"Wir bleiben hier!"
Im Sommer 1989 kehrten tausende DDR-Bürger ihrem Staat den Rücken, sie wollen in den Westen. Auf den Demonstrationen im Herbst wird Reisefreiheit gefordert: "Wir wollen raus!". Immer öfter ist aber auch der Ruf zu hören: "Wir bleiben hier!". Wie entstand dieser Ruf und was hat er bewirkt?
"Wir bleiben hier"
Rias Reporter: "Über Nacht sind keine neuen Nachrichten aus Leipzig gekommen, wo gestern Abend die bisher größte Demonstration für einen politischen Kurswechsel in der DDR mehr als 10.000 Menschen auf die Beine gebracht hatte. "Wir bleiben hier!" - lautete einer ihrer Sprechchöre. "Gorbi, Gorbi!" ein anderer, der daran erinnerte, dass der sowjetische Parteichef am Freitag zum 40jährigen Jubiläum der DDR nach Berlin kommt." (23")
Sommer 1989. Tausende DDR-Bürger kehren ihrem Staat den Rücken zu, sie wollen in den Westen. Als im September 1989 die Demonstrationen in Leipzig und dann auch in anderen Städten der DDR beginnen, ist Reisefreiheit eine der Forderungen: "Wir wollen raus!". Immer öfter ist im Chor der Demonstranten aber auch ein anderer Ruf zu vernehmen: "Wir bleiben hier!". Der Länderreport geht auf Spurensuche: Wann wurde dieser Ruf das erste Mal formuliert und von wem? Was war mit diesem Slogan intendiert? Wie wirkmächtig war er? Georg Gruber ging den vielen Fragezeichen nach.
Demonstrations-Rufe, 7.10.1989: "Wir bleiben hier! Wir bleiben hier!"
Von Ausreisern und Hierbleibern
Die Recherche in der wissenschaftlichen Literatur zum Herbst 1989 und in den Presse- und Rundfunkarchiven ergibt, dass in Leipzig der Ursprung des Rufes "Wir bleiben hier!" zu finden sein muss.
Am 4. September 1989 berichtet der ARD-Hörfunkreporter Wolfgang Hartmann von dort : "In der Nikolaikirche waren mehr als 1.000 zusammen gekommen, aber draußen auf dem Kirchplatz demonstrierten nur halb so viele für ihre Ausreise und gegen das Regime. Uniformierte Polizei hatte die Zugänge abgeriegelt und viele Stasitrupps in zivil waren Teil der Menge. Aber eingeschüchtert waren die Ausreiser nicht und sie sagten lautstark, was sie wollten".
Laute Rufe im Chor: "Wir wollen raus! Wir wollen raus! Wir wollen raus! Wir wollen raus!"
Es ist das erste Friedensgebet nach der Sommerpause. Die Situation ist angespannt. Im August haben tausende DDR-Bürger ihr Land verlassen, viele hoffen, von Ungarn aus in den Westen zu gelangen. Und es ist Messe in Leipzig, während dieser Zeit können sich westdeutsche Journalisten frei in der Stadt bewegen. Die Pressevertreter stellen sich vor der Nikolaikirche auf.
ARD-Reporter, Wolfgang Hauptmann, 4.9.89: "Transparente wurden entrollt, beklatscht und so lange in der Luft geschwenkt, bis die Greifer der Staatssicherheit die Losungen in ihre Gewalt gebracht hatten. Sie hießen 'Reisefreiheit statt Massenflucht', 'Für ein offenes Land mit freien Menschen' und 'Demokratie'."
Gegen Ende des Berichts kommt der erste Hinweis auf den Ruf:
ARD-Reporter, Hauptmann, 4.9.89: "Ein paar Jugendliche riefen als Gegenprotest: Wir bleiben hier! Sie wurden ausgepfiffen, doch niemand schlug zu, und Augenzeugen berichteten nur von einer Festnahme durch die Behörden."
Unter jenen, die an diesem 4. September die Stimme erhoben, war auch der Schriftsteller Martin Jankowski. Er gehörte zu den Oppositionellen in Leipzig und war mit Publikationsverbot belegt. Bei den Friedensgebeten engagierte er sich schon länger. Bereits in den Monaten vorher, so erzählt er, kamen Ausreisewillige dorthin.
