche bedürfen und sich die Zahl deutscher Analphabeten ununterbrochen erhöht. Spracherziehung ist unvermeidlich, und zwar für alle, damit jeder sich zu einem mitdenkenden und mitentscheidenden Bildungsbürger entwickeln kann.


Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen u. a. "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", "Albert Ballin" und "Eine kleine Geschichte Preußens" sowie zuletzt "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit".