"Die Fenster aufgestoßen"
Berlin, 4. November 1989, Alexanderplatz. Die größte Wende-Demonstration und wohl auch die bunteste. Demonstranten überreichten Blumen an Polizisten, Transparente und Plakate mit witzigen Sprüchen und ernsten Forderungen bestimmten das Bild.
Vom Ende der Phrasen
Stephan Heym: "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen. Nach all den Jahren der Stagnation. Der geistigen, wirtschaftlichen, politischen. Den Jahren von Dumpfheit und Mief. Von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür. Von amtlicher Blindheit und Taubheit."
Berlin. Alexanderplatz. 4. November 1989.
Stephan Heym: "Welche Wandlung! Vor noch nicht vier Wochen die schön gezimmerte Tribüne hier um die Ecke ..."
Das Volk findet seine Sprache wieder. Stefan Heym spricht es aus.
Stephan Heym: "... mit dem Vorbeimarsch, dem bestellten, vor den Erhabenen."
Vier Wochen zuvor. Am 7. Oktober 1989. Die DDR-Führung noch auf der Tribüne. In Berlin. Dort und in Dresden, Plauen und andernorts abgesichert von der Staatssicherheit und der Volkspolizei. Verschiedenenorts Knüppeleinsätze gegen friedliche Demonstranten. Am Jahrestag der Republik.
Nun also ein völlig anderes Bild. Einen Monat später. Eine Demonstration ohne Partei- und Staatsführung. Keine große Bühne, aber eigene Transparente. Das Volk schafft sich seine eigene Volksbühne – auf dem Berliner Alexanderplatz. Im politischen Zentrum der DDR - in der Hauptstadt, an der Grenzlinie zwischen den Systemen.
Künstler und Oppositionelle sind die Organisatoren der Demonstration des eigenen Willens. Henning Schaller, damals Bühnenbildner am Maxim-Gorki-Theater, ist einer der Organisatoren der Kundgebung.
Henning Schaller: "Der Beginn dieser ganzen Bewegung hat in der Volksbühne stattgefunden. Und zwar am 7. Oktober, also am Tag der Republik, da hatten wir uns in der Volksbühne versammelt, und da kamen Kollegen aus Dresden. Die erzählten, was da in Dresden gelaufen ist. Und wie die Stasi da die Leute zusammengeknüppelt hat. Und daraufhin haben wir gesagt, wir müssen was machen."
Merit Schambach: "... und sagten denn, wat kann man denn machen, demonstrieren darf man ja sowieso nicht, und ... da sagte Gysi, der dann auch dabei war: Ja, hat denn jemand schon mal probiert, ne Demo anzumelden, hier in dem Land? Und det war wohl der Knackpunkt, det hamse gemacht ..."
Kapitel 1. Ein gespaltenes Land
Es sind vor allem Mitarbeiter der Ostberliner Theater, die sich die zunehmende Repression der Staatsmacht nicht mehr gefallen lassen. Unter ihnen der freischaffende Komponist Christoph Schambach.
Christoph Schambach: "So, und das war dann so, dass die alle einfach gesagt haben, völlig egal, ob sie genehmigt ist oder nicht: Wir gehen demonstrieren. Und da hat die Staatsführung sozusagen die Notbremse gezogen und hat gesagt: Okay, dann müssen wir wohl aus der Not ne Tugend machen und haben die wirklich zwei drei Tage vorher genehmigt. Und damit war das Eis eigentlich gebrochen."
Für die Vorbereitungen nutzen die Organisatoren die Theater. Die bieten – ähnlich wie die Kirchen – einen gewissen Schutz vor der Staatsmacht.
Es wird gerüttelt. Ohne Zensur, ohne Einfluss auf die Rednerliste, ohne Absicherung durch die Polizei. Eine unabhängig organisierte Demonstration mit eigenen Ordnern. Die geben die Losung aus "Keine Gewalt".
Auf der Rednerliste stehen Wortführer der Tage wie Christa Wolf, Stefan Heym, Friedrich Schorlemmer, Heiner Müller und Marianne Birthler, Markus Wolf und Günter Schabowski.
Der Mut ist groß, wird immer größer. Auf der Rednerliste der Berliner Kundgebung steht auch Lothar Bisky. 1989 Professor an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg.
Lothar Bisky: "Aber es war klar, so kann's nicht weitergehen. Und da hat es welche gegeben, die wollten doch, dass es so weitergeht. Und es gab welche, die wollten's nicht mehr. Die SED war damals eine gespaltene Partei. Das Land war gespalten in viele, viele Gruppen mit unterschiedlichen Auffassungen. Die Macht lag offen auf der Straße."
Wer hebt sie auf? Noch rennen viele Menschen weg. Seit Monaten, über Ungarn oder die Botschaften in Warschau und Prag.
Friedrich Schorlemmer, Theologe und wortgewandter Bürgerrechtler. Er fordert dazu auf, jene SED-Funktionäre, die zu wirklichen Reformen bereit sind, nicht aus der neuen Bewegung auszugrenzen.
Friedrich Schorlemmer: "Erich Honecker hat gesagt: Wir weinen ihnen keine Träne nach. Dies war so herzlos! Wenn Leute so traurig waren, dass ihre Freunde, ihre Kinder, ihre Kollegen, die Ärzte aus den Krankenhäusern abhauten ... und dann sagt dieser Knacker: Weint ihnen keine Träne nach! Man kann diesen Satz in der Wirkung der Wut und des Mutes, der daraus kam, gar nicht hoch genug einschätzen. Also ich danke Erich Honecker immer noch für diesen bösen Satz, denn ohne den wäre es vielleicht gar nicht zu solchen Demonstrationen gekommen."
Kapitel 2. Berlin, 4. November 1989
Der Morgen des 4. November. Die Organisatoren der Berliner Demonstration haben sich die Ordner für die Demonstration selbst zusammengesucht. Es sind mehrere Hundert.
Die größte Furcht von Polizei und Politbüro: Die Demonstrationsroute führt in Richtung Palast der Republik – also in Richtung Westen, wenige Hundert Meter an die Mauer heran.
Stephan Heym: "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen. Nach all den Jahren der Stagnation. Der geistigen, wirtschaftlichen, politischen. Den Jahren von Dumpfheit und Mief. Von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür. Von amtlicher Blindheit und Taubheit."
Berlin. Alexanderplatz. 4. November 1989.
Stephan Heym: "Welche Wandlung! Vor noch nicht vier Wochen die schön gezimmerte Tribüne hier um die Ecke ..."
Das Volk findet seine Sprache wieder. Stefan Heym spricht es aus.
Stephan Heym: "... mit dem Vorbeimarsch, dem bestellten, vor den Erhabenen."
Vier Wochen zuvor. Am 7. Oktober 1989. Die DDR-Führung noch auf der Tribüne. In Berlin. Dort und in Dresden, Plauen und andernorts abgesichert von der Staatssicherheit und der Volkspolizei. Verschiedenenorts Knüppeleinsätze gegen friedliche Demonstranten. Am Jahrestag der Republik.
Nun also ein völlig anderes Bild. Einen Monat später. Eine Demonstration ohne Partei- und Staatsführung. Keine große Bühne, aber eigene Transparente. Das Volk schafft sich seine eigene Volksbühne – auf dem Berliner Alexanderplatz. Im politischen Zentrum der DDR - in der Hauptstadt, an der Grenzlinie zwischen den Systemen.
Künstler und Oppositionelle sind die Organisatoren der Demonstration des eigenen Willens. Henning Schaller, damals Bühnenbildner am Maxim-Gorki-Theater, ist einer der Organisatoren der Kundgebung.
Henning Schaller: "Der Beginn dieser ganzen Bewegung hat in der Volksbühne stattgefunden. Und zwar am 7. Oktober, also am Tag der Republik, da hatten wir uns in der Volksbühne versammelt, und da kamen Kollegen aus Dresden. Die erzählten, was da in Dresden gelaufen ist. Und wie die Stasi da die Leute zusammengeknüppelt hat. Und daraufhin haben wir gesagt, wir müssen was machen."
Merit Schambach: "... und sagten denn, wat kann man denn machen, demonstrieren darf man ja sowieso nicht, und ... da sagte Gysi, der dann auch dabei war: Ja, hat denn jemand schon mal probiert, ne Demo anzumelden, hier in dem Land? Und det war wohl der Knackpunkt, det hamse gemacht ..."
Kapitel 1. Ein gespaltenes Land
Es sind vor allem Mitarbeiter der Ostberliner Theater, die sich die zunehmende Repression der Staatsmacht nicht mehr gefallen lassen. Unter ihnen der freischaffende Komponist Christoph Schambach.
Christoph Schambach: "So, und das war dann so, dass die alle einfach gesagt haben, völlig egal, ob sie genehmigt ist oder nicht: Wir gehen demonstrieren. Und da hat die Staatsführung sozusagen die Notbremse gezogen und hat gesagt: Okay, dann müssen wir wohl aus der Not ne Tugend machen und haben die wirklich zwei drei Tage vorher genehmigt. Und damit war das Eis eigentlich gebrochen."
Für die Vorbereitungen nutzen die Organisatoren die Theater. Die bieten – ähnlich wie die Kirchen – einen gewissen Schutz vor der Staatsmacht.
Es wird gerüttelt. Ohne Zensur, ohne Einfluss auf die Rednerliste, ohne Absicherung durch die Polizei. Eine unabhängig organisierte Demonstration mit eigenen Ordnern. Die geben die Losung aus "Keine Gewalt".
Auf der Rednerliste stehen Wortführer der Tage wie Christa Wolf, Stefan Heym, Friedrich Schorlemmer, Heiner Müller und Marianne Birthler, Markus Wolf und Günter Schabowski.
Der Mut ist groß, wird immer größer. Auf der Rednerliste der Berliner Kundgebung steht auch Lothar Bisky. 1989 Professor an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg.
Lothar Bisky: "Aber es war klar, so kann's nicht weitergehen. Und da hat es welche gegeben, die wollten doch, dass es so weitergeht. Und es gab welche, die wollten's nicht mehr. Die SED war damals eine gespaltene Partei. Das Land war gespalten in viele, viele Gruppen mit unterschiedlichen Auffassungen. Die Macht lag offen auf der Straße."
Wer hebt sie auf? Noch rennen viele Menschen weg. Seit Monaten, über Ungarn oder die Botschaften in Warschau und Prag.
Friedrich Schorlemmer, Theologe und wortgewandter Bürgerrechtler. Er fordert dazu auf, jene SED-Funktionäre, die zu wirklichen Reformen bereit sind, nicht aus der neuen Bewegung auszugrenzen.
Friedrich Schorlemmer: "Erich Honecker hat gesagt: Wir weinen ihnen keine Träne nach. Dies war so herzlos! Wenn Leute so traurig waren, dass ihre Freunde, ihre Kinder, ihre Kollegen, die Ärzte aus den Krankenhäusern abhauten ... und dann sagt dieser Knacker: Weint ihnen keine Träne nach! Man kann diesen Satz in der Wirkung der Wut und des Mutes, der daraus kam, gar nicht hoch genug einschätzen. Also ich danke Erich Honecker immer noch für diesen bösen Satz, denn ohne den wäre es vielleicht gar nicht zu solchen Demonstrationen gekommen."
Kapitel 2. Berlin, 4. November 1989
Der Morgen des 4. November. Die Organisatoren der Berliner Demonstration haben sich die Ordner für die Demonstration selbst zusammengesucht. Es sind mehrere Hundert.
Die größte Furcht von Polizei und Politbüro: Die Demonstrationsroute führt in Richtung Palast der Republik – also in Richtung Westen, wenige Hundert Meter an die Mauer heran.
Doch der 4. November ist der Tag der "Hierbleiber".
Roland Brunner: "Es gab in der DDR zunehmend im Sommer eigentlich die Forderung, dass man sich doch endlich der Glasnost und der Perestroika öffnen sollte, und der Spruch des Kulturministers Hager war dann der: Also wenn der Nachbar seine Wohnung tapeziert, müssen wir das noch lange nicht tun. So, und als wir dann losmarschiert sind, haben sich plötzlich aus der vorderen Gruppe Leute gelöst, in Höhe des Palastes der Republik, mit nem Eimer Leim und nen paar Tapeten, und haben dann angefangen, die Tür der Volkskammer zu tapezieren, es war einfach nur schön."
Peter Pragal: "Das war von einer Gelöstheit, ..."
Peter Pragal, 1989 Stern-Korrespondent in der DDR.
Peter Pragal: "... die mir fast schon ein bisschen unheimlich vorkam, denn noch existierte ja der Staat mit all seinen Mitteln. Und trotzdem beherrschte plötzlich das Volk die Straße, oder in diesem Fall eben die Empore des Palastes der Republik. Und machte sich also über diese Altvorderen lustig. Das war schon sehr witzig."