Jankowski, Interview 2014: "Und als dann die Ausreisekandidaten sich nach dem Friedensgebet wieder um die Nikolaikirche formierten und gewissermaßen das einzige öffentlich sichtbare Thema wieder die Ausreise war, da platzte uns, den Aktivisten um die Nikolaikirche wirklich der Kragen, und dann fingen wir an, erst vereinzelt und dann im Chor, sehr aufgebracht zurück zu schreien: "Wir bleiben hier!" Und das war wirklich ein Appell an die Ausreisekandidaten und der meinte durchaus nicht, wir bleiben hier und bewahren den Sozialismus und sind große Fans der DDR, sondern ganz im Gegenteil. Wir haben gesagt, es sind schon so viele Leute abgehauen, aber was wird aus diesem Land, was wird aus der DDR, und wir wollten die ja ändern, wir wollten keine Revolution machen, wir wollten nicht mal die Mauer niederreißen, geschweige denn die Wiedervereinigung, wir wollten einfach die Gesellschaft irgendwie verändern und verbessern."
Wir bleiben und ihr geht
Der Schriftsteller Christoph Hein war im September 1989 mehrfach in Leipzig auf den Montagsdemonstrationen - und kann sich an den Ruf "Wir bleiben hier" noch gut erinnern.
Hein, Interview 2014: "Das fand ich sehr komisch, weil es war die Zeit der Ausreiseanträge, die den Staat nervten und auf einmal kam nun eine ganz andere Bewegung, die wahrscheinlich noch bedrohlicher klang, die sagten: Wir haben mit diesem Staat, mit dieser Regierung nichts am Hut, aber wir gehen nicht, wir bleiben hier, wir fallen euch auf die Nerven, wir machen Widerstand. Das fand ich insofern einen äußerst witzigen Spruch, zumal er keinen Straftatbestand darstellte, wenn jemand erklärte, dass er in dem Staat bleibt, aber die dahinter stehende Bedrohung war natürlich klar."
Der Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer hält "Wir bleiben hier" deswegen für den revolutionären Ruf des Herbstes 89.
Schorlemmer, Interview 2014: "Also ihr da oben mit eurer nicht legitimierten, angemaßten Macht und eurem Wahrheitsanspruch, euch gehört das Land nicht. Und auf uns könnt ihr euch verlassen, wir bleiben hier, aber wir dulden nicht weiter, dass ihr da oben bleibt und meint, uns zu repräsentieren."
Von Leipzig aus verbreitet sich der Ruf in der DDR. Die westdeutschen Medien greifen ihn auf und verbreiten den Ruf in den ostdeutschen Wohnzimmern. Und : Die Oppositionellen sind gut vernetzt. Viele der Bürger, die in der Messestadt demonstrieren, kommen von außerhalb. Bernd Lindner vom Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig:
Lindner, Interview 2014
"Selbst die Transportpolizei, die ja dann sah, was aus den Zügen ausstieg, anreiste und abreiste, ging ja davon aus, dass mindestens 10, 15 Prozent der Demonstranten, die auf dem Ring unterwegs waren, nicht Leipziger sind. Es waren dann am Anfang Mitte Oktober entsprechend mehr, und dann kamen halt die Leute aus Plauen zum Beispiel nach Leipzig, und die haben halt nicht am Montag ihre ständige Demo gehabt, sondern die hatten ihre ständige Demo am Sonnabend und andere Städte wie Chemnitz hatten sie am Donnerstag, es hatte jede Stadt sozusagen seine eigene Tradition. Und wenn ich am Montag in Leipzig bin und höre: "Wir bleiben hier!" und fahr nach Hause und am Sonnabend ist meine Demo, dann rufe ich natürlich das, was ich von da mitgebracht habe."
"Selbst die Transportpolizei, die ja dann sah, was aus den Zügen ausstieg, anreiste und abreiste, ging ja davon aus, dass mindestens 10, 15 Prozent der Demonstranten, die auf dem Ring unterwegs waren, nicht Leipziger sind. Es waren dann am Anfang Mitte Oktober entsprechend mehr, und dann kamen halt die Leute aus Plauen zum Beispiel nach Leipzig, und die haben halt nicht am Montag ihre ständige Demo gehabt, sondern die hatten ihre ständige Demo am Sonnabend und andere Städte wie Chemnitz hatten sie am Donnerstag, es hatte jede Stadt sozusagen seine eigene Tradition. Und wenn ich am Montag in Leipzig bin und höre: "Wir bleiben hier!" und fahr nach Hause und am Sonnabend ist meine Demo, dann rufe ich natürlich das, was ich von da mitgebracht habe."
