Deutsche Reichsgründung 1871

Verstehen oder verdammen?

06:19 Minuten
Ein Wandgemälde zur Reichsgründung 1871.
Das deutsche Kaiserreich sei auch eine Zeit des Aufbruchs gewesen, sagt die Historikerin Hedwig Richter. © imago / ecomedia/ Robert Fishman
Hedwig Richter im Gespräch mit Korbinian Frenzel |
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Sich der Geschichte moralisch zu nähern, führt zu ständiger Empörung, sagt die Historikerin Hedwig Richter. Aber führt es auch zum Verständnis der Vergangenheit? Darum dreht sich eine Kontroverse anlässlich des 150. Jahrestags der Reichsgründung.
An der Frage nach dem "richtigen" Umgang mit dem Deutschen Kaiserreich, das vor 150 Jahren gegründet wurde, scheiden sich nach wie vor die Geister. Die Bielefelder Geschichtsprofessorin Christina Morina sagte beispielsweise vor kurzem in unserem Programm, sie sehe keinen Sinn darin, im Kaiserreich als einem autoritären, undemokratischen Machtstaat nach positiven Bezugspunkten zu suchen. Vielleicht hatte sie dabei auch ihre Kollegin Hedwig Richter von der Universität der Bundeswehr in München im Blick, die für eine etwas andere Sichtweise auf diese Zeit steht.
"Man kann sich der Geschichte natürlich moralisch nähern, aber dann werden wir, wenn wir zurückgehen, spätestens bei den 1950er-Jahren vollkommen entsetzt und empört sein, dass Frauen keine Rechte hatten – und wir sind völlig zu Recht empört", so Richter. "Aber man kann auch versuchen – als Historikerin würde ich mich darum bemühen – die Geschichte zu verstehen."

Auch eine Zeit des Aufbruchs

Richter plädiert dafür, das Kaiserreich im Kontext zu betrachten und es nicht zu "exotisieren". Dies führe lediglich dazu, dass Phänomene als allein deutsch betrachtet würden, die sie aber nicht waren, zum Beispiel Rassismus, Militarismus oder Autoritarismus. Davon sei das Kaiserreich zwar stark geprägt gewesen, räumt Richter ein. Dennoch: "Wer das als deutsches Phänomen sieht, verharmlost das als brutales internationales Phänomen."
Zum anderen werde durch eine solche Betrachtungsweise viel ausgeblendet. Niemand bestreite die dunklen Seiten des Kaiserreichs. "Aber es war eben auch eine Zeit des Aufbruchs, und zwar des internationalen Aufbruchs", so die Historikerin. "Es ist die Zeit der Massenmobilisierung, der Massenpolitisierung und auch die Zeit, in der die Geschlechterordnung, die bis dahin jahrhunderte-, jahrtausendelang gegolten hat und die Frau als minderwertig ansah, wirklich angegriffen und infrage gestellt wurde."
Kritisch äußert sich Richter in diesem Zusammenhang auch zu einer Passage in der Rede des Bundespräsidenten zum 150. Reichsgeburtstag, in der dieser gesagt hatte: "Für Wilhelm II. war das Parlament das ‚Reichsaffenhaus.‘ Diese Ablehnung der Demokratie als fremd und undeutsch hat sich als fatal erwiesen. Es ist keine Geschichtsvergessenheit, wenn die Deutschen mit dem Erbe des Kaiserreichs hadern und hadern müssen."

Wilhelm II. war für viele Zeitgenossen eine Spottfigur

Es sei ganz typisch, wie Wilhelm II. hier dargestellt werde, als ob er die "alles prägende, einsam die Lufthoheit beherrschende Figur" gewesen sei. Dabei werde aber ausgeblendet, dass Wilhelm II. für viele Zeitgenossen eine Spottfigur gewesen sei. "Für Intellektuelle war er ein beliebtes Thema des Spottes", sagt Richter. "Das war ganz klar, dass der nicht das hellste Licht unter dem Himmel war."
Wenn der Kaiser zum Parlament Affenhaus gesagt habe, "dann wurde dieser Begriff zum Spott darüber, wie blöd eigentlich der Kaiser gewesen ist". Der Hass des Kaisers auf das Parlament habe auch nicht verhindert, dass dieses zur "entscheidenden Institution im Reich" geworden sei.
(uko)

Die Historikerin Hedwig Richter ist seit 2019 Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Zuvor forschte sie am Hamburger Institut für Sozialforschung und war Privatdozentin an der Universität Greifswald. Richter beschäftigt sich unter anderem mit europäischer Geschichte, Geschlechterfragen sowie Demokratie- und Diktaturforschung.

Die gesamte Sendung "Der Tag mit Hedwig Richter" hier zum Nachhören:
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