"Keine Gewalt"
"Keine Gewalt!" - ein Ruf der Wende, eine Losung ihrer Zeit. Nachdem Sicherheitskräfte versuchten, die ersten Montagsdemonstrationen in Leipzig gewaltsam zu unterbinden und es am 4. Oktober 1989 am Dresdner Hauptbahnhof zu blutigen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften kam, liegt der Ruf "Keine Gewalt!" schon in der Luft.
Doch wann wurde er zuerst gerufen? Wo? Und von wem? Der bunt geschmückte Palast der Republik in der Hauptstadt ist am 7. Oktober 1989, dem Republikgeburtstag, nur noch Fassade - die Sicherheitskräfte knüppeln eine Demonstration derer, denen nicht zum Feiern zumute ist, blutig nieder.
Und die Masse ruft im Chor: "Keine Gewalt!". In einer Leipziger Montagsdemonstration taucht der Ruf "Keine Gewalt" vermutlich am 9. Oktober zum ersten Mal auf.
Manuskript zur Sendung:
Im Herbst 89. Das Volk findet seine Sprache wieder. In Leipzig werden aus Friedensgebeten Montagsdemonstrationen. Die Oppositionellen wagen den Schritt auf die Straße. Die Macht liegt auf der Straße. Wer hebt sie auf? Und wer wird am Ende die Straße beherrschen?
Im Herbst 89. Das Volk findet seine Sprache wieder. In Leipzig werden aus Friedensgebeten Montagsdemonstrationen. Die Oppositionellen wagen den Schritt auf die Straße. Die Macht liegt auf der Straße. Wer hebt sie auf? Und wer wird am Ende die Straße beherrschen?
Bei der ersten Leipziger Montagsdemonstration am 4. September 1989 gehen über 1000 Oppositionelle nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche auf die Straße. Wie immer im Herbst ist Mustermesse – und westliche Journalisten sind vor Ort. Kamerateams filmen das Szenario.
Tagesschau: Guten Abend, meine Damen und Herren. In Leipzig ist es am Abend nach einem Gottesdienst in der Nikolaikirche zu einer Demonstration von mehreren hundert Menschen gekommen.
Gesine Oltmanns, Montagsdemonstrantin der ersten Stunde:
"Ich kann mich an diese Situation ganz genau erinnern, weil das für mich auch sehr schockierend war, muss ich sagen. Wir hatten eben gedacht, wir sind doch verhältnismäßig geschützt, durch diese vielen Kameras, die da auch standen. Und dann kamen auf einmal so 'ne absolut hochleistungsmäßig trainierten Leute und rissen die Plakate uns aus der Hand, ja?"
Das Volk begehrt auf, aber auch innerhalb der SED gärt es. Noch scheinen die reformwilligen Kräfte in der Minderheit.
Gesine Oltmanns, Montagsdemonstrantin der ersten Stunde:
"Ich kann mich an diese Situation ganz genau erinnern, weil das für mich auch sehr schockierend war, muss ich sagen. Wir hatten eben gedacht, wir sind doch verhältnismäßig geschützt, durch diese vielen Kameras, die da auch standen. Und dann kamen auf einmal so 'ne absolut hochleistungsmäßig trainierten Leute und rissen die Plakate uns aus der Hand, ja?"
Das Volk begehrt auf, aber auch innerhalb der SED gärt es. Noch scheinen die reformwilligen Kräfte in der Minderheit.
Der Ruf "Keine Gewalt" wurde eine Losung der Wende. Doch wer rief sie zuerst? Und wann?
Im "Demontage-Buch", einer Chronik der Demos, haben Oppositionelle alle Losungen, die in Leipzig geschrieben oder gerufen worden sind, notiert. Nach dem "Demontagebuch" wurde "Keine Gewalt" am 9. Oktober das erste Mal gerufen. Keine Gewalt! Von beiden Seiten!
Das war die Forderung an die Staatsmacht. Und der Anspruch der Montagsdemonstranten an sich selbst.