Henning Schaller: "... und es waren also so spontane Aktionen, dass zum Beispiel junge Schauspieler in der Blumenrabatte vom Palast der Republik gestanden haben und das ZK nachgespielt haben ..."
Die zertrampelte Blumenrabatte bleibt die einzige nennenswerte Beschädigung an diesem 4. November 1989.
Kapitel 3. Von Mitdenkern und Hierbleibern
Marion van de Kamp: "Hier ... findet keine Manifestation statt ..., sondern eine sozialistische Protestdemonstration!"
Schätzungen schwanken zwischen 500.000 und eine Million Demonstranten. Es ist die größte Demonstration, die je auf deutschem Boden stattgefunden hat. Wofür?
Ulrich Mühe: "Wir demonstrieren hier für die Inhalte folgender Verfassungsartikel. Artikel 27 der Verfassung der DDR: Jeder Bürger der DDR hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern."
Der Schauspieler Ulrich Mühe zitiert die DDR-Verfassung – und seine Kollegin Johanna Schall antwortet mit dem DDR-Strafgesetzbuch.
Johanna Schall: "Wer eine Zusammenrottung organisiert oder anführt, in Klammern Rädelsführer, wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu acht Jahren bestraft."
Aufmerksam hört die Masse den Rednern auf der improvisierten Bühne zu. Von der Ladefläche eines Barkas-Kleinlasters kommen befreiende Worte. Gefühle der Entlastung und des Selbstvertrauens artikulieren sich.
Lothar Bisky: "Damals wusste keiner, wohin es geht. Damals hat vielleicht auch keiner so recht geglaubt, wird es aufgehn die Losung 'Keine Gewalt'. Und zuvor gab es den Platz des himmlischen Friedens. Und auch das war ja noch im Gedächtnis."
Auf dem Alexanderplatz spricht der Bürger. Ein paar 100 Meter weiter, an der Mauer, werden an diesem Tag die Truppen und Ordnungskräfte massiv verstärkt.
Christoph Schambach: "Ich glaube, an dem Tag wollte überhaupt keener abhauen. Weil det war so ne solidarische Stimmung unter den Leuten, und alle waren sich wenigstens an dem einen Tag mal einig, hey, wenn wir irgend wat ändern wollen denn schaffen wir das nur gemeinsam, und det war det Grunderlebnis in meinem Leben. Also det is nochn schönerer Tag gewesen als der Mauerfall selbst, dieser vierte November war eigentlich der echte Höhepunkt, weil man wusste, die Leute haben ausgedient!"
Lothar Bisky: "Nach so viel kritischer Kreativität war die Autorität der SED implodiert. Sie implodierte, am 4.11. Das ist sein Verdienst, glaub ich. Das Politbüro hatte keine Autorität mehr, man hat es hinweggelacht oder mit intelligenten Sprüchen kritisiert."
Henning Schaller: "Es spricht Günter Schabowski."
Christoph Schambach: "Schabowski wollte noch großartig erzählen, wie sie sich dem Volk annähern wollen, der ist nur ausgepfiffen worden!"
Günter Schabowski: "Liebe Berlinerinnen und Berliner ..."
Christoph Schambach: "Der ist fast heulend vor Scham von der Tribüne runterjeklettert, weil er wirklich nicht mehr wusste, wie er sich verhalten sollte. Es war so sonnenklar an diesem Tag: Ey Leute, ihr habt uns nichts mehr zu sagen."
Günter Schabowski: "... billigen wir einander die Kultur des Dialogs zu!"
Friedrich Schorlemmer: "Es war ein Akt friedlicher Selbstbefreiung mit einer Delegitimation der bisherigen Machtträger, die sich aber dort auch öffentlich noch zu zeigen wagten, und heruntergepfiffen, aber nicht heruntergerissen wurden."
Stefan Heym: "... denn Macht korrumpiert ... und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut."
Stefan Heym. Moderator Henning Schaller hat ihn als "Nestor unserer Bewegung" angekündigt.
Stefan Heym: "Der Sozialismus, nicht der stalinsche, der richtige, den wir endlich erbauen wollen, zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands ..."
Stefan Heym, Schriftsteller und einer der großen unbequemen Intellektuellen in Deutschland.
Stefan Heym: "... dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes."