Auch am 40. Jahrestag der Gründung der DDR, am 7. Oktober 1989, ist der Ruf zu hören:
7. Oktober, Ostberlin, aus ARD-Bericht von Hartwig Heber: "Wir bleiben hier! Wir bleiben hier!"
Es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten.
Bericht vom 7.10.1989: (Am Abend des 40. DDR-Jahrestages kommt es in Ost- Berlin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten, Ausschnitt aus Mauersplitter)
Horst Hano, ZDF-Reporter: "Berlin-Alexanderplatz, heute Nachmittag um fünf. Etwa 150, vorwiegend junge Leute hatten sich versammelt am Rande des großen Volksfestes in Berlin-Mitte. 'Neues Forum, Neues Forum' riefen sie und immer wieder 'Wir bleiben hier!'. Und: 'Freiheit für die Inhaftierten!' Uniformierte Polizei zeigte sich nicht. Die Staatssicherheitsbeamten in Zivil waren zahlreich erschienen, griffen aber auf dem Platz nicht ein."
Reporter am Telefon: "Doch als die Menge nach etwa drei Stunden in Richtung Norden, in den Bezirk Prenzlauer Berg, abzog, drängten sie den Zug schließlich in der Schönhauser Allee in einigen Nebenstraßen zusammen und griffen brutal zu."
Sprechchöre: "Gorbi, hilf uns! Gorbi, hilf uns!"
Reporter: "Wasserwerfer und Schlagstöcke wurden benutzt, während die Demonstranten nochmals 'Freiheit' riefen und den sowjetischen Parteichef Gorbatschow um Hilfe baten."
Horst Hano, ZDF-Reporter: "Berlin-Alexanderplatz, heute Nachmittag um fünf. Etwa 150, vorwiegend junge Leute hatten sich versammelt am Rande des großen Volksfestes in Berlin-Mitte. 'Neues Forum, Neues Forum' riefen sie und immer wieder 'Wir bleiben hier!'. Und: 'Freiheit für die Inhaftierten!' Uniformierte Polizei zeigte sich nicht. Die Staatssicherheitsbeamten in Zivil waren zahlreich erschienen, griffen aber auf dem Platz nicht ein."
Reporter am Telefon: "Doch als die Menge nach etwa drei Stunden in Richtung Norden, in den Bezirk Prenzlauer Berg, abzog, drängten sie den Zug schließlich in der Schönhauser Allee in einigen Nebenstraßen zusammen und griffen brutal zu."
Sprechchöre: "Gorbi, hilf uns! Gorbi, hilf uns!"
Reporter: "Wasserwerfer und Schlagstöcke wurden benutzt, während die Demonstranten nochmals 'Freiheit' riefen und den sowjetischen Parteichef Gorbatschow um Hilfe baten."
Der Schriftsteller Stefan Hermlin kritisiert die Gewalt gegen friedliche Demonstranten, 11.10.89: "Sie rufen zu Tausenden das Wort: "Wir bleiben hier!" - und das ist für mich eine Erklärung für die DDR und ich halte es für schlimm, wenn solche Menschen niedergeknüppelt werden."
Schlagworte gegen Schlagknüppel
In den ersten Wochen des Herbstes 1989 sind auf den Demonstrationen nur selten Transparente zu sehen. Die Träger von Transparenten könnten fotografiert und so leicht identifiziert und verhaftet werden. Das gemeinsame Rufen von Losungen ist ungefährlicher. Aber noch ist unklar, wie das Regime auf die anhaltenden Demonstrationen reagieren wird. Gewalt könnte eine Option sein.
Am 9. Oktober ziehen 70.000 Demonstranten durch die Leipziger Innenstadt. Die Staatsmacht kapituliert vor der Menge an Menschen, versucht nicht, wie ursprünglich geplant, den Demonstrationszug zu verhindern. Der Wendepunkt der friedlichen Revolution. Der Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer:
Schorlemmer, Interview 2014: "Nach dem 9. Oktober war das Signal: Die schießen nicht. Wenn wir auf die Straße gehen, riskieren wir nicht unser Leben, sondern wir fordern es ein, dass wir unser Leben gestalten, aber verlieren es nicht mehr, wir verlieren es weder an diese Gerontokraten im Politbüro, noch verlieren wir unser Leben im physischen Sinne. Insofern war Leipzig das große wirksame Signal in die Republik: Geht auf die Straße, sie werden nicht schießen. Und der Weg zur Demokratisierung begann mit dem Satz: "Wir bleiben hier!" und "Wir sind das Volk!" und wir wollen die Repräsentanten des Volkes, auch die wirklich vom Volk gewählten Repräsentanten werden."