***
Nachdem Anfang Oktober mehrere Züge mit Ausreisewilligen aus der Prager Botschaft in Richtung Westdeutschland durch Dresden fuhren, kommen am 4. Oktober etwa 20.000 unzufriedene Bürger an den Dresdner Hauptbahnhof. Es sind überwiegend Ausreisewillige und nicht Oppositionelle, die das Land verändern wollen. Und es kommt - anders als in Leipzig - zu massiver Gewalt und schweren Zerstörungen am Hauptbahnhof.
Einen Tag zuvor fand in Berlin die Generalprobe für die Parade zum 40. Jahrestag der DDR statt.
Hartmut Jentsch, damals Oberst der Grenztruppen: "Bei dieser Generalprobe habe ich den Stellvertreter des Chefs der Grenztruppen, Chef der Politischen Verwaltung, vertreten. Hatte seine Tribünenkarte. Und erlebte kurz nach Beginn dieser Generalprobe, bei der ich auf der Bühne unmittelbar hinter dem Verteidigungsminister, Armeegeneral Keßler stand, dass er abgerufen wurde. Und nach der Ehrenparade die übrigen Teilnehmer auch. Und wir erfuhren, dass es einen Anruf aus Dresden gab, vom 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Hans Modrow, mit der Bitte um Unterstützung der NVA, um die Lage in und um den Dresdner Hauptbahnhof zu bereinigen."
Die Nationale Volksarmee wird im Inneren eingesetzt – gegen das eigene Volk.
Aus Erzählungen von Offizieren der damaligen Zeit weiß ich auch, dass da zwar drauf gedrungen wurde, keine Schusswaffen einzusetzen, dass selbstverständlich die Offiziere aber ihre Pistolen mitführten, die nicht offen getragen wurden. Und auch hier wäre schon eine Eskalation möglich gewesen.
Die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober - samt Ehrenparade - sind derweil nur noch Fassade. Am Alexanderplatz versammeln sich oppositionelle Jugendliche. Sie werden schnell aus dem Zentrum herausgedrängt – zur Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg.
Noch diniert Michail Gorbatschow mit der Staatsführung im Palast der Republik.
Als er die Stadt verlässt, greifen Polizei und Staatssicherheit brutal in das Geschehen ein. Der Zeitzeuge und Kirchenaktivist Dieter Wendland:
"Wir hatten damit gerechnet, dass man durchaus verhaftet werden kann. Dass man also in den Stasi-Knast kommt und so weiter. Aber dass man direkt geschlagen wird von den … – ich sag jetzt mal – von den eigenen Leuten, also das konnte sich eigentlich gar keiner vorstellen. Ja? Also dass 'ne Frau, die schwanger war, sich auch als Schwangere zu erkennen gegeben hat, nicht nur durch den dicken Bauch, sondern auch gesagt hat 'Ich bin schwanger, bitte schlagen sie mich nicht', dass die extra geschlagen worden ist!
Und alle solche Sachen. Also wo man dachte: Das kann’s hier gar nicht geben! Das gibt's in Chile, oder in 'ner anderen faschistischen Diktatur. Aber dass es hier in der friedliebenden DDR so was gibt, das hätte man sich nicht denken können."
Klaus Laabs, einer der Oppositionellen, wird um Mitternacht vor der Gethsemanekirche von Sicherheitskräften zusammengeknüppelt und später von mehreren Lastwagen überrollt.
Mehr als 1000 Personen werden am Republik-Geburtstag allein in Berlin festgenommen. Doch die Staatsführung kommt nicht zur Ruhe. Grenztruppen-Oberst a.D. Hartmut Jentsch:
"Im weiteren ist die Bildung der Hundertschaften dann verstärkt worden, in einem großen Maße, und sie standen alle in Leipzig zum Einsatz bereit, bis dann nach dem berühmten Appell der sechs – Kurt Masur, ein Kabarettist, ein Pfarrer und drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung – mahnend gesprochen haben: Keine Gewalt in Leipzig."
Bereits zwei Tage nach dem Republikgeburtstag, am 9. Oktober, wird wieder in Leipzig demonstriert. Aus den Montagsdemonstrationen sind inzwischen Massenbewegungen geworden.
Roland Wötzel: "Zu jeder Demonstration gab es erhöhte Aufmerksamkeit, aber am 9. Oktober sollte im Prinzip die Lage in Leipzig entschieden werden. Das hat natürlich unsere Anstrengungen zur Gewaltlosigkeit noch verstärkt."
***
Drohte Leipzig an diesem Abend ein Blutbad? Grenztruppen-Oberst Hartmut Jentsch.
Drohte Leipzig an diesem Abend ein Blutbad? Grenztruppen-Oberst Hartmut Jentsch.
"Also die Einsatzkräfte und nicht nur die 31 Hundertschaften – das sind immerhin schon, nach der Milchmädchenrechnung 3100 Mann – plus Versorgungskräftedie haben bereitgestanden. Dazu kamen die alarmierten Kampfgruppen aus den Leipziger, oder um Leipzig liegenden Betrieben, dazu kamen die Polizeibereitschaften um Leipzig und natürlich sicherlich auch Kräfte des MfS."
SED-Bezirkssekretär Roland Wötzel setzt seine Anstrengungen nach einer gewaltfreien Lösung fort:
"Ja, und dann hatte sich die Sache so entwickelt, wir fuhren zu Masur und haben diesen Aufruf gemacht, der dort auch im Vorfeld, so wie wir besprochen haben, dass ohne Gewalt – keine Gewalt – diese Demonstration ablaufen sollte. Und ich glaube, die größere Bedeutung hat der Aufruf, dass die Sicherheitsorgane gehört haben, wahrgenommen haben: Es gibt in der Partei Kräfte, die für eine Situation sind, die auf friedliche Art und Weise diese ganze Demonstration zu Ende gehen lassen sollte."
Im Büro des Gewandhauskapellmeisters Kurt Masur entsteht der "Aufruf der Sechs". Zu ihnen gehören neben Kurt Masur der Leipziger Kabarettist Bernd-Lutz Lange, der Theologe Peter Zimmermann und die SED-Bezirkssekretäre Jochen Pommert, Kurt Meyer und Roland Wötzel.
Zugleich reist Walter Friedrich, Leiter des Leipziger "Zentralinstituts für Jugendforschung", nach Berlin, um Egon Krenz einen Brief zu übergeben. Und ihn zu mahnen:
"Egon, heute Abend darf in Leipzig kein Blut fließen!"
Aber noch ist Honecker der erste Mann im Staat – nicht Krenz.
Der Montagsdemonstration am 9. Oktober schließen sich 100.000 Menschen an. Kurt Masur verliest den "Aufruf der Sechs" im Sender Leipzig. Zugleich wird er über die Lautsprecheranlagen des Stadtfunks rund um den Innenstadtring, dem Ort der Montagsdemonstration übertragen:
"Wir sind von der Entwicklung in unserem Land betroffen und suchen nach einer friedlichen Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird. - Es sprach Kurt Masur."
Die Sicherheitskräfte greifen nicht ein. Die Befehlslage war: Sie sollten sich auf die Eigensicherung beschränken.
Wer gab diesen Befehl? Egon Krenz behauptet, er selbst. Das ist wahrscheinlich, auch wenn es bis heute nicht geklärt ist. Wenn es so ist, ist es ein Teil der Wahrheit. Der andere ist: Der "Aufruf der Sechs" hatte Wirkung. In Berlin – und in Leipzig.
Die Demonstration verläuft friedlich.
Roland Wötzel: "Es gab abends sehr heftige Auseinandersetzungen. Wir waren auch verpflichtet, eine Stellungnahme bis früh abzugeben, was aber keiner von uns dreien gemacht hat. Schriftliche Stellungnahme. Wir hatten dann auch Auftrittsverbot, wir konnten uns in der folgenden Woche nur noch in unseren Zimmern aufhalten - und nicht irgendwie reden und zu Versammlungen gehen. Honecker soll gesagt haben: 'Nun haben wir die Verräter in den eigenen Reihen'."
Am Freitag danach reisen Egon Krenz und Fritz Streletz, Chef des Hauptstabes der NVA und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates nach Leipzig – und legten fest, wie künftig mit Demonstrationen umzugehen ist. Nach dieser Beratung konnten Wötzel, Pommert und Meier wieder ungehindert in der SED-Bezirksleitung arbeiten.
Der "Aufruf der Sechs" wird zur Staatsdoktrin.
"Also das war dann ab diesem Zeitpunkt staatstragend, die Polizei ging auf Eigensicherung über, also die eigene Person zu schützen, Gerätschaften zu schützen, die Demonstration selber zu schützen. So sollte das im Prinzip dann ablaufen. So haben wir es dann zumindest auch verstanden.
Und damit ist klar: Die DDR-Führung beherrscht die Straße nicht mehr. Aber sie existiert noch, die Grenze ist noch zu, und - ich glaube die Zahl stammt vom Chef des Hauptstabes und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, Generaloberst Streletz – die DDR hatte 400.000 Mann unter Waffen."
***
November 1989, Berlin. Die größte Demonstration, die je auf deutschem Boden stattgefunden hat. Künstler und Oppositionelle sind die Organisatoren der Demonstration des eigenen Willens. Auf der Rednerliste stehen unter anderem Christa Wolf, Lothar Bisky und Stefan Heym.
Eine Millionen Menschen kommen auf den Alexanderplatz. Lothar Bisky, damals Rektor der Filmhochschule Potsdam, kurz vor seinem überraschenden Tod im Jahr 2013:
"Damals wusste keiner wohin es geht. Damals hat auch keiner so recht geglaubt: Wird es aufgehen? Die Losung 'Keine Gewalt'. Das war ein großes Experiment! Ich war davon überzeugt, dass es aufgehen kann. Aber sicher war ich auch nicht. Und es war nicht klar, dreht dort einer durch? Sie müssen ja sehen: Die Sicherheit war unter Waffen, die Volkspolizei war unter Waffen, die Armee war funktionsfähig. Und dort gibt es plötzlich einen großen Auflauf. Und zuvor gab es den Platz des Himmlischen Friedens. Und auch das war ja noch im Gedächtnis."
Welche Wandlung! Vor noch nicht vier Wochen, die schön gezimmerte Tribüne hier um die Ecke, mit dem Vorbeimarsch, dem Bestellten, vor Erhabenen!
Das Volk hat seine Sprache wiedergefunden. Und auch der letzte, der größte Aufstand in der DDR, verläuft friedlich.
Jentsch: "Es gab genügend Situationen, wo ein leiser Funke, ein Anrempeln, ein Umstürzen eines Sicherungspostens, eines Offiziers, einer Absperrkette den Schusswaffeneinsatz, auch wenn er verboten war, ausgelöst hätte. Deswegen noch mal mein zu tiefster Punkt der Erkenntnis: Wenn es keine Gewalt gegeben hat, dann hat es sie von beiden Seiten nicht gegeben und war von beiden Seiten nicht gewollt."
Wötzel: "Ich glaube, dass es insgesamt wichtig ist, bei der Würdigung dieser Friedlichen Revolution beide Seiten richtig zu sehen. Und nicht aus einer solchen Dämonisierung, die jetzt angebracht wird, einfach die andere Seite wegzuwischen. Diejenigen, die die Kerzen in der Hand hielten, die konnten kaum zur Gewalt schreiten. Die konnten natürlich mal einen Stein werfen, oder was. Aber das wäre nicht zu dem großen Aufflammen gekommen. Wäre zum Beispiel am Bahnhof ein Räumgerät nach vorne gefahren, oder zwei Räumgeräte, und hätten die Demonstranten bei Seite geschoben, das wäre unausdenkbar gewesen, wenn das geworden wäre. Aber diese Möglichkeit hatte nur eine Seite. Und deshalb bin ich der Meinung, man muss auch beide Seiten historisch richtig einordnen."
Bisky: "Aber die Deutsche Vereinigung kam, und es war klar: Wer ist der Sieger, wer ist der Besiegte. Und in der Geschichte ist das relativ eindeutig, wer die Geschichte schreibt. Und da setzte auch die Uminterpretation der Ereignisse an. Und - im Großen und Ganzen können wir ja sagen - ist es ja gutgegangen. Wir haben ja großes Glück gehabt, dass da nichts explodiert ist. Dieses 'Keine Gewalt' als Losung spielte damals eine unheimlich gute Rolle. Und wurde durch alle politischen Kräfte getragen. Und das war unsere gemeinsame Formel, soviel Gemeinsamkeit war ja noch da."
(huc)