Kapitel 4. "Mit hellwacher Vernunft"
"Wir wollten gerne, dass die Lebensentwürfe, die Vorstellungen davon, wie eine Gesellschaft gebaut werden kann, in der zum Beispiel nicht das Geld die Ideologie ersetzt, und vom Geld her alles gedacht wird, aber gleichzeitig die Marktgesetze auch gelten müssen, aber nicht herrschen dürfen."
Wenige Wochen darauf ist der Theologe Schorlemmer einer der 31 Unterzeichner des Aufrufs "Für unser Land". Er und andere plädieren darin für den Erhalt einer reformierten sozialistischen DDR. Stefan Heym unterschreibt. Initiatorin des Aufrufs ist die Schriftstellerin Christa Wolf. Auch sie lässt sich am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz nicht das Wort nehmen.
Christa Wolf: "Ja, die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch hinaus, in das sie eingewickelt war. Und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist: Traum. Also träumen wir. Mit hellwacher Vernunft. Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg ..."
Friedrich Schorlemmer: "... also der Begriff demokratischer Sozialismus war ja seit Prag 68 in den Köpfen der Oppositionellen. Fast aller. Meiner auch. Dass es möglich sein müsste, die freie Entfaltung des Einzelnen und die freie Assoziation, wie sie Marx auch im kommunistischen Manifest beschrieben hat, dass die verbindbar ist mit der Idee von sozialer Gerechtigkeit. Nicht Gleichmacherei!"
Für Friedrich Schorlemmer ist der 4. November der Höhepunkt des Selbstbestimmungswillens der DDR-Bürger. Am 9. November ist dieser für ihn fast am Ende. Trotz aller Freude über den Mauerfall.
Friedrich Schorlemmer: "Die, die also vom Geist des 4. November noch immer bestimmt waren, zu denen ich mich zähle, war dies eine Form von Selbstenteignung, die dann auch passierte. Vieler DDR-Bürger, die jetzt auf die Hilfe des Westens mehr hofften, als Kraft darauf setzten, unsere Dinge jetzt selber zu lösen. Dass dabei auch das ökonomische Desaster der DDR auch eine Rolle spielte, konnten wir seinerzeit noch nicht wissen, aber wir spürten jedenfalls, dass das Interesse an den Oppositionsbewegungen, die sich gerade auch als Parteien anfingen zu formierten, sehr abnahm. Und insofern finde ich, dass der Mauerfall oder der Mauerdurchbruch da kam ist einerseits ganz wunderbar. Und gleichzeitig ist es auch ein Abschnitt. Von uns selbst. Wir schnitten uns von uns selbst ab."
Offene Fenster und andere Winde
Stefan Heym: "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen ..."
Lothar Bisky: "Dann musste man den Leuten sagen: Es gibt zwei Wege. Man kann jetzt sagen: D-Mark sofort, das heißt, Eure Betriebe gehen pleite, und Eure Wohnungen sind dann auch in anderen Zusammenhängen neu zu sortieren, und wie das mit der Arbeitslosigkeit ist, weiß keiner, wenn man rasch die D-Mark will. Es kam mir immer wieder entgegen in verschiedenen Veranstaltungen: Das können die mit uns doch nicht machen! Das können die mit uns doch nicht machen! Ja Pustekuchen. Sie ham's gemacht. Erst verschwanden die unproduktiven Betriebe, dann gab's viele andere Geschichten, und ich glaube wirklich, dass Schorlemmer recht hat. Der Höhepunkt der Selbstbestimmung war der 4.11. Danach gab es viele Bestimmungen von außen."
Stimme der DDR: "Erst später auf dem Nachhauseweg fällt mir auf, … "
konstatiert ein Journalist des Senders "Stimme der DDR" in seinem Tagesbericht,
"dass nie Pfiffe zu hören waren, wenn das Wort Sozialismus fiel."
Berlin. Alexanderplatz. 4. November 1989.
Stefan Heym: "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen."
Roland Brunner: "Es gab in der DDR zunehmend im Sommer eigentlich die Forderung, dass man sich doch endlich der Glasnost und der Perestroika öffnen sollte, und der Spruch des Kulturministers Hager war dann der: Also wenn der Nachbar seine Wohnung tapeziert, müssen wir das noch lange nicht tun. So, und als wir dann losmarschiert sind, haben sich plötzlich aus der vorderen Gruppe Leute gelöst, in Höhe des Palastes der Republik, mit nem Eimer Leim und nen paar Tapeten, und haben dann angefangen, die Tür der Volkskammer zu tapezieren, es war einfach nur schön."