In den Wochen nach dem 9. Oktober verändern sich die Demonstrationen, Transparente werden gemalt, auch die Rufe ändern sich, "Wir bleiben hier" ist keine der zentralen Losungen mehr.
Bernd Lindner, Interview 2014: "Später ging das dann los: "SED - das tut weh", "Weg mit den Bonzen" usw. Die wurden dann auch namentlich angesprochen und irgendwann war dann auch ganz schnell der Ruf da: "Die Mauer muss weg!". Das ging Schlag auf Schlag und man konnte gar nicht so schnell denken, wie die Dinge dann ins Kippen kamen und von daher waren auch die Losungen ganz schnell veraltet."
Am 4. November versammeln sich Hundertausende auf dem Alexanderplatz in Ostberlin zur größten Demonstration dieses Herbstes:
Demonstration 4. November 1989: "Wir sind das Volk!"
Christa Wolf: "Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg!"
Die Schriftstellerin Christa Wolf.
"Und dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen, der tausendfache Ruf: Wir sind das Volk!"
Für Christoph Hein, der auch auf dem Alexanderplatz sprach, ist sie unter den Intellektuellen eine der zentralen Figuren jener Zeit:
Christoph Hein, Interview 2014: "Sie hat durch ihre Literatur, durch die Art und Weise, wie sie auftrat und sprach sich in Ost und West einen Namen gemacht. Irgendwie war sie eine Persona grata, von der man auch wissen wollte, wie es weitergehen könnte, und deren Rat man suchte, das war schon erstaunlich."
"Die jetzt noch weggehen, mindern unsere Hoffnung"
Christa Wolf glaubt in diesen Wochen daran, dass die DDR sich ändern und weiter bestehen könnte. Im DDR-Fernsehen appelliert sie am 8. November an die Menschen in Ostdeutschland:
Christa Wolf, 8.11.1989: "Wir alle sind tief beunruhigt. Wir sehen die Tausende, die täglich unser Land verlassen. Wir wissen, dass eine verfehlte Politik bis in die letzten Tage hinein ihr Misstrauen in die Erneuerung dieses Gemeinwesens bestärkt hat. Wir sind uns der Ohnmacht der Worte gegenüber Massenbewegungen bewusst, aber wir haben kein anderes Mittel als unsere Worte. Die jetzt noch weggehen, mindern unsere Hoffnung. Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns! (...) Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, dass er wieder im Keim erstickt wird. Wir brauchen Sie. Fassen Sie zu sich und zu uns, die wir hier bleiben wollen, Vertrauen."
Am 9. November fällt die Mauer. Eine rasche Wiedervereinigung kann sich kaum jemand vorstellen. Die Existenz zweier deutscher Staaten scheint noch möglich.
Bürgerrechtler, Intellektuelle und Schriftsteller diskutieren, wie die DDR in Zukunft aussehen sollte. Dick Boer, ein niederländischer Pfarrer, der schon länger in der DDR lebt, schlägt eine Art Manifest vor, inspiriert von einer Kampagne Ende der 70-er-Jahre "Stoppt die Neutronenbombe." Drei Entwürfe, von Volker Braun, Schriftsteller, Dieter Klein, Professor für Politische Ökonomie an der Humboldt-Universität und Günter Krusche, Generalsuperintendent der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, werden schließlich zu einem Aufruf zusammengefasst. Maßgeblich formuliert hat ihn Christa Wolf: "Für unser Land".
Am 28. November präsentiert Bundeskanzler Helmut Kohl im Bonner Bundestag ein Zehn-Punkte-Programm, das auch konföderative Strukturen beinhaltet auf dem Weg zur Schaffung eines Bundesstaates.
Am gleichen Tag stellt der Schriftsteller Stefan Heym in Ostberlin den Aufruf "Für unser Land" am 28.11.1989 auf einer Pressekonferenz vor:
"Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen (...) in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des Einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. Oder wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird. Laßt uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance (...) eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln."
"Stell dir vor, keiner läuft weg"
Lindner, Interview 2014: "Wenn Sie sich angucken, wer das unterschrieben hat, sind es namhafte Künstler, aber sie finden auch sehr viele Gründer von "Demokratie Jetzt", von dem "Neuen Forum", Jens Reich, Ulrike Poppe, alle die haben dort auch unterschrieben, weil ihre Intention war eigentlich: eine verbesserte DDR. Eine DDR, in der man gerne lebt, stell dir vor, keiner läuft weg."
