Ein Meyerbeer-Zyklus als Wiedergutmachung
Mit "Vasco da Gama" beginnt die Deutsche Oper Berlin einen Zyklus mit Musiktheater von Giacomo Meyerbeer, dem Gegenpol zu Richard Wagner. Der Titelheld, ein leicht größenwahnsinniger Träumer des 19. Jahrhunderts, wird als eine Figur aus der "Tagesschau" gezeigt.
An die Abendnachrichten werde man erinnert, so heutig sei Meyerbeers Oper "Vasco da Gama", erklärte vor der Premiere Regisseurin Vera Nemirova: Bootsflüchtlinge, Piraten, die Schiffe kidnappen, militante religiöse Fundamentalisten würden das Geschehen bestimmen. Und in der Tat sind in der Deutschen Oper moderne Abgeordnete bei einer Abstimmung, eine Orgien feiernde Militärbesatzung auf einem Schiff und mit Maschinengewehren ausgerüstete ISIS-Kämpfer zu sehen; aber nicht: portugiesischer Seefahrer und Entdecker beziehungsweise indische Ureinwohner aus dem 16. Jahrhundert.
Aber liegt die Aktualität der Oper nicht viel mehr gerade in ihrer Historizität, in der Distanz zu ihrer Entstehungszeit 1865 und ihrem Fortschrittsglauben? Der Blütezeit der Kolonisation, als man die paradiesische Schönheit, aber auch ihre gefährliche Exotik Afrikas und Indiens erschließen wollte. "Das Land, so wunderbar" von dem Vasco da Gama in seiner berühmten Arie singt, wobei Meyerbeers Oper gleichzeitig neben dem Traum auch desillusioniert und die tödlichen Missverständnisse zwischen Europa und den Kolonien im 19. Jahrhundert deutlich macht. In Vera Nemirovas Inszenierung zeigt sich dieser Traum jedoch nicht einmal in dieser Arie vom "wunderbaren Land". Dort ist es nur öde und gefährlich. Aber Vasco da Gama ist kein Zeitgenosse, der ein Abenteuer als Soldat z.B. in Afghanistan sucht, sondern ein etwas größenwahnsinniger Träumer des 19. Jahrhunderts.
Mit "Vasco da Gama" beginnt an der Deutschen Oper Berlin ein Meyerbeer-Zyklus. Man versteht diesen Zyklus als Wiedergutmachung. Meyerbeer soll wieder ins Repertoire eingemeindet werden, dort wo seine Opern bis 1933, bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten ihren selbstverständlichen Platz hatten. Erst ab da hatte ihn daraus sein Gegenpol Richard Wagner verdrängt, auch nach 1945. Die Berliner Dramaturgie und auch die Inszenierung weisen darauf hin, wie nahe Meyerbeer eigentlich Wagner stand. Die Weltenscheibe, die Jens Kilians Bühnenbild bestimmt, scheint Wagner zu zitieren. Aber Kunst als Ersatzreligion und eine Privatmythologie voller Erlösungsvorstellungen bestimmen Meyerbeers Musiktheater sicher nicht. Wäre es nicht umgekehrt klüger festzustellen, wie sehr Wagner sich von Meyerbeer hatte beeinflussen lassen?
Auf 4 ¾ Stunden gekürzt und präzise seziert
Und so wichtig die Wiedergutmachung auch ist, sie ist keine Pioniertat. Gerade die Deutsche Oper hatte mit einer frechen "Hugenotten"-Inszenierung durch John Dew, die dort lange im Repertoire stand, große Aufmerksamkeit erregt: Oper als Historienshow. Kleinere Bühnen − Bielefeld, Würzburg und Konstanz (mit einem Caféhausorchester auf einem Schiff) − haben mit mehr Witz und Spiellust als nun in Berlin die "Afrikanerin" aufgeführt. Unter diesem Namen wurde die Oper in der Bearbeitung von J.F. Fétis aufgeführt, eher vor drei Jahren in Chemnitz erstmals die kritische Fassung mit dem Titel "Vasco da Gama" gezeigt wurde, die die Zusätze von J.F. Fétis streicht, aber viele Striche aufmacht. Für die Wissenschaft ist das sicher verdienstvoll. Ob auch bühnenpraktisch − darüber lässt sich streiten. In Berlin wurde zumindest auf 4 ¾ Stunden gekürzt, es hätte aber durchaus auch mehr sein können.
Während der Chemnitzer Dirigent Frank Beermann bei der "Uraufführung" des "Vasco" einen Klang voll paradiesischer Ohrwürmer erzeugte, seziert Enrique Mazzola Meyerbeers Musik und führt ihre oft geradezu verstörenden Effekte präzise vor. Im Mittelpunkt bei Meyerbeer aber vor allem die Stimmen. Hier könnte die Deutsche Oper durchaus mit ihren Stars prunken. Doch uneingeschränkt Eindruck macht als Sänger, aber auch als Darsteller nur Markus Brück als Nelusco. Nino Machaidze (Ines) und Sophie Koch (Selica), als opferbereite Anhängerinnen des unangepassten Draufgängers und Forschers Vasco da Gama, ließen hingegen einen zwiespältigeren Eindruck zurück, auch wenn sie über weite, vor allem die lyrischen Strecken zu betören wussten. Roberto Alagna – der Tenorstar wurde mit kurzem Auftrittsapplaus bedacht – ließ sich als leicht indisponiert entschuldigen; vielleicht lag es daran, dass er den Titelhelden deshalb manchmal fast wie einen Wagnerschen Siegfried stemmte.
Am Ende also fast ein wenig Ernüchterung. Vielleicht war der Erwartungsdruck zu groß. Man hätte doch zu gerne ganz große "grand opera" erlebt.
Informationen der Deutschen Oper Berlin zu "Vasco da Gama"