Peter Pragal: "Das war von einer Gelöstheit, ..."
Peter Pragal, 1989 Stern-Korrespondent in der DDR.
Peter Pragal: "... die mir fast schon ein bisschen unheimlich vorkam, denn noch existierte ja der Staat mit all seinen Mitteln. Und trotzdem beherrschte plötzlich das Volk die Straße, oder in diesem Fall eben die Empore des Palastes der Republik. Und machte sich also über diese Altvorderen lustig. Das war schon sehr witzig."
Henning Schaller: "... und es waren also so spontane Aktionen, dass zum Beispiel junge Schauspieler in der Blumenrabatte vom Palast der Republik gestanden haben und das ZK nachgespielt haben ..."
Die zertrampelte Blumenrabatte bleibt die einzige nennenswerte Beschädigung an diesem 4. November 1989.
Kapitel 3. Von Mitdenkern und Hierbleibern
Marion van de Kamp: "Hier ... findet keine Manifestation statt ..., sondern eine sozialistische Protestdemonstration!"
Schätzungen schwanken zwischen 500.000 und eine Million Demonstranten. Es ist die größte Demonstration, die je auf deutschem Boden stattgefunden hat. Wofür?
Ulrich Mühe: "Wir demonstrieren hier für die Inhalte folgender Verfassungsartikel. Artikel 27 der Verfassung der DDR: Jeder Bürger der DDR hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern."
Der Schauspieler Ulrich Mühe zitiert die DDR-Verfassung – und seine Kollegin Johanna Schall antwortet mit dem DDR-Strafgesetzbuch.
Johanna Schall: "Wer eine Zusammenrottung organisiert oder anführt, in Klammern Rädelsführer, wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu acht Jahren bestraft."
Aufmerksam hört die Masse den Rednern auf der improvisierten Bühne zu. Von der Ladefläche eines Barkas-Kleinlasters kommen befreiende Worte. Gefühle der Entlastung und des Selbstvertrauens artikulieren sich.
Lothar Bisky: "Damals wusste keiner, wohin es geht. Damals hat vielleicht auch keiner so recht geglaubt, wird es aufgehn die Losung 'Keine Gewalt'. Und zuvor gab es den Platz des himmlischen Friedens. Und auch das war ja noch im Gedächtnis."
Auf dem Alexanderplatz spricht der Bürger. Ein paar 100 Meter weiter, an der Mauer, werden an diesem Tag die Truppen und Ordnungskräfte massiv verstärkt.
Christoph Schambach: "Ich glaube, an dem Tag wollte überhaupt keener abhauen. Weil det war so ne solidarische Stimmung unter den Leuten, und alle waren sich wenigstens an dem einen Tag mal einig, hey, wenn wir irgend wat ändern wollen denn schaffen wir das nur gemeinsam, und det war det Grunderlebnis in meinem Leben. Also det is nochn schönerer Tag gewesen als der Mauerfall selbst, dieser vierte November war eigentlich der echte Höhepunkt, weil man wusste, die Leute haben ausgedient!"
Lothar Bisky: "Nach so viel kritischer Kreativität war die Autorität der SED implodiert. Sie implodierte, am 4.11. Das ist sein Verdienst, glaub ich. Das Politbüro hatte keine Autorität mehr, man hat es hinweggelacht oder mit intelligenten Sprüchen kritisiert."
Henning Schaller: "Es spricht Günter Schabowski."
Christoph Schambach: "Schabowski wollte noch großartig erzählen, wie sie sich dem Volk annähern wollen, der ist nur ausgepfiffen worden!"
Günter Schabowski: "Liebe Berlinerinnen und Berliner ..."
Christoph Schambach: "Der ist fast heulend vor Scham von der Tribüne runterjeklettert, weil er wirklich nicht mehr wusste, wie er sich verhalten sollte. Es war so sonnenklar an diesem Tag: Ey Leute, ihr habt uns nichts mehr zu sagen."
Günter Schabowski: "... billigen wir einander die Kultur des Dialogs zu!"
Friedrich Schorlemmer: "Es war ein Akt friedlicher Selbstbefreiung mit einer Delegitimation der bisherigen Machtträger, die sich aber dort auch öffentlich noch zu zeigen wagten, und heruntergepfiffen, aber nicht heruntergerissen wurden."