Der Schriftsteller Christoph Hein hat den Text nicht unterschrieben.
Hein, Interview 2014: "Ich war ein heftiger Gegner von diesem Aufruf, ich fand das nach dem 9. November ganz ganz unsinnig und falsch, hatte versucht, das noch zu verhindern, aber das ging nicht. Das waren so Dinge, die alle bis zum 8. November sinnvoll waren, was Veränderung anging. Mit dem 9. November waren alle Messen gesungen und es war klar, dass das Land nicht länger bleiben wird und dass es ganz rasch zu einer Wiedervereinigung kommen wird, war auch klar, war mir klar, und insofern fand ich diesen Aufruf so etwas aus der Zeit."
Friedrich Schorlemmer gehört zu den Erstunterzeichnern.
Schorlemmer, Interview 2014: "Ich habe nicht gefragt, wer noch unterschreibt, ich habe nur gewusst, dass Menschen wie Christa Wolf dabei sind, ich habe seit 1963 deren Schriften gelesen und sie auch kennen gelernt. Und zunächst einmal war ein Entwurf da, der das beschrieb, dass es um eine Eigenständigkeit ging und nicht um eine Selbstaufgabe. Und das wollte ich auch. Und dass das zu einer Polarisierung führen würde, habe ich damals nicht geahnt."
Mehr als eine Million Bürger unterschreiben den Aufruf.
Schorlemmer, Interview 2014: "Und das Schlimme war ja eigentlich, da haben auch Leute geweint, was ist denn nu los, als Egon Krenz die Tapsigkeit besaß, das zu unterschreiben. Da haben die Leute gesagt: Was ist denn nu los, Schorlemmer und Krenz - ich hab da wirklich auch verzweifelte Reaktionen bekommen, Briefe und Anrufe und Besuche und so."
Auch inhaltlich gibt es Kritik, auch von Leuten, die zu den ersten gehört hatten, die im September riefen "Wir bleiben hier!"
Martin Jankowski, Interview 2014: "Ich hab den nicht unterzeichnet. Das war nicht meins. Es konnte nicht mehr darum gehen, den Sozialismus zu verbessern, weil ich glaubte, den kann man nicht verbessern, man muss was anderes machen."
Demonstrationsrufe: "Wir bleiben hier!"
Und eine Frage bleibt: Wer rief zuerst "Wir bleiben hier!"?
Es gibt verschiedene Versionen in der wissenschaftlichen Literatur, eine besagt, es sei ein Schüler der Dimitroff-Oberschule gewesen, eine andere, der Pfarrer der Nikolaikirche Christian Führer habe die Losung an jenem 4. September 1989 geprägt. Am Telefon befragt sagt er, er habe den Ruf an diesem Tag gehört, aber, nein, er sei nicht der Urheber. Im Archiv des MDR findet sich schließlich eine Veranstaltung vom Herbst 2009. Dort erklärt ein Mann aus dem Umfeld der Basisgruppen, Sebastian Hundt, er habe den Ruf als erster formuliert:
Sebastian Hundt, Interview 2009: "Also die Situation war angespannt und ich hab aus der Wut heraus, auch dass so viele Menschen das Land verlassen wollen und vor der Kirche standen und rufen: "Wir wollen raus!" hab ich einfach und ganz spontan: "Und wir bleiben hier!" gerufen."
War er wirklich der erste Rufer? Eindeutig belegen läßt es sich nicht.
Bernd Lindner, Interview 2014: "Es ist eigentlich gar nicht so wichtig, wer es namentlich war, entscheidend ist, dass es funktioniert hat, und dass es einer gerufen hat, wer auch immer es am Anfang war. Und wir werden auch nie rausfinden, wer zuerst "Wir sind das Volk!" gerufen hat. Aber in dem Moment, wo das raus kam aus einer Kehle, war es klar: Das ist es. Das ist das zentrale Wort oder die zentralen Worte für unser jetziges Befinden, und damit ist die Funktion des Erfinders sozusagen schon erledigt und kann in die geschichtlichen Annalen eingehen ob mit Namen oder ohne Namen ist eigentlich schon relativ beliebig."
Und Martin Jankowski schreibt nach dem Interview in einer Email in 2014: "Im übrigen glaube ich, dass wir vermutlich auch schon zu früheren Anlässen "Wir bleiben hier" zu den Ausreiseaktionisten gerufen haben (z.b. im März 1989), aber das war damals nicht massenrelevant und wurde noch kein allgemeiner Ruf der Straße wie dann am 4. September."