Stefan Heym: "... denn Macht korrumpiert ... und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut."
Stefan Heym. Moderator Henning Schaller hat ihn als "Nestor unserer Bewegung" angekündigt.
Stefan Heym: "Der Sozialismus, nicht der stalinsche, der richtige, den wir endlich erbauen wollen, zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands ..."
Stefan Heym, Schriftsteller und einer der großen unbequemen Intellektuellen in Deutschland.
Stefan Heym: "... dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes."
Kapitel 4. "Mit hellwacher Vernunft"
"Wir wollten gerne, dass die Lebensentwürfe, die Vorstellungen davon, wie eine Gesellschaft gebaut werden kann, in der zum Beispiel nicht das Geld die Ideologie ersetzt, und vom Geld her alles gedacht wird, aber gleichzeitig die Marktgesetze auch gelten müssen, aber nicht herrschen dürfen."
Wenige Wochen darauf ist der Theologe Schorlemmer einer der 31 Unterzeichner des Aufrufs "Für unser Land". Er und andere plädieren darin für den Erhalt einer reformierten sozialistischen DDR. Stefan Heym unterschreibt. Initiatorin des Aufrufs ist die Schriftstellerin Christa Wolf. Auch sie lässt sich am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz nicht das Wort nehmen.
Christa Wolf: "Ja, die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch hinaus, in das sie eingewickelt war. Und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist: Traum. Also träumen wir. Mit hellwacher Vernunft. Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg ..."
Friedrich Schorlemmer: "... also der Begriff demokratischer Sozialismus war ja seit Prag 68 in den Köpfen der Oppositionellen. Fast aller. Meiner auch. Dass es möglich sein müsste, die freie Entfaltung des Einzelnen und die freie Assoziation, wie sie Marx auch im kommunistischen Manifest beschrieben hat, dass die verbindbar ist mit der Idee von sozialer Gerechtigkeit. Nicht Gleichmacherei!"
Für Friedrich Schorlemmer ist der 4. November der Höhepunkt des Selbstbestimmungswillens der DDR-Bürger. Am 9. November ist dieser für ihn fast am Ende. Trotz aller Freude über den Mauerfall.
Friedrich Schorlemmer: "Die, die also vom Geist des 4. November noch immer bestimmt waren, zu denen ich mich zähle, war dies eine Form von Selbstenteignung, die dann auch passierte. Vieler DDR-Bürger, die jetzt auf die Hilfe des Westens mehr hofften, als Kraft darauf setzten, unsere Dinge jetzt selber zu lösen. Dass dabei auch das ökonomische Desaster der DDR auch eine Rolle spielte, konnten wir seinerzeit noch nicht wissen, aber wir spürten jedenfalls, dass das Interesse an den Oppositionsbewegungen, die sich gerade auch als Parteien anfingen zu formierten, sehr abnahm. Und insofern finde ich, dass der Mauerfall oder der Mauerdurchbruch da kam ist einerseits ganz wunderbar. Und gleichzeitig ist es auch ein Abschnitt. Von uns selbst. Wir schnitten uns von uns selbst ab."
Offene Fenster und andere Winde
Stefan Heym: "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen ..."
Lothar Bisky: "Dann musste man den Leuten sagen: Es gibt zwei Wege. Man kann jetzt sagen: D-Mark sofort, das heißt, Eure Betriebe gehen pleite, und Eure Wohnungen sind dann auch in anderen Zusammenhängen neu zu sortieren, und wie das mit der Arbeitslosigkeit ist, weiß keiner, wenn man rasch die D-Mark will. Es kam mir immer wieder entgegen in verschiedenen Veranstaltungen: Das können die mit uns doch nicht machen! Das können die mit uns doch nicht machen! Ja Pustekuchen. Sie ham's gemacht. Erst verschwanden die unproduktiven Betriebe, dann gab's viele andere Geschichten, und ich glaube wirklich, dass Schorlemmer recht hat. Der Höhepunkt der Selbstbestimmung war der 4.11. Danach gab es viele Bestimmungen von außen."
Stimme der DDR: "Erst später auf dem Nachhauseweg fällt mir auf, … "
konstatiert ein Journalist des Senders "Stimme der DDR" in seinem Tagesbericht,
"dass nie Pfiffe zu hören waren, wenn das Wort Sozialismus fiel."
Berlin. Alexanderplatz. 4. November 1989.
Stefan Heym: "